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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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Wahlvaterschaften inklusive: Hans-Christian Riechers' Biographie des unzeitgemäßen Literaturwissenschaftlers Peter Szondi
Ein Vortrag Theodor W. Adornos zum Klassizismus von Goethes Iphigenie an der Freien Universität Berlin sorgte im Sommer 1967 für Entrüstung bei einigen Studenten, die - wenige Wochen nach dem Tod Benno Ohnesorgs - mehr Praxis von der Kritischen Theorie forderten. Es erwarte sie jedoch weit weniger Klassizistisches, als sie vielleicht vermuteten, versuchte der Gastgeber Peter Szondi die Zuhörer einleitend zu beschwichtigen. Drei Jahre zuvor hatte er die Leitung des neugegründeten Instituts für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft angetreten. Den Forderungen der Studenten brachte er durchaus Verständnis entgegen. Ihr Projekt einer "Kritischen Universität" schrieb er sich gar selbst auf die Fahne. Spätestens der Iphigenie-Vortrag zeigte jedoch, dass ihn mit Adorno weit mehr verband als mit den Protestierenden, die ihre "Mao-Sprüche" auch nicht anders zitieren würden, "als es einst ihre Großväter mit den Sprüchen des Weimarer Dichterfürsten taten", wie seine Einleitungsworte anmahnten.
Peter Szondis Skepsis bezog sich nicht nur auf die Fetischisierung neuer Revolutionshelden, sondern auch auf den goetheschen Klassizismus, der den kulturellen Kanon der Bundesrepublik seit den frühen fünfziger Jahren ungebrochen bestimmte. Der durch einen scheinbar zeitlosen Geist- und Humanitätsbegriff erzeugten "Nebelaura" sprach Szondi in seinen Anfang der sechziger Jahre gehaltenen Vorlesungen zur Ästhetik der Goethezeit rückblickend "ein gerüttelt Maß Schuld" an der Politikferne in Deutschland zu, die "schließlich die Barbarei heraufführte".
Wie unzeitgemäß Peter Szondis literaturwissenschaftliche Arbeit damit angesichts der theoretischen Präferenzen des damaligen akademischen Betriebs war, zeigt nun Hans-Christian Riechers in einer neuen Biographie. Gerade weil Szondi selbst von der unmittelbaren Selbstaussage im Text und der Subjektgebundenheit aller Erkenntnis ausgeht, ist Riechers daran gelegen, Werk und Biographie, "Wissenschafts- und Persönlichkeitsgeschichte" miteinander zu verknüpfen. Dabei erzählt er die Lebensgeschichte Szondis als intellektuelle Emanzipationsgeschichte; wobei nicht nur eine Rolle spielt, von wem und was sich Szondi emanzipierte, sondern vor allem, wohin er sich auf der Suche nach einer Sprache für das an den europäischen Juden verübte Verbrechen orientierte.
Szondi, geboren 1929 in Budapest, stammte aus einer bildungsbürgerlichen jüdischen Familie. Als 1944 die Wehrmacht Ungarn besetzte und Hunderttausende Juden in die Vernichtungslager deportiert wurden, konnte sich seine Familie im sogenannten Kasztner-Zug in die Schweiz retten, wurde zuvor jedoch mehrere ungewisse Monate im Konzentrationslager Bergen-Belsen interniert. Wie sehr er dieses Überleben als Schmach empfunden und sein philologisches Ethos als Treue zu den "misshandelten Juden der Vergangenheit" verstanden hat, schrieb er im Mai 1965 an Hilde Domin - eine seiner spärlichen biographischen Selbstaussagen. Vom assimilierten Umfeld des Vaters Leopold Szondi, Psychiater und Begründer der Schicksalsanalyse mit ihrem humanistisch-klassizistischen Selbstverständnis, emanzipierte sich der Sohn früh. Doch auch von seinem Zürcher Doktorvater Emil Staiger, damals einer der bekanntesten Germanisten, der 1933 wie 1966 auf demselben antimodernistischen Standpunkt verharrte, entfernte er sich bald. Mit einem intellektuellen Vatermord, so Hans-Christian Riechers, habe Szondi die akademische Öffentlichkeit betreten, als seine Dissertationsschrift 1956 bei Suhrkamp publiziert wurde.
Mit den "Wahlvaterschaften" Lukács, Adorno und Benjamin - später auch Gershom Scholem - zeichnet Riechers eine alternative Genealogie nach und zieht große Linien durch das Werk Szondis. Schon dessen beide äußerst knappe Qualifikationsschriften entsprachen kaum akademischen Gepflogenheiten. Immer mehr wandte Szondi sich später dem Essay zu. Seine letzten Arbeiten über Celan, dessen Rezeption in der Bundesrepublik er maßgeblich befördert hat, blieben Fragment. Szondis für das literaturwissenschaftliche Grundstudium bis heute einschlägige Schrift "Über philologische Erkenntnis" entstand parallel zu seiner Beschäftigung mit Celan, den er früh und vehement gegen die unhaltbaren Plagiatsvorwürfe Claire Golls verteidigte. Dass die methodenkritische Schrift erst vor diesem Hintergrund ihren vollen Gehalt entfaltet, betont Riechers ebenso wie die zentrale Bedeutung Friedrich Schlegels für Szondi. Dessen an Schlegel orientiertes Plädoyer für das Unvollendete und die "Unverständlichkeit des Unverständlichen" diene einer literaturwissenschaftlichen Methodenbesinnung, die sich immer wieder neu den Texten stellen müsse.
Riechers' überzeugende Lesart, Szondis Werk als Engführung von Kritischer Theorie, Hermeneutik und Strukturalismus zu verstehen, verdeutlicht gerade vor dem Hintergrund der methodenpluralistisch zerfallenden Literaturwissenschaft der siebziger Jahre dessen Bedeutung für ein erkenntniskritisches Wissenschaftsverständnis weit über die Philologie hinaus. Einiges davon war insbesondere aus den Forschungen von Andreas Isenschmid, Christoph König und Thomas Sparr zu Szondi bereits bekannt. Anderes erfährt man zum Teil nur sehr komprimiert. Wiewohl sich dieser knappe Stil an das Vorbild des Porträtierten anlehnt, bleibt etwa die Wirkung Szondis, der so gegensätzliche wissenschaftliche Ansätze miteinander zu vermitteln suchte, relativ ungeklärt. Dabei mag auch die Perspektive der "Persönlichkeitsgeschichte" etwas im Wege stehen, die Riechers entgegen seiner eher schemenhaften Einführung dann auch meist umgeht und sich auf bemerkenswerte Weise mancher psychologisierenden Debatte um Szondi zu entziehen weiß.
Gerade im Unterschied zwischen einer Persönlichkeitsgeschichte, die auf die Dispositionen der "Wissenschaftlerpersönlichkeit" schaut, und einer biographischen Perspektive, die von der Dynamik zwischen historischer Erfahrung und begrifflicher Transformation ausgeht, ließe sich Szondis eigene dialektische Methode verdeutlichen. Das zeigt sich beispielsweise an den Auslassungen ehemaliger Zeitgenossen, Studenten und Doktoranden über Szondis Verschlossenheit und "Furcht einflößende Autorität", die weniger als Charakterurteil, sondern vielmehr als Ausdruck der Kluft zwischen Peter Szondi und der westdeutschen Nachkriegsgeneration interessant sind.
Dass er sich dem euphorischen Aufbruchskollektiv der sechziger Jahre nicht zugehörig fühlte, veranschaulicht Szondis doppelt verfasste Einleitung zum Iphigenie-Vortrag Adornos: In einer ursprünglichen Fassung warb er noch für Solidarität mit den Studenten und plädierte dafür, sich nicht Schlagworten hinzugeben, sondern sich in den Gegenstand zu versenken. Angesichts der Proteste verwarf er diese Version. Der Vergleich zwischen der Studenten- und ihrer Großelterngeneration, den "Mao-Sprüchen" und dem Humanitätspathos, ist eng verknüpft mit Szondis Wissenschaftsverständnis, das weniger mit Blick auf die Person als auf seine historische Erfahrung deutlich wird.
ANNETTE WOLF
Hans-Christian Riechers: "Peter Szondi". Eine intellektuelle Biographie.
Campus Verlag, Frankfurt am Main 2020. 281 S., br., 39,95 [Euro].
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