Kongo, Anfang der Siebzigerjahre. Der dreizehnjährige Moses, genannt "Petit Piment" (nachdem er zwei Mitschülern Chilipulver ins Essen gemischt hat), wächst im Waisenhaus auf. Sein großes Vorbild ist Papa Moupelo, der jeden Samstag vorbeikommt, um die Bibelstunde abzuhalten. Doch dann wird die Sozialistische Revolution ausgerufen, der christliche Glaube gilt auf einmal als Opium fürs Volk und aus Moses soll ein vorbildlicher Pionier der Bewegung werden. Der Schulleiter Dieudonné Ngoulmoumako ergreift die Gelegenheit, Posten mit Parteikadern zu besetzen, die merkwürdigerweise allesamt aus seiner Familie stammen und fortan die Schüler terrorisieren. Zusammen mit zwei Kameraden nimmt Moses Reißaus. Er flieht nach Pointe-Noire, findet Unterschlupf in einem Freudenhaus und schließt sich einer Gang von Straßenkindern an. Von nun an sieht er sich als kongolesischer Robin Hood, der von den Reichen nimmt, um den Armen zu geben …
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Jonathan Fischer ist ein großer Fan des kongolesischen Autor Alain Mabanckou, der unermüdlich daran arbeitete, die afrikanische Literatur zu "tropikalisieren". Üppig wuchernd geht es also in Mabanckous Erzählwelten zu, freut sich Fischer, der lauffreudig mit Mabanckou von Mythologie, Ahnenverehrung und Aberglauben über Folkloristisches bis zur ätzenden Kritik an den politischen Zuständen mäandert. In "Petit Piment" erzählt der Autor von den Waisenkindern seiner Heimatstadt Pointe Noire, die nach einem Militärputsch von den neuen Machthaber ins Visier genommen werden (bevor es im nächsten Wahlkampf die Kirche trifft und darauf dann die Bordelle). Vom gewitzten Petit Piment, der großherzigen Puffmutter Fiat 500 und Pater Papa Moupon lernt der vergnügte Rezensent, dass "im Reich der Verwüstung manchmal nur das Unkraut eine Chance hat".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.10.2019Dem Unkraut
eine Chance
Geborgenheit für junge Seelen:
Alain Mabanckous Roman „Petit Piment“
VON JONATHAN FISCHER
Schon der Name des Jungen fühlt sich an wie ein Auftrag, dem er niemals gerecht werden kann. Der Schüler eines Waisenhauses, der von den Respektlosen einfach Mose gerufen wird, heißt eigentlich „Tokumisa Nzambe po Mose yamoyindo abotami namboka ya Bakoko“, was aus dem Lingala übersetzt ungefähr so viel bedeutet wie: „Wir wollen Gott dafür danken, dass der schwarze Moses im Land seiner Vorfahren geboren wurde“.
Zu verdanken hat Mose alias Petit Piment seinen Bandwurmnamen einem katholischen Pater. Papa Moupon ist die einzige Vaterfigur im Leben der Kinder des Waisenhauses von Loango, einem Vorort der kongolesischen Hafenstadt Ponte Noire. Sein zweiwöchentlicher Besuch wird von allen sehnsüchtig erwartet: „Während der zwei Stunden vergaßen wir, wer wir waren und wo wir uns befanden. Wenn Papa Moupelo richtig in Fahrt kam und die Sprünge eines Frosches nachahmte, um uns den berühmten Pygmäentanz aus seinem Heimatland Zaire vorzuführen, drang unser Gelächter bis nach draußen vor das Waisenhaus“. Später sollten die Jungen tagelang dieses Erlebnis kommentieren, in ihrem Schlafsaal die Schrittfolgen nachahmen, „bis die sechs Männer von der Aufsicht in ihrer Eifersucht auf den Einfluss, den der Gottesdiener auf uns hatte, ihre Peitsche schwangen“.
So beginnt „Petit Piment“ von Alain Mabanckou. Der kongolesische Schriftsteller, Essayist und Dichter hat seinen neuen Roman den „Herumtreibern der Cote Sauvage“ gewidmet, die ihm während eines Aufenthalts in seiner Geburtsstadt Pointe Noire „einige Kapitel aus ihrem Leben erzählten“. So besagt es die Widmung zu Beginn des Buches. Mabanckou, der zur Zeit eine Professur an der Universität in Los Angeles inne hat, gehört spätestens seit seinem 2005 erschienenen Roman „Zerbrochenes Glas“ zu den großen zeitgenössischen Geschichtenerzählern Afrikas.
Ende der Achtzigerjahre war er für ein Jura-Studium nach Paris gekommen. Zehn Jahre lang arbeitete er dort als juristischer Berater für einen Wirtschaftskonzern, um nebenbei zu schreiben. Seine Themen lieferte ihm seine eigene Geschichte: Mit wütendem Witz und viel Folklore porträtierte er die Lebenswelten der schwarzen Communities von Paris wie auch des Kongo-Brazzaville seiner Jugend. Für sein Gesamtwerk – zu dem Romane wie „Black Bazar“ und „Stachelschweins Memoiren“ gehören – gewann Mabanckou den französischen Grand Prix de Littérature.
Als der Schriftsteller 2012 zum ersten Mal nach 23 Jahren in seine Heimatstadt zurückkehrte, schrieb er „Die Lichter von Pointe-Noire“, eine bittersüße Spurensuche nach der eigenen Familie. „Petit Piment“ nimmt das Thema Heimat noch einmal auf. Nur dass die Romanhelden nun junge Waisen wie Mose sind. Oft sind diese Kinder von ihren Familien, die damit überfordert waren, noch einen Mund zu stopfen, ins Waisenhaus abgeschoben worden – wo sie ein Leben voller Grausamkeiten, Gewalt und Willkür-Herrschaft erwartet. Ein Abbild der kongolesischen Überlebens-Hierarchie der 70er und 80er Jahre im Kleinen.
Wo aber können diese jungen Seelen Heimat oder gar Geborgenheit finden? Mabanckou bedient sich wie viele der Klassiker der afrikanischen Literatur der kindlichen Perspektive. Petit Piment erzählt uns seine Welt. Und erst sein unschuldiger Blick entlarvt die Verlogenheit der Erwachsenen, ihre Korruption, die sich auch im Alltag des vom Kinderhasser Dieudonné Ngoulmoumako regierten Waisenhauses manifestiert: Mütter leisten ihm ihren Schützlingen zuliebe sexuell Gefälligkeiten. Seine Aufseher hat er allesamt aus der eigenen Verwandtschaft rekrutiert. Das schillernde Personal reicht vom Prügel-Junkie bis zum Leichenschänder. Petit Piment und seine Kameraden aber haben lediglich zu folgen – und dürfen auf keinen Fall kritische Fragen stellen.
Auch dann nicht, als Papa Moupelo eines Tages nicht mehr kommt. Seine Lieder und Tänze – so der kleine Mose – hatten „zu einem für jeden erschwinglichen Preis Hoffnung auf ein besseres Leben“ gemacht. Nun aber gilt der alte Glaube nicht mehr. Der „wissenschaftliche Sozialismus“ wird ausgerufen. Eine neue, durch einen Militärputsch an die Macht gekommene Regierung erklärt Papa Moupelo wie alle Kirchenmänner zu „Handlangern des Imperialismus“. Und Direktor Dieudonné, der einer im Machtkampf unterlegenen Ethnie angehört, hält seine Stellung vor allem durch Speichelleckerei. Er lässt öffentliche Anschläge mit den Reden und Heldentaten des neuen sozialistischen Präsident anbringen – und alle Schüler bestrafen, die diese nicht fehlerfrei aufsagen können. Doch auch wenn die „Revolution über uns kam wie ein Regen, den selbst unsere ruhmreichsten Fetischeure nicht hatten kommen sehen“, dann entfaltet sie doch eine ganz unfreiwillige Komik. Der neue Präsident soll bereits als Kind ein Krokodil am Schwanz gepackt, mit einer Ohrfeige betäubt und lebendig bei seiner Großmutter abgeliefert haben, damit sie Fleisch für das ganze Dorf kocht? „Laut Dieudonné war der neue Präsident ein Pendant zu Jesus Christus“. Und: „Mit der Schaffung der Kongolesischen Arbeiterpartei, der Vereinigung der sozialistischen kongolesischen Jugend und der nationalen Pionierbewegung hatte er lediglich das befolgt, was ihm unsere Ahnen im Schlaf eingegeben hatten“. Eine Groteske, die allerdings für Kenner der politischen Realitäten der beiden Kongos kaum übertrieben wirkt.
Wen wundert es, dass die Schüler rasch vom Opportunismus ihrer Vorgesetzten lernen? Mose steigt zu „Petit Piment“ auf, der kleine Pfeffer, nachdem er in einer Racheaktion für seinen besten Freund den als Schrecken des Schlafsaals agierenden Zwillingsbrüdern Songi-Songi und Tala-Tala heimlich Pfeffer in ihr Trinkwasser gemischt hatte. Sie machen ihn darauf zu ihrem Kumpel und Handlanger. Doch als die drei gemeinsam aus dem Waisenhaus türmen, erwartet sie auf den Straßen von Pointe Noire kaum ein besseres Leben. Der Bürgermeister führt seinen Wahlkampf mit einer Kampagne gegen die „Stechmücken“. Gemeint sind die Straßenkinder. Er lässt sie vom Markt vertreiben, wo sie mit Diebstahl und Bettelei ein Auskommen hatten. Nun treiben sie sich an der Cote Sauvage herum, lassen sich von den Zwillingsbrüdern ihre Einkünfte abpressen und – zum Grauen von Petit Piment – auch mal einen Hund oder eine Katze den Kochtopf wandern. Er sieht die Welt immer noch durch staunende Kinderaugen: Warum misstrauen sich in seiner Bande die Lahmen und die Blinden, wenn sie sich doch gegenseitig helfen und gemeinsam stärker sein könnten?
Die Begegnung mit einer zairischen Prostituierten namens Fiat 500 beschert Petit Piments Leben eine Wende: Die großherzige Puffmutter nimmt ihn unter ihre Fittiche. Sie lässt den Straßenjungen Besorgungen für ihre Mädchen machen, und diese ziehen in als Gesprächspartner ins Vertrauen. Zum ersten mal fühlt sich Petit Piment daheim. Ausgerechnet bei den Bordell-Mädchen. Fiat 500 findet über ihre Beziehungen sogar einen Job als Hafenarbeiter für ihren Schützling. Doch das Happy-End bleibt aus. Petit Piment, der schon seine Eltern, Papa Moupelo und die von ihm geliebte Internats-Schwester Sabine verloren hat, wird auch dieser Familie beraubt. Vom einen Tag auf den anderen verschwinden Mama Fiat 500 und ihre Mädchen spurlos. Diesmal hatte es der Wahlkampf des Bürgermeisters auf die Prostituierten aus Zaire abgesehen – vom einstigen Bordell ist nur noch ein Trümmerfeld geblieben. Für Petit Piment ist das zuviel. Er verliert den Verstand. Beklagt sich über bösartige Zwerge und verlorene Adverbien und trudelt einem ebenso tragischen wie überraschenden Ende zu.
„Wir müssen unsere Vorstellung tropikalisieren“, hat Mabanckou, der als Schulkind noch Marcel Proust lesen musste, von der afrikanischen Literatur gefordert. Dafür hat er einen ganz eigenen, üppig wuchernden Erzählstil gefunden: Mal mäandert er in die afrikanische Mythologie, erzählt von Ahnenverehrung und Aberglauben – oder schildert ironisch die Rituale der Bordell-Kunden wie auch die Selbstbeweihräucherungen aller möglichen Autoritäten vom Psychiater bis zum traditionellen Heiler. Das kann urkomisch sein. Und trägt doch immer auch eine gewisse Wut und Trauer mit sich. Kann es sein, dass seine Landsleute bei allem Optimismus in die immer gleichen Korruptionsfallen tappen? In zahlreichen Anekdoten verflicht Mabanckou die Geschichte des Kongo mit der Biografie seiner Figuren. Mal geht es um die 5 000 kubanischen Soldaten, die Fidel Castro für die Revolution über den Kongo nach Angola schickte, mal um die irren Machtspiele von Zaires Diktator Mobutu.
Und dann sind da noch die post-kolonialen Reflexe, etwa wenn der Waisenhaus-Direktor Dieudonné einer Parteikommission, die die Misstände in seiner Anstalt untersucht, entgegnet, man solle „nicht alle Waisenhäuser verdächtigen Orte der Pädaphilie zu sein. Das gibt es nur in Europa. Nicht bei uns“. Dass die Geschichte dennoch ein menschliches Gesicht behält, das verdankt sich vor allem den Frauenfiguren: Sie sind es, die obwohl immer auch Opfer, Stärke und Mitgefühl zeigen. Sie wollen zumindest ihre Kinder retten.
Und stellen sich wie etwa Schwester Sabine schützend vor Petit Piment, verarzten die Wunden, die ihm die Peitschen der Aufseher zugefügt haben. Vor allem aber bringen sie einen lebensrettenden Pragmatismus ins Spiel: „Ich bin Unkraut“, erklärt Fiat 500 ihrem Schützling einmal, „aber ich bin auch das Glück einiger Männer in diesem Viertel, nicht mehr und nicht weniger“. Und Petit Piment weiß, dass allein das zum Leben reicht. Dass im Reich der Verwüstung manchmal nur das Unkraut eine Chance hat.
Alain Mabanckou: Petit Piment. Roman. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. Liebeskind Verlag, 2019. 239 Seiten, 20 Euro.
Der unschuldige Blick des
Kindes entlarvt die
Verlogenheit der Erwachsenen
Dass die Geschichte ein
menschliches Gesicht behält,
liegt an den Frauenfiguren
Spätestens seit seinem 2005 erschienenen Roman „Zerbrochenes Glas“ gehört Alain Mabanckou zu den großen zeitgenössischen Erzählern Afrikas.
Foto: imago images/Le Pictorium
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
eine Chance
Geborgenheit für junge Seelen:
Alain Mabanckous Roman „Petit Piment“
VON JONATHAN FISCHER
Schon der Name des Jungen fühlt sich an wie ein Auftrag, dem er niemals gerecht werden kann. Der Schüler eines Waisenhauses, der von den Respektlosen einfach Mose gerufen wird, heißt eigentlich „Tokumisa Nzambe po Mose yamoyindo abotami namboka ya Bakoko“, was aus dem Lingala übersetzt ungefähr so viel bedeutet wie: „Wir wollen Gott dafür danken, dass der schwarze Moses im Land seiner Vorfahren geboren wurde“.
Zu verdanken hat Mose alias Petit Piment seinen Bandwurmnamen einem katholischen Pater. Papa Moupon ist die einzige Vaterfigur im Leben der Kinder des Waisenhauses von Loango, einem Vorort der kongolesischen Hafenstadt Ponte Noire. Sein zweiwöchentlicher Besuch wird von allen sehnsüchtig erwartet: „Während der zwei Stunden vergaßen wir, wer wir waren und wo wir uns befanden. Wenn Papa Moupelo richtig in Fahrt kam und die Sprünge eines Frosches nachahmte, um uns den berühmten Pygmäentanz aus seinem Heimatland Zaire vorzuführen, drang unser Gelächter bis nach draußen vor das Waisenhaus“. Später sollten die Jungen tagelang dieses Erlebnis kommentieren, in ihrem Schlafsaal die Schrittfolgen nachahmen, „bis die sechs Männer von der Aufsicht in ihrer Eifersucht auf den Einfluss, den der Gottesdiener auf uns hatte, ihre Peitsche schwangen“.
So beginnt „Petit Piment“ von Alain Mabanckou. Der kongolesische Schriftsteller, Essayist und Dichter hat seinen neuen Roman den „Herumtreibern der Cote Sauvage“ gewidmet, die ihm während eines Aufenthalts in seiner Geburtsstadt Pointe Noire „einige Kapitel aus ihrem Leben erzählten“. So besagt es die Widmung zu Beginn des Buches. Mabanckou, der zur Zeit eine Professur an der Universität in Los Angeles inne hat, gehört spätestens seit seinem 2005 erschienenen Roman „Zerbrochenes Glas“ zu den großen zeitgenössischen Geschichtenerzählern Afrikas.
Ende der Achtzigerjahre war er für ein Jura-Studium nach Paris gekommen. Zehn Jahre lang arbeitete er dort als juristischer Berater für einen Wirtschaftskonzern, um nebenbei zu schreiben. Seine Themen lieferte ihm seine eigene Geschichte: Mit wütendem Witz und viel Folklore porträtierte er die Lebenswelten der schwarzen Communities von Paris wie auch des Kongo-Brazzaville seiner Jugend. Für sein Gesamtwerk – zu dem Romane wie „Black Bazar“ und „Stachelschweins Memoiren“ gehören – gewann Mabanckou den französischen Grand Prix de Littérature.
Als der Schriftsteller 2012 zum ersten Mal nach 23 Jahren in seine Heimatstadt zurückkehrte, schrieb er „Die Lichter von Pointe-Noire“, eine bittersüße Spurensuche nach der eigenen Familie. „Petit Piment“ nimmt das Thema Heimat noch einmal auf. Nur dass die Romanhelden nun junge Waisen wie Mose sind. Oft sind diese Kinder von ihren Familien, die damit überfordert waren, noch einen Mund zu stopfen, ins Waisenhaus abgeschoben worden – wo sie ein Leben voller Grausamkeiten, Gewalt und Willkür-Herrschaft erwartet. Ein Abbild der kongolesischen Überlebens-Hierarchie der 70er und 80er Jahre im Kleinen.
Wo aber können diese jungen Seelen Heimat oder gar Geborgenheit finden? Mabanckou bedient sich wie viele der Klassiker der afrikanischen Literatur der kindlichen Perspektive. Petit Piment erzählt uns seine Welt. Und erst sein unschuldiger Blick entlarvt die Verlogenheit der Erwachsenen, ihre Korruption, die sich auch im Alltag des vom Kinderhasser Dieudonné Ngoulmoumako regierten Waisenhauses manifestiert: Mütter leisten ihm ihren Schützlingen zuliebe sexuell Gefälligkeiten. Seine Aufseher hat er allesamt aus der eigenen Verwandtschaft rekrutiert. Das schillernde Personal reicht vom Prügel-Junkie bis zum Leichenschänder. Petit Piment und seine Kameraden aber haben lediglich zu folgen – und dürfen auf keinen Fall kritische Fragen stellen.
Auch dann nicht, als Papa Moupelo eines Tages nicht mehr kommt. Seine Lieder und Tänze – so der kleine Mose – hatten „zu einem für jeden erschwinglichen Preis Hoffnung auf ein besseres Leben“ gemacht. Nun aber gilt der alte Glaube nicht mehr. Der „wissenschaftliche Sozialismus“ wird ausgerufen. Eine neue, durch einen Militärputsch an die Macht gekommene Regierung erklärt Papa Moupelo wie alle Kirchenmänner zu „Handlangern des Imperialismus“. Und Direktor Dieudonné, der einer im Machtkampf unterlegenen Ethnie angehört, hält seine Stellung vor allem durch Speichelleckerei. Er lässt öffentliche Anschläge mit den Reden und Heldentaten des neuen sozialistischen Präsident anbringen – und alle Schüler bestrafen, die diese nicht fehlerfrei aufsagen können. Doch auch wenn die „Revolution über uns kam wie ein Regen, den selbst unsere ruhmreichsten Fetischeure nicht hatten kommen sehen“, dann entfaltet sie doch eine ganz unfreiwillige Komik. Der neue Präsident soll bereits als Kind ein Krokodil am Schwanz gepackt, mit einer Ohrfeige betäubt und lebendig bei seiner Großmutter abgeliefert haben, damit sie Fleisch für das ganze Dorf kocht? „Laut Dieudonné war der neue Präsident ein Pendant zu Jesus Christus“. Und: „Mit der Schaffung der Kongolesischen Arbeiterpartei, der Vereinigung der sozialistischen kongolesischen Jugend und der nationalen Pionierbewegung hatte er lediglich das befolgt, was ihm unsere Ahnen im Schlaf eingegeben hatten“. Eine Groteske, die allerdings für Kenner der politischen Realitäten der beiden Kongos kaum übertrieben wirkt.
Wen wundert es, dass die Schüler rasch vom Opportunismus ihrer Vorgesetzten lernen? Mose steigt zu „Petit Piment“ auf, der kleine Pfeffer, nachdem er in einer Racheaktion für seinen besten Freund den als Schrecken des Schlafsaals agierenden Zwillingsbrüdern Songi-Songi und Tala-Tala heimlich Pfeffer in ihr Trinkwasser gemischt hatte. Sie machen ihn darauf zu ihrem Kumpel und Handlanger. Doch als die drei gemeinsam aus dem Waisenhaus türmen, erwartet sie auf den Straßen von Pointe Noire kaum ein besseres Leben. Der Bürgermeister führt seinen Wahlkampf mit einer Kampagne gegen die „Stechmücken“. Gemeint sind die Straßenkinder. Er lässt sie vom Markt vertreiben, wo sie mit Diebstahl und Bettelei ein Auskommen hatten. Nun treiben sie sich an der Cote Sauvage herum, lassen sich von den Zwillingsbrüdern ihre Einkünfte abpressen und – zum Grauen von Petit Piment – auch mal einen Hund oder eine Katze den Kochtopf wandern. Er sieht die Welt immer noch durch staunende Kinderaugen: Warum misstrauen sich in seiner Bande die Lahmen und die Blinden, wenn sie sich doch gegenseitig helfen und gemeinsam stärker sein könnten?
Die Begegnung mit einer zairischen Prostituierten namens Fiat 500 beschert Petit Piments Leben eine Wende: Die großherzige Puffmutter nimmt ihn unter ihre Fittiche. Sie lässt den Straßenjungen Besorgungen für ihre Mädchen machen, und diese ziehen in als Gesprächspartner ins Vertrauen. Zum ersten mal fühlt sich Petit Piment daheim. Ausgerechnet bei den Bordell-Mädchen. Fiat 500 findet über ihre Beziehungen sogar einen Job als Hafenarbeiter für ihren Schützling. Doch das Happy-End bleibt aus. Petit Piment, der schon seine Eltern, Papa Moupelo und die von ihm geliebte Internats-Schwester Sabine verloren hat, wird auch dieser Familie beraubt. Vom einen Tag auf den anderen verschwinden Mama Fiat 500 und ihre Mädchen spurlos. Diesmal hatte es der Wahlkampf des Bürgermeisters auf die Prostituierten aus Zaire abgesehen – vom einstigen Bordell ist nur noch ein Trümmerfeld geblieben. Für Petit Piment ist das zuviel. Er verliert den Verstand. Beklagt sich über bösartige Zwerge und verlorene Adverbien und trudelt einem ebenso tragischen wie überraschenden Ende zu.
„Wir müssen unsere Vorstellung tropikalisieren“, hat Mabanckou, der als Schulkind noch Marcel Proust lesen musste, von der afrikanischen Literatur gefordert. Dafür hat er einen ganz eigenen, üppig wuchernden Erzählstil gefunden: Mal mäandert er in die afrikanische Mythologie, erzählt von Ahnenverehrung und Aberglauben – oder schildert ironisch die Rituale der Bordell-Kunden wie auch die Selbstbeweihräucherungen aller möglichen Autoritäten vom Psychiater bis zum traditionellen Heiler. Das kann urkomisch sein. Und trägt doch immer auch eine gewisse Wut und Trauer mit sich. Kann es sein, dass seine Landsleute bei allem Optimismus in die immer gleichen Korruptionsfallen tappen? In zahlreichen Anekdoten verflicht Mabanckou die Geschichte des Kongo mit der Biografie seiner Figuren. Mal geht es um die 5 000 kubanischen Soldaten, die Fidel Castro für die Revolution über den Kongo nach Angola schickte, mal um die irren Machtspiele von Zaires Diktator Mobutu.
Und dann sind da noch die post-kolonialen Reflexe, etwa wenn der Waisenhaus-Direktor Dieudonné einer Parteikommission, die die Misstände in seiner Anstalt untersucht, entgegnet, man solle „nicht alle Waisenhäuser verdächtigen Orte der Pädaphilie zu sein. Das gibt es nur in Europa. Nicht bei uns“. Dass die Geschichte dennoch ein menschliches Gesicht behält, das verdankt sich vor allem den Frauenfiguren: Sie sind es, die obwohl immer auch Opfer, Stärke und Mitgefühl zeigen. Sie wollen zumindest ihre Kinder retten.
Und stellen sich wie etwa Schwester Sabine schützend vor Petit Piment, verarzten die Wunden, die ihm die Peitschen der Aufseher zugefügt haben. Vor allem aber bringen sie einen lebensrettenden Pragmatismus ins Spiel: „Ich bin Unkraut“, erklärt Fiat 500 ihrem Schützling einmal, „aber ich bin auch das Glück einiger Männer in diesem Viertel, nicht mehr und nicht weniger“. Und Petit Piment weiß, dass allein das zum Leben reicht. Dass im Reich der Verwüstung manchmal nur das Unkraut eine Chance hat.
Alain Mabanckou: Petit Piment. Roman. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. Liebeskind Verlag, 2019. 239 Seiten, 20 Euro.
Der unschuldige Blick des
Kindes entlarvt die
Verlogenheit der Erwachsenen
Dass die Geschichte ein
menschliches Gesicht behält,
liegt an den Frauenfiguren
Spätestens seit seinem 2005 erschienenen Roman „Zerbrochenes Glas“ gehört Alain Mabanckou zu den großen zeitgenössischen Erzählern Afrikas.
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.04.2020Laboratorien der Revolution
Vertraute Rezepte mit wilder Mischung: Alain Mabanckous neuer Roman "Petit Piment" erzählt von der jüngeren Geschichte Kongos
Der aus der Republik Kongo stammende Romancier Alain Mabanckou schreibt leichthändig Romane, die virtuos zentralafrikanische Motive, Sitten, Vorstellungen und Erzählweisen variieren. Schon "Zerbrochenes Glas" (2005) und "Stachelschweins Memoiren" (2006 ausgezeichnet mit dem Prix Renaudot) haben gezeigt, welche Souveränität und Innovationskraft Mabanckou im Umgang mit diesen Elementen entwickeln kann: Wie ein Meisterkoch verwandelt er bekannte Zutaten in ein überraschendes, leichtes und zudem für viele Leser verführerisches Gericht, seine Romane haben ein im besten Sinne des Wortes breites Publikum überzeugen können. Vor kurzem ist nun sein neuer Roman "Petit Piment" - abermals von Holger Fock und Sabine Müller übersetzt - bei Liebeskind erschienen. Wer den Autor nicht kennt, wird seine Zeit bei der Lektüre nicht verschwenden, doch er wird den Autor nicht in Hochform kennenlernen. Für Kenner mag das Buch ein Baustein im Mabanckou-Gebäude sein, aber eher an einer Seitenwand, nicht gerade ein Eckstein.
Erzählt wird die Geschichte eines Waisenjungen, sie lässt sich in grob vier Teile und Rollen gliedern: die Jugend in einem Waisenhaus, die mit dreizehn Jahren abrupt mit einer Flucht endet, das Leben als jugendlicher Straßengangster, die psychischen Probleme des nunmehr Erwachsenen sowie diverse Therapieversuche und als Ausklang sozusagen ein Attentatsversuch samt der Folgen. Die Handlung beginnt in Loango, zwanzig Kilometer von Pointe-Noire entfernt, der Rest spielt dann in dieser kongolesischen Hafenstadt, in der Mabanckou einen Teil seiner Jugend verbracht hat. Von einer Rückkehr dorthin im Jahr 2012 berichtete er in "Die Lichter von Pointe-Noire".
Der junge Held Petit Piment (Kleine Pfefferschote) trägt eigentlich den klangvollen Namen Tokumisa Nzambe po Mose yamoyindo abotami namboka ya Bakoko (in Lingala: "Wir wollen Gott dafür danken, dass der schwarze Moses im Land seiner Vorfahren geboren wurde"), den er Papa Moupelo verdankt. Moupelo ist ein lebensfroher Priester, der den Waisen den Pygmäentanz seiner Heimat Zaire beibringt, "vor allem jenen unglaublichen Hüftschwung, der damit endete, dass der Priester sich hinkauerte und dann mit einem kleinen Kängurusprung einen Meter weiterhüpfte" - eine willkommene Abwechslung vom alltäglichen Schreckensregime, das Dieudonné Ngoulmoumako, der sadistische und scheinheilige Leiter des Waisenhauses mit seinen Gehilfen etabliert hat. Moupelo ist eine der fünf Figuren, die dem Roman Farbe und Aroma verleihen.
Seinen Spitznamen verdankt Petit Piment den kriminellen Zwillingen Songi-Songi und Tala-Tala, die den Helden in ihre Aktivitäten einbinden, ihn zur Flucht anstiften und als Bandenmitglied ausnehmen. Zu den pittoresken Charakteren gehört weiterhin die großherzige und -brüstige Puffmutter Mama Fiat 500, die Petit Piment aus Kriminalität und Straßenleben holt, oder der traditionelle Heiler Ngampika, der ihm dabei helfen soll, den gewaltsamen Tod ebenjener Dame zu verwinden. Denn der verfolgt Petit Piment: Er verliert seine Arbeit als Lagerist am Hafen und irrt erinnerungsgestört durch die Stadt.
Im Hintergrund stehen die sozialistische Revolution von Marien Ngouabi 1969, die ethnischen Rivalitäten und die daraus resultierenden gesellschaftlichen Veränderungen. Der Waisenhausdirektor greift Ideologie und Propaganda der neuen Machthaber freudig auf, wie Sabine Niangui, eine Betreuerin, die dem Helden als Ersatzmutter dient, in Erinnerung an die gute alte Zeit beklagt: "Das hatte nichts zu tun mit der heutigen Welt, in der Politik und Kindererziehung vermischt und Waisenhäuser zu Laboratorien der Revolution gemacht werden und ihre Kinder zu Meerschweinchen, an denen herumexperimentiert wird!" Auch Ngoulmoumako gerät schließlich unter die Räder - zu Recht, muss man angesichts seiner Vetternwirtschaft sagen. Mabanckou bindet das historische Geschehen als Rahmen diskret und daher überzeugend ein.
Weniger überzeugend ist der Handlungsaufbau im Ganzen, der zu keinem solchen werden will. Zwar hat Mabanckou, der an der University of California in Los Angeles lehrt und auch schon die Ehre hatte, 2015/16 am Collège de France zu unterrichten, sich gewiss etwas dabei gedacht; seit Anfang seines Werkes verteidigt er die Abschweifung als literarische Technik. Doch fällt auf, dass es ihm in "Petit Piment" erst am Schluss gelingt, die Klammer zu schließen, und das nur mit Mühe und Not.
Selbst dann fragt man sich, wie das Leben im Waisenhaus und die Freundschaft mit Bonaventure, das Straßenleben in Pointe-Noire und die spätere Phase psychischer Erkrankung wohl zusammenhängen. Man könnte der Ehrenrettung halber den Versuch, einen Schelmenroman zu schreiben, für den episodischen Aufbau verantwortlich machen: Aber auch für dieses Romangenre hat der Roman zu starke Unwuchten, ist das Waisenhaus viel zu schwer-, die Krankheit hingegen zu leichtgewichtig. Schließlich wirken die Figuren mitunter schematisch und bereits bekannt, vorneweg die fiesen Zwillinge, die an Koty und Koté aus "Stachelschweins Memoiren" erinnern. Kurz: Hier hat ein sehr guter Autor einen Roman vorgelegt, der nicht ganz so gut ist.
NIKLAS BENDER
Alain Mabanckou:
"Petit Piment". Roman.
Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller.
Liebeskind, München 2019. 240 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vertraute Rezepte mit wilder Mischung: Alain Mabanckous neuer Roman "Petit Piment" erzählt von der jüngeren Geschichte Kongos
Der aus der Republik Kongo stammende Romancier Alain Mabanckou schreibt leichthändig Romane, die virtuos zentralafrikanische Motive, Sitten, Vorstellungen und Erzählweisen variieren. Schon "Zerbrochenes Glas" (2005) und "Stachelschweins Memoiren" (2006 ausgezeichnet mit dem Prix Renaudot) haben gezeigt, welche Souveränität und Innovationskraft Mabanckou im Umgang mit diesen Elementen entwickeln kann: Wie ein Meisterkoch verwandelt er bekannte Zutaten in ein überraschendes, leichtes und zudem für viele Leser verführerisches Gericht, seine Romane haben ein im besten Sinne des Wortes breites Publikum überzeugen können. Vor kurzem ist nun sein neuer Roman "Petit Piment" - abermals von Holger Fock und Sabine Müller übersetzt - bei Liebeskind erschienen. Wer den Autor nicht kennt, wird seine Zeit bei der Lektüre nicht verschwenden, doch er wird den Autor nicht in Hochform kennenlernen. Für Kenner mag das Buch ein Baustein im Mabanckou-Gebäude sein, aber eher an einer Seitenwand, nicht gerade ein Eckstein.
Erzählt wird die Geschichte eines Waisenjungen, sie lässt sich in grob vier Teile und Rollen gliedern: die Jugend in einem Waisenhaus, die mit dreizehn Jahren abrupt mit einer Flucht endet, das Leben als jugendlicher Straßengangster, die psychischen Probleme des nunmehr Erwachsenen sowie diverse Therapieversuche und als Ausklang sozusagen ein Attentatsversuch samt der Folgen. Die Handlung beginnt in Loango, zwanzig Kilometer von Pointe-Noire entfernt, der Rest spielt dann in dieser kongolesischen Hafenstadt, in der Mabanckou einen Teil seiner Jugend verbracht hat. Von einer Rückkehr dorthin im Jahr 2012 berichtete er in "Die Lichter von Pointe-Noire".
Der junge Held Petit Piment (Kleine Pfefferschote) trägt eigentlich den klangvollen Namen Tokumisa Nzambe po Mose yamoyindo abotami namboka ya Bakoko (in Lingala: "Wir wollen Gott dafür danken, dass der schwarze Moses im Land seiner Vorfahren geboren wurde"), den er Papa Moupelo verdankt. Moupelo ist ein lebensfroher Priester, der den Waisen den Pygmäentanz seiner Heimat Zaire beibringt, "vor allem jenen unglaublichen Hüftschwung, der damit endete, dass der Priester sich hinkauerte und dann mit einem kleinen Kängurusprung einen Meter weiterhüpfte" - eine willkommene Abwechslung vom alltäglichen Schreckensregime, das Dieudonné Ngoulmoumako, der sadistische und scheinheilige Leiter des Waisenhauses mit seinen Gehilfen etabliert hat. Moupelo ist eine der fünf Figuren, die dem Roman Farbe und Aroma verleihen.
Seinen Spitznamen verdankt Petit Piment den kriminellen Zwillingen Songi-Songi und Tala-Tala, die den Helden in ihre Aktivitäten einbinden, ihn zur Flucht anstiften und als Bandenmitglied ausnehmen. Zu den pittoresken Charakteren gehört weiterhin die großherzige und -brüstige Puffmutter Mama Fiat 500, die Petit Piment aus Kriminalität und Straßenleben holt, oder der traditionelle Heiler Ngampika, der ihm dabei helfen soll, den gewaltsamen Tod ebenjener Dame zu verwinden. Denn der verfolgt Petit Piment: Er verliert seine Arbeit als Lagerist am Hafen und irrt erinnerungsgestört durch die Stadt.
Im Hintergrund stehen die sozialistische Revolution von Marien Ngouabi 1969, die ethnischen Rivalitäten und die daraus resultierenden gesellschaftlichen Veränderungen. Der Waisenhausdirektor greift Ideologie und Propaganda der neuen Machthaber freudig auf, wie Sabine Niangui, eine Betreuerin, die dem Helden als Ersatzmutter dient, in Erinnerung an die gute alte Zeit beklagt: "Das hatte nichts zu tun mit der heutigen Welt, in der Politik und Kindererziehung vermischt und Waisenhäuser zu Laboratorien der Revolution gemacht werden und ihre Kinder zu Meerschweinchen, an denen herumexperimentiert wird!" Auch Ngoulmoumako gerät schließlich unter die Räder - zu Recht, muss man angesichts seiner Vetternwirtschaft sagen. Mabanckou bindet das historische Geschehen als Rahmen diskret und daher überzeugend ein.
Weniger überzeugend ist der Handlungsaufbau im Ganzen, der zu keinem solchen werden will. Zwar hat Mabanckou, der an der University of California in Los Angeles lehrt und auch schon die Ehre hatte, 2015/16 am Collège de France zu unterrichten, sich gewiss etwas dabei gedacht; seit Anfang seines Werkes verteidigt er die Abschweifung als literarische Technik. Doch fällt auf, dass es ihm in "Petit Piment" erst am Schluss gelingt, die Klammer zu schließen, und das nur mit Mühe und Not.
Selbst dann fragt man sich, wie das Leben im Waisenhaus und die Freundschaft mit Bonaventure, das Straßenleben in Pointe-Noire und die spätere Phase psychischer Erkrankung wohl zusammenhängen. Man könnte der Ehrenrettung halber den Versuch, einen Schelmenroman zu schreiben, für den episodischen Aufbau verantwortlich machen: Aber auch für dieses Romangenre hat der Roman zu starke Unwuchten, ist das Waisenhaus viel zu schwer-, die Krankheit hingegen zu leichtgewichtig. Schließlich wirken die Figuren mitunter schematisch und bereits bekannt, vorneweg die fiesen Zwillinge, die an Koty und Koté aus "Stachelschweins Memoiren" erinnern. Kurz: Hier hat ein sehr guter Autor einen Roman vorgelegt, der nicht ganz so gut ist.
NIKLAS BENDER
Alain Mabanckou:
"Petit Piment". Roman.
Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller.
Liebeskind, München 2019. 240 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main