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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Unverstellt, ungekünstelt und ganz ohne Hemmungen: Meryem Alaoui erzählt in ihrem Debütroman von einer starken Frau in Marokko.
Wenn ein Roman aus der arabischen Welt in den Jahren 2010/2011 spielt, dann denkt man unwillkürlich, es müsste eine Geschichte sein, die von Revolution handelt. Damals gingen von Tunesien ausgehend Millionen Menschen in der arabischen Welt auf die Straße, um für Freiheit und soziale Gerechtigkeit zu demonstrieren. Doch der Debütroman der marokkanischen Autorin Meryem Alaoui "Pferdemund tut Wahrheit kund" spielt zwar in der arabischen Welt, aber eben in Marokko. Während in den Nachbarstaaten Diktatoren nach Jahren an der Macht gewaltsam von ihren Quasithronen gestoßen wurden, war es in Marokko weitgehend ruhig geblieben, auch weil dort König Mohammed VI. kurz nach den ersten Massendemonstrationen Ende Februar 2011 eine Verfassungsreform angekündigt hatte.
Obwohl nun Alaoui ihre Erzählung im Juni 2010 beginnt und wir ihrer Protagonistin in den folgenden Monaten durch ihr Leben in der Altstadt von Casablanca folgen, sind die Revolutionen des sogenannten Arabischen Frühlings hier nur eine Randnotiz. Die Hauptrolle in diesem Roman spielt Dschmiaa, und es geht um nicht weniger als das Leben an sich und das Überleben einer Frau in einem patriarchalen System. Einem System, in dem Frauen, die sich Freiheiten nehmen, dafür hart bestraft werden - von der Familie und der Gesellschaft. Die männlich dominierten Gesellschaften in der arabischen Welt haben keinen Platz für Frauen, die sich verführen lassen, die auf der Suche nach ein bisschen eigenem Glück sind.
Alaoui erzählt diese Geschichte in einem Ton, der vom ersten bis zum letzten Satz mitreißend ist und berührend, voller Humor und Poesie. Dschmiaa spricht aus der Ich-Perspektive zu uns, und es entspinnt sich über die 312 Seiten ein Zwiegespräch zwischen ihr und dem Leser, das betörend ist. Sie zieht den Leser mit ihrer direkten, rohen Sprache in den Bann, sie nimmt einen an der Hand durch ihr Leben und lässt nicht mehr los. Es ist, als würde sie sich der besten Freundin oder ihrem Tagebuch anvertrauen. Unverstellt, ungekünstelt und ganz und gar ohne Hemmungen. An Selbstbewusstsein mangelt es dieser Frau nicht.
Es wird sehr schnell klar, dass Dschmiaa den Lebensunterhalt für sich und ihre kleine Tochter als Prostituierte verdient. Sie beschreibt das Leben in ihrem Viertel in Casablanca, den Alltag mit den Freiern, die Gewalt, aber auch die kleinen Freuden zwischendurch, die sie sich mit ihren Kolleginnen gönnt. Sie nimmt uns mit nach Hause, in ihre Gefühlswelt, den Alltag als Prostituierte. Wir kommen ihr ganz nah, schlüpfen mit ihr unter die Decke, wenn sie ihre Freier mit ins Kämmerchen nimmt. Details lässt sie keine aus.
Und trotzdem ist der Roman keine Geschichte von Opfern, sondern von selbstbestimmten Frauen, die sich arrangieren mit den Gegebenheiten. Die Protagonistin ist eine starke Person, die selbstbestimmt mit ihrem Körper umgeht - die hurt, trinkt und lachen kann mit ihren Freundinnen, trotz ihres Schicksals.
Alaouis Sprache ist poetisch und roh, aber eben auch sehr präzise. Die arabische Sprache ist reich an Bildern, und obwohl Alaoui dieses Erstlingswerk auf Französisch verfasst hat, merkt man ihrer Sprache die arabische Poesie an. So beschreibt die 1975 in Casablanca geborene, danach aber lange in New York wohnhafte Alaoui zum Beispiel ein anderes Schönheitsideal, als es im Westen propagiert wird. Die Frauen in Dschmiaas Welt sind attraktiv, wenn sie kräftig sind und Rundungen haben. Ihre Augen sind so schön wie Kuhaugen. Überhaupt: Schönheitsideale haben in diesem Roman oft etwas Animalisches oder mit gutem Essen zu tun. In der deutschen Übersetzung der Schweizerin Barbara Sauser wirken diese Bilder nie überzogen, sondern immer präzise.
Für Dschmiaa beginnt eigentlich alles wie in einem klassischen amerikanischen Liebesfilm. Zumindest fühlt sie sich so, als sie in ihrem Heimatort den gut aussehenden Hamid kennenlernt. Sie verliebt sich so, wie sich nur Teenager verlieben können: "Da er mir gefiel, sprang mir jedes Mal fast das Herz aus der Brust, wenn er mich ansah. Du weisst ja, wie es ist, wenn man jung ist. Ein einziger Blick entfacht ein Feuer."
Sie erzählt uns vom heftigen Feuer des Kennenlernens und von den heftigen Schlägen, die in der Ehe folgen. Physisch wie psychisch. Ihr Mann ist ein Taugenichts, den die Drogen zerstören - und der irgendwann seine Frau an andere Männer verkauft, um an Geld zu kommen. Über Nacht wird Dschmiaa zur Nutte ihres nutzlosen Mannes. Was man der jungen Dschmiaa nicht gesagt hat: Die amerikanischen Liebesfilme enden immer mit der Hochzeitsfeier. Im Rückblick versteht sie, dass "dir die Drehbuchautoren, diese Schufte, nicht sagen, wohin die Reise geht. Stattdessen lassen sie dich nach dem Hochzeitsfest hängen."
Filme spielen in diesem Roman eine wichtige Rolle. Sie sind es, die Dschmiaa den Alltag vergessen lassen, wenn sie zu Hause auf dem Sofa liegt. Der Film ist es aber auch, der ihr die Tür zu einem neuen Leben öffnet. Denn eines Tages erscheint eine junge niederländisch-marokkanische Regisseurin in ihrem Leben, die einen Film über das Viertel und eine Prostituierte drehen will und sie um Hilfe bittet. Zuerst misstrauisch von Dschmiaa beäugt, entwickelt sich zwischen den so grundsätzlich verschiedenen Frauen eine Freundschaft. "Pferdegebiss", wie Dschmiaa die Regisseurin argwöhnisch-liebevoll nennt, macht sie zur Heldin ihres Films. In dessen Drehbuch gibt es zwar - anders als in amerikanischen Liebesfilmen - am Ende kein Happy End, was Dschmiaa "dämlich" findet. Aber dafür gibt es dann in ihrem eigenen Lebensfilm eines, wie sie es sich niemals hätte erträumen können. AMIRA EL AHL
Meryem Alaoui: "Pferdemund tut Wahrheit kund". Roman.
Aus dem Französischen von Barbara Sauser. Lenos Verlag, Basel 2023. 312 S., geb., 26,- Euro.
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