Um das Leben des Philip Roth ranken sich unzählige Gerüchte und Geschichten - sicher auch inspiriert von den autobiografischen Spuren, die er in seinen Romanen legte. Noch zu Lebzeiten engagierte er Blake Bailey als seinen Biografen, dem er in langen Gesprächen Rede und Antwort stand und dem er exklusiven Zugang zu seinem Archiv gewährte. Roths Geschichte des Aufstiegs aus kleinen Verhältnissen zu literarischem Weltruhm zeigt sein Werk in einem neuen Licht und erzählt dazu von den großen politischen und kulturellen Debatten seiner Zeit - ein biografisches Meisterwerk und spannendes Gesellschaftsbild einer ganzen Epoche.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Mit dieser Roth-Biografie kann Rezensent Tobias Döring wenig anfangen. Das aufgrund von Missbrauchs- und Vergewaltigungsvorwürfen gegen Bailey vom ursprünglichen Verlag fallengelassene und non von Dirk van Gunsteren und Thomas Gunkel im Großen und Ganzen gut übersetzte Buch konzentriert sich, lernen wir, ganz auf Klatsch und Tratsch. Detailliert ausgebreitet werden Societygeplänkel und Frauengeschichten, insbesondere auch Roths zahlreiche Beziehungen zu jüngeren Frauen. Für Hardcorefans des Autors ist das alles möglicherweise goutierbar, konzediert Döring. Dass Bailey von einer Analyse des literarischen Werks fast komplett absieht, ist für den Rezensenten freilich nicht nachvollziehbar.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Blake Baileys Biographie lässt nun hautnah miterleben, wie sich diese individuellen Erfahrungen in Roths Schreiben verwandelte in allgemeingültige Literatur - am triumphalsten um die Jahrtausendwende in Philip Roths genialer Amerika-Trilogie "Amerikanisches Idyll", "Mein Mann, der Kommunist" und "Der menschliche Makel", Romane, die das wahrhaftigste Abbild des Lebens in den Vereinigten Staaten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts boten (...) Also vertrauen Sie mir und lesen Sie Blake Baileys Biographie "Philip Roth"." Denis Scheck, ARD Druckfrisch, 21.05.23
"Und es ist nicht nur für Kenner des Roth'schen Oeuvre eine Freude, lesend das von Bailey kenntnisreich in tausendundeiner Anekdote vor uns ausgebreitete Leben des großen-jüdisch-amerikanischen Schriftstellers zu durchschreiten. Denn wie es Blake darin vermag, das in Roths Romanen von Beginn an von ihm selbst kunstvoll betriebene literarische Spiel autobiografischer Verschleierung auf seine biographische Großaufnahme Roths zu übertragen, das verleiht seinem Buch einen exquisiten Reiz." Peter Henning, SR2, 12.04.23
"Und es ist nicht nur für Kenner des Roth'schen Oeuvre eine Freude, lesend das von Bailey kenntnisreich in tausendundeiner Anekdote vor uns ausgebreitete Leben des großen-jüdisch-amerikanischen Schriftstellers zu durchschreiten. Denn wie es Blake darin vermag, das in Roths Romanen von Beginn an von ihm selbst kunstvoll betriebene literarische Spiel autobiografischer Verschleierung auf seine biographische Großaufnahme Roths zu übertragen, das verleiht seinem Buch einen exquisiten Reiz." Peter Henning, SR2, 12.04.23
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.08.2023Doppelspiegelspiel über dem Abgrund
Was hat die Glatzenbildung mit der Literatur zu tun?
Blake Baileys tausendseitige Biographie über Philip Roth setzt vor allem auf Klatsch und Sex, während sie das Werk vernachlässigt.
Der Biograph gibt sich darin bisweilen eine gespenstische Rolle.
Sein erster Roman sollte in Frankfurt spielen. Mit Kurzgeschichten hatte der junge Autor schon erheblichen Erfolg gehabt und das Interesse eines Verlagslektors geweckt, der sich erkundigte, ob nicht ein größeres Projekt in Arbeit sei. Der Autor, Mitte zwanzig, plante in der Tat eine Geschichte, die ein "starkes moralisches Dokument", wie er voraussah, sein würde und den großen Durchbruch bringen sollte. Darin ging es um einen jüdisch-amerikanischen Geschäftsmann, der nach Frankfurt reist, um dort einen Deutschen, irgendeinen beliebigen Deutschen, zu erschießen und auf diese Weise Rache für den Holocaust zu üben. Ein hochbrisantes Thema, das war klar (man schrieb das Jahr 1957).
Doch der Autor kannte Frankfurt wie auch Deutschland überhaupt nicht. Aufgewachsen in der Ostküstenprovinz in Newark, war er bislang nur bis New York und Chicago gekommen. Verlagskollegen, die mit Frankfurt und deutschen Verhältnissen vertraut waren, konnten seinem Manuskript daher nur wenig abgewinnen: "Der Unterschied zwischen diesem Entwurf und Roths amerikanischer Geschichte", lautete das klarsichtige Urteil, "ist der Unterschied zwischen einer Geschichte, die mit einer intellektuellen Idee beginnt, und einer solchen, die das Leben wiedergibt, das der Autor gelebt hat." Nie wieder sollte ihm ein solcher Fehler unterlaufen.
Eigentlich traf es sich gut, dass Philip Roth ohnehin grad im Begriff stand, seine Doktorarbeit aufzugeben ("Hemingway hat auch keinen Doktortitel", wie er die Familie wissen ließ) und stattdessen eine Europatour zu unternehmen. Doch die Gelegenheit zu Frankfurt-Recherchen ließ er verstreichen. Paris, Nizza und Florenz wirkten weitaus attraktiver. Und auch ein Jahr später, als er zur Vollendung der Romanidee ein Guggenheim-Stipendium erhielt, inklusive Reisespesen zur Ausarbeitung von "Milieu und Genauigkeit im Detail", wie ausdrücklich beantragt, zog er es schließlich vor, nach Rom zu reisen. Hier ging die Arbeit schleppend voran. Die Schreibblockade wurde erst durchbrochen, als der Autor sich entschloss, das Frankfurt-Projekt aufzugeben und stattdessen dem verlegerischen Rat zu folgen, sich auf das Leben, das er selbst gelebt hat, literarisch einzulassen. In rascher Folge entstanden zwei Chicago-Manuskripte mit autobiographischer Grundierung - es geht um Sex - und einem unterhaltsamen Erzählton voll abgründiger Komik. Den ganz großen Durchbruch jedoch brachte der Skandalroman "Portnoys Beschwerden", der 1969 herauskam, sofort zum internationalen Bestseller aufstieg und in eben diesem Ton vorrangig vom Masturbieren handelt. Die Frage nach Detailrecherchen galt damit als geklärt.
Man kann mit Sicherheit festhalten, dass sich Roth (1933 bis 2018) in seinem umfangreichen Erzählwerk, das fast drei Dutzend Buchveröffentlichungen umfasst, immer wieder tiefen moralischen Fragen stellt - wie wollen wir leben? was dürfen wir hoffen? wie prägt uns Herkunft? was für Gestaltungsmöglichkeiten birgt die Zukunft? - und in seinen Figuren intellektuelle Ideen Gestalt werden lässt, deren Widerstreit den Plot vorantreibt. Doch all das erscheint in seinen wichtigen und großen Texten derart erfahrungsgesättigt und handfest körperlich beglaubigt, dass es beim Lesen fast schon schmerzt. Eben daraus ziehen Geschichten und Bekenntnisse wie "Mein Leben als Mann", "Der Ghostwriter", "Operation Shylock" oder "Der menschliche Makel" ihre ungeheure Wucht und Wirkung. Die Lehre, die der Autor aus seinem frühen Frankfurt-Debakel gezogen hat, war also, dem eigenen Leben so dicht auf der Spur zu bleiben, bis es sich schreibend einholen lässt.
Als er sich 1989 einer Bypassoperation unterziehen musste, war er richtiggehend empört, dass die ihm literarisch gar nichts bringe, denn er hatte sie bereits vorab verwendet. Erst zwei Jahre zuvor sah er sich in Interviews genötigt, sein Hemd aufzuknöpfen und die narbenlose Brust zu zeigen, um sinnfällig den Beweis zu führen, dass der Bypass seines fiktionalen Alter Egos Zuckerman nicht etwa auf eigener Erfahrung beruhe. Heutzutage grassiert das Autofiktionale allerorten. Doch wie kaum ein anderer Autor seiner Generation war Roth bereit, immer wieder Grenzgänge zwischen Leben und Literatur zu riskieren und in der Fiktion so rückhaltlose Selbsterkundung oder Selbstbespiegelung zu betreiben, dass die (von ihm auch gern beanspruchte) Verteidigungsstrategie, der Erzähler sei niemals der Autor, nicht so recht verfängt.
Auch sein gesamtes Umfeld musste stets ein literarisches Nachleben gewärtigen. Seit den Neunzigerjahren machte in der New Yorker Society ein neuer Ausdruck die Runde, der "to be Rothed" lautete und so viel wie "gerothet werden" bedeutet, d. h. für Romanzwecke hergerichtet - in manchen Fällen, vor allem bei verflossenen Geliebten oder unliebsamen Kritikern, wovon es jeweils reichlich gab, darf man wohl auch von "hingerichtet" sprechen. Denn bei sich selbst wie anderen waren es zumeist die Wunden oder mindestens die wunden Punkte, die Roth zum Schreiben animierten. Das Narbengewebe wurde unter seiner Hand große Literatur.
Auf die Frage einer Fernsehmoderatorin, warum er denn so viele Bücher schreibe, antwortete Roth aufrichtig, weil er nicht wisse, wie er sonst den Tag rumbringen solle. Und tatsächlich schrieb er so gut wie jeden Tag, mit unerhörter Disziplin, Beharrlichkeit und Ausdauer und trotzte auf diese Weise allen Brüchen, Begierden, Leiden, Krankheiten, Kränkungen, Zerwürfnissen und Verzweiflungsakten, die ihm das Leben unentwegt verschaffte, literarischen Sinn ab. Darin fand er nicht bloß Trost, sondern überraschend reiche Resonanz. Wie er selbst bekundete, gehörte er mit Updike zur "letzten Generation vor dem Fernsehen" und glaubte inbrünstig daran, dass der Roman die einzige und höchste Kunstform sei, amerikanische Kultur zu begreifen und zu beschreiben. Womöglich liegt Roths dauernde Bedeutung in der Fähigkeit, durch rückhaltlose Ausbeutung partikularer Lebensweisen zugleich so viel Gesellschaftliches einzufangen, dass man sich immer wieder davon fesseln lässt.
Was sollen wir daher mit einer Biographie dieses Autors, der selbst schon alles Wissenswerte, wie es scheint, über sein Leben preisgegeben hat, anfangen? Blake Baileys Tausendseiter taugt zum Faktencheck und ist, wie man so sagt, autorisiert: Roth hat sich den Biographen nach anderen erfolglosen Castings (ein aussichtsreicher Kandidat scheiterte an dem aufgetragenen Probeessay über die "Bedeutung" von Sex in Roths Leben) selbst ausgesucht, ihm umfangreiche Interviews und Einsicht in sämtliche Papiere gewährt. Bailey ist einschlägig ausgewiesen, dreißig Jahre jünger, nicht jüdisch und aus dem Mittleren Westen, sollte also die Kompetenz wie auch die Distanz mitbringen, sein Thema angehen zu können. Tatsächlich war das lang erwartete Monumentalwerk, als es drei Jahre nach des Autors Tod im Frühjahr 2021 herauskam, ein nationales Großereignis und nach den ersten jubelnden Kritiken auf dem Weg zum Bestseller.
Es wurde ein Fiasko. Drei Wochen nach Erscheinen zog der amerikanische Verlag das Buch zurück, nachdem eine Reihe von Frauen, darunter ehemalige Schülerinnen, schwere Vorwürfe gegen Bailey wegen sexueller Übergriffe bis hin zu Vergewaltigung erhoben hatten. Über deren strafrechtliche Klärung ist bislang nichts bekannt. Und das Verteidigungsbuch, das Bailey, der die Vorwürfe zurückweist, angekündigt hat, ist nicht in Sicht. Seine Roth-Biographie aber, die wohl nicht zufällig den Stein ins Rollen brachte, weil sie ihrerseits zum Thema einiges an Beispielmaterial bietet, ist weiter in der Welt (sie wurde von einem anderen Verlag übernommen) und lädt zur Lektüre. Was lässt sich aus ihr gewinnen?
Zunächst mal jede Menge Klatsch. Zwei desaströse Ehen, deren Dramatik sich unter reger öffentlicher Anteilnahme zwischen Ibsen und Ionesco entfaltete, eine schier unüberschaubare Serie von Geliebten und Affären, viel Streit ums Geld, sehr viele Promis, Platzhirsche, Schoßhündchen, Dinnerpartys, Barabstürze, Psychotherapien, Eifersuchtsgefechte - was man alles von "Celebrity Memoirs" erwarten darf. Am witzigsten darunter eine kleine Szene aus der Weihnachtszeit 1997, als Roth die Bekanntschaft der Clintons machte und sich erbot, Chelsea Clinton, die für ihr Studium in Stanford just an einem Essay über einen seiner Romane schrieb, künftig gern bei solchen Aufgaben behilflich zu sein. Worauf Hillary Clinton mit wahrhaft präsidialer Weitsicht knapp erklärte: "Sie braucht keine Hilfe."
Von zahlreichen anderen jungen Frauen, denen Roth Hilfe angedeihen ließ, erfährt man mehr, als einem lieb ist. Wie Bailey anmerken zu müssen glaubt, hatten zwar "nicht alle seine Mentorenprojekte eine erotische Komponente". Doch noch im fortgeschritteneren Alter von 72 Jahren nahm Roth sich einer Neunundzwanzigjährigen an (die nur unter Pseudonym erscheint) und lud sie zur Shopping-Tour: "Stellen Sie sich eine Szene vor, die Mann nie geschrieben hat, in der Aschenbach für Tadzio Kleidung kauft", erinnert er sich freudig Jahre später. Die Verschränkung von Literatur und Leben scheint sich hier bedenklich der Grenze zum Selbstwahn anzunähern. Die Gesamtsumme des Einkaufs betrug übrigens, wie Bailey präzisiert, 2563 Dollar.
Man muss schon eingefleischter Roth-Fan sein, um derlei Informationen wertzuschätzen. Mit Geduld und Akribie folgt dieser Biograph dem Tages- wie dem Nachtgeschäft seines verehrten Autors und verzeichnet viel vom täglichen Einerlei, das auch ein Promi-Leben letztlich ausmacht. Alles wird mit obligaten Fotos aus dem Familienalbum anschaulich und lesbar dargeboten, doch die schiere Fülle der Details ermüdet und seien sie auch noch so genau recherchiert (warum ist von Belang zu wissen, dass die Glatzenbildung bei Roth schon früh einsetzte? Weil ihm peinlich war, beim Cunnilingus die entblößte Kopfhaut darzubieten, wie "eine Reihe ehemaliger Geliebter" bestätigt). Darunter werden andere, ungleich interessantere Aspekte leicht verschüttet: zum Beispiel Roths engagiertes Eintreten für tschechische Dissidenten und andere osteuropäische Intellektuelle, die er in Prag, wohin er gern zu seinem Idol Kafka reiste, kennenlernte und durch eine eigene Buchreihe im Westen bekannt machte.
Über das literarische Werk erfährt man in diesem dicken Buch ohnehin erstaunlich wenig. Romane werden nur, wie es ausdrücklich heißt, "aus biographischem, nicht aus literaturwissenschaftlichem Interesse" zitiert. Das muss man bedauern. Zumindest ein Werkverzeichnis wäre angebracht gewesen. Die deutsche Ausgabe verzichtet weise auf den definitiven Artikel der amerikanischen ("Philip Roth: The Biography") und ist von Dirk van Gunsteren und Thomas Gunkel mit bewundernswertem Atem übersetzt worden (nur ganz gelegentlich bemerkt man, dass er stockt: wenn etwa "sexual libertinism" verharmlosend mit "Liederlichkeiten" übersetzt wird). Doch ein ganzes Leben für die Literatur nachzuzeichnen, ohne sich auf diese Literatur ernsthaft einzulassen, zeigt letztlich nicht einmal ein halbes.
Die Danksagungen schildern zum Schluss eine bizarre Szene: wie Bailey eine Sommerwoche bei Roth in Connecticut verbrachte und täglich sechs Stunden mit ihm sprach. "Hin und wieder musste einer von uns auf die Toilette, dann hörte man durch die Tür das gedämpfte Plätschern des Strahls. An einem schönen, sonnigen Nachmittag saß ich auf dem Sofa in seinem Studio, hörte, wie unser größter lebender Schriftsteller seine Blase entleerte, und dachte, besser könne man es als amerikanischer Literaturbiograph kaum haben." Das innig Einvernehmliche der Männerszene kippt, wenn man die weiteren Entwicklungen um Bailey kennt, jäh ins Gespenstische: der Biograph als Wiedergänger des Biographierten, ein Doppelspiegelspiel über dem Abgrund. Wenn man sein Buch mit etwas Abstand zu dem Aufruhr liest, drängt sich daher am stärksten ein Gedanke auf: Das muss alles gerothet werden! So bleibt zum Ende nur Bedauern, dass Philip Roth uns diesen Roman nicht mehr schreiben wird. TOBIAS DÖRING
Blake Bailey: "Philip Roth". Biographie.
Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren und Thomas Gunkel. Hanser Verlag, München 2023. 1040 S., geb., 58,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Was hat die Glatzenbildung mit der Literatur zu tun?
Blake Baileys tausendseitige Biographie über Philip Roth setzt vor allem auf Klatsch und Sex, während sie das Werk vernachlässigt.
Der Biograph gibt sich darin bisweilen eine gespenstische Rolle.
Sein erster Roman sollte in Frankfurt spielen. Mit Kurzgeschichten hatte der junge Autor schon erheblichen Erfolg gehabt und das Interesse eines Verlagslektors geweckt, der sich erkundigte, ob nicht ein größeres Projekt in Arbeit sei. Der Autor, Mitte zwanzig, plante in der Tat eine Geschichte, die ein "starkes moralisches Dokument", wie er voraussah, sein würde und den großen Durchbruch bringen sollte. Darin ging es um einen jüdisch-amerikanischen Geschäftsmann, der nach Frankfurt reist, um dort einen Deutschen, irgendeinen beliebigen Deutschen, zu erschießen und auf diese Weise Rache für den Holocaust zu üben. Ein hochbrisantes Thema, das war klar (man schrieb das Jahr 1957).
Doch der Autor kannte Frankfurt wie auch Deutschland überhaupt nicht. Aufgewachsen in der Ostküstenprovinz in Newark, war er bislang nur bis New York und Chicago gekommen. Verlagskollegen, die mit Frankfurt und deutschen Verhältnissen vertraut waren, konnten seinem Manuskript daher nur wenig abgewinnen: "Der Unterschied zwischen diesem Entwurf und Roths amerikanischer Geschichte", lautete das klarsichtige Urteil, "ist der Unterschied zwischen einer Geschichte, die mit einer intellektuellen Idee beginnt, und einer solchen, die das Leben wiedergibt, das der Autor gelebt hat." Nie wieder sollte ihm ein solcher Fehler unterlaufen.
Eigentlich traf es sich gut, dass Philip Roth ohnehin grad im Begriff stand, seine Doktorarbeit aufzugeben ("Hemingway hat auch keinen Doktortitel", wie er die Familie wissen ließ) und stattdessen eine Europatour zu unternehmen. Doch die Gelegenheit zu Frankfurt-Recherchen ließ er verstreichen. Paris, Nizza und Florenz wirkten weitaus attraktiver. Und auch ein Jahr später, als er zur Vollendung der Romanidee ein Guggenheim-Stipendium erhielt, inklusive Reisespesen zur Ausarbeitung von "Milieu und Genauigkeit im Detail", wie ausdrücklich beantragt, zog er es schließlich vor, nach Rom zu reisen. Hier ging die Arbeit schleppend voran. Die Schreibblockade wurde erst durchbrochen, als der Autor sich entschloss, das Frankfurt-Projekt aufzugeben und stattdessen dem verlegerischen Rat zu folgen, sich auf das Leben, das er selbst gelebt hat, literarisch einzulassen. In rascher Folge entstanden zwei Chicago-Manuskripte mit autobiographischer Grundierung - es geht um Sex - und einem unterhaltsamen Erzählton voll abgründiger Komik. Den ganz großen Durchbruch jedoch brachte der Skandalroman "Portnoys Beschwerden", der 1969 herauskam, sofort zum internationalen Bestseller aufstieg und in eben diesem Ton vorrangig vom Masturbieren handelt. Die Frage nach Detailrecherchen galt damit als geklärt.
Man kann mit Sicherheit festhalten, dass sich Roth (1933 bis 2018) in seinem umfangreichen Erzählwerk, das fast drei Dutzend Buchveröffentlichungen umfasst, immer wieder tiefen moralischen Fragen stellt - wie wollen wir leben? was dürfen wir hoffen? wie prägt uns Herkunft? was für Gestaltungsmöglichkeiten birgt die Zukunft? - und in seinen Figuren intellektuelle Ideen Gestalt werden lässt, deren Widerstreit den Plot vorantreibt. Doch all das erscheint in seinen wichtigen und großen Texten derart erfahrungsgesättigt und handfest körperlich beglaubigt, dass es beim Lesen fast schon schmerzt. Eben daraus ziehen Geschichten und Bekenntnisse wie "Mein Leben als Mann", "Der Ghostwriter", "Operation Shylock" oder "Der menschliche Makel" ihre ungeheure Wucht und Wirkung. Die Lehre, die der Autor aus seinem frühen Frankfurt-Debakel gezogen hat, war also, dem eigenen Leben so dicht auf der Spur zu bleiben, bis es sich schreibend einholen lässt.
Als er sich 1989 einer Bypassoperation unterziehen musste, war er richtiggehend empört, dass die ihm literarisch gar nichts bringe, denn er hatte sie bereits vorab verwendet. Erst zwei Jahre zuvor sah er sich in Interviews genötigt, sein Hemd aufzuknöpfen und die narbenlose Brust zu zeigen, um sinnfällig den Beweis zu führen, dass der Bypass seines fiktionalen Alter Egos Zuckerman nicht etwa auf eigener Erfahrung beruhe. Heutzutage grassiert das Autofiktionale allerorten. Doch wie kaum ein anderer Autor seiner Generation war Roth bereit, immer wieder Grenzgänge zwischen Leben und Literatur zu riskieren und in der Fiktion so rückhaltlose Selbsterkundung oder Selbstbespiegelung zu betreiben, dass die (von ihm auch gern beanspruchte) Verteidigungsstrategie, der Erzähler sei niemals der Autor, nicht so recht verfängt.
Auch sein gesamtes Umfeld musste stets ein literarisches Nachleben gewärtigen. Seit den Neunzigerjahren machte in der New Yorker Society ein neuer Ausdruck die Runde, der "to be Rothed" lautete und so viel wie "gerothet werden" bedeutet, d. h. für Romanzwecke hergerichtet - in manchen Fällen, vor allem bei verflossenen Geliebten oder unliebsamen Kritikern, wovon es jeweils reichlich gab, darf man wohl auch von "hingerichtet" sprechen. Denn bei sich selbst wie anderen waren es zumeist die Wunden oder mindestens die wunden Punkte, die Roth zum Schreiben animierten. Das Narbengewebe wurde unter seiner Hand große Literatur.
Auf die Frage einer Fernsehmoderatorin, warum er denn so viele Bücher schreibe, antwortete Roth aufrichtig, weil er nicht wisse, wie er sonst den Tag rumbringen solle. Und tatsächlich schrieb er so gut wie jeden Tag, mit unerhörter Disziplin, Beharrlichkeit und Ausdauer und trotzte auf diese Weise allen Brüchen, Begierden, Leiden, Krankheiten, Kränkungen, Zerwürfnissen und Verzweiflungsakten, die ihm das Leben unentwegt verschaffte, literarischen Sinn ab. Darin fand er nicht bloß Trost, sondern überraschend reiche Resonanz. Wie er selbst bekundete, gehörte er mit Updike zur "letzten Generation vor dem Fernsehen" und glaubte inbrünstig daran, dass der Roman die einzige und höchste Kunstform sei, amerikanische Kultur zu begreifen und zu beschreiben. Womöglich liegt Roths dauernde Bedeutung in der Fähigkeit, durch rückhaltlose Ausbeutung partikularer Lebensweisen zugleich so viel Gesellschaftliches einzufangen, dass man sich immer wieder davon fesseln lässt.
Was sollen wir daher mit einer Biographie dieses Autors, der selbst schon alles Wissenswerte, wie es scheint, über sein Leben preisgegeben hat, anfangen? Blake Baileys Tausendseiter taugt zum Faktencheck und ist, wie man so sagt, autorisiert: Roth hat sich den Biographen nach anderen erfolglosen Castings (ein aussichtsreicher Kandidat scheiterte an dem aufgetragenen Probeessay über die "Bedeutung" von Sex in Roths Leben) selbst ausgesucht, ihm umfangreiche Interviews und Einsicht in sämtliche Papiere gewährt. Bailey ist einschlägig ausgewiesen, dreißig Jahre jünger, nicht jüdisch und aus dem Mittleren Westen, sollte also die Kompetenz wie auch die Distanz mitbringen, sein Thema angehen zu können. Tatsächlich war das lang erwartete Monumentalwerk, als es drei Jahre nach des Autors Tod im Frühjahr 2021 herauskam, ein nationales Großereignis und nach den ersten jubelnden Kritiken auf dem Weg zum Bestseller.
Es wurde ein Fiasko. Drei Wochen nach Erscheinen zog der amerikanische Verlag das Buch zurück, nachdem eine Reihe von Frauen, darunter ehemalige Schülerinnen, schwere Vorwürfe gegen Bailey wegen sexueller Übergriffe bis hin zu Vergewaltigung erhoben hatten. Über deren strafrechtliche Klärung ist bislang nichts bekannt. Und das Verteidigungsbuch, das Bailey, der die Vorwürfe zurückweist, angekündigt hat, ist nicht in Sicht. Seine Roth-Biographie aber, die wohl nicht zufällig den Stein ins Rollen brachte, weil sie ihrerseits zum Thema einiges an Beispielmaterial bietet, ist weiter in der Welt (sie wurde von einem anderen Verlag übernommen) und lädt zur Lektüre. Was lässt sich aus ihr gewinnen?
Zunächst mal jede Menge Klatsch. Zwei desaströse Ehen, deren Dramatik sich unter reger öffentlicher Anteilnahme zwischen Ibsen und Ionesco entfaltete, eine schier unüberschaubare Serie von Geliebten und Affären, viel Streit ums Geld, sehr viele Promis, Platzhirsche, Schoßhündchen, Dinnerpartys, Barabstürze, Psychotherapien, Eifersuchtsgefechte - was man alles von "Celebrity Memoirs" erwarten darf. Am witzigsten darunter eine kleine Szene aus der Weihnachtszeit 1997, als Roth die Bekanntschaft der Clintons machte und sich erbot, Chelsea Clinton, die für ihr Studium in Stanford just an einem Essay über einen seiner Romane schrieb, künftig gern bei solchen Aufgaben behilflich zu sein. Worauf Hillary Clinton mit wahrhaft präsidialer Weitsicht knapp erklärte: "Sie braucht keine Hilfe."
Von zahlreichen anderen jungen Frauen, denen Roth Hilfe angedeihen ließ, erfährt man mehr, als einem lieb ist. Wie Bailey anmerken zu müssen glaubt, hatten zwar "nicht alle seine Mentorenprojekte eine erotische Komponente". Doch noch im fortgeschritteneren Alter von 72 Jahren nahm Roth sich einer Neunundzwanzigjährigen an (die nur unter Pseudonym erscheint) und lud sie zur Shopping-Tour: "Stellen Sie sich eine Szene vor, die Mann nie geschrieben hat, in der Aschenbach für Tadzio Kleidung kauft", erinnert er sich freudig Jahre später. Die Verschränkung von Literatur und Leben scheint sich hier bedenklich der Grenze zum Selbstwahn anzunähern. Die Gesamtsumme des Einkaufs betrug übrigens, wie Bailey präzisiert, 2563 Dollar.
Man muss schon eingefleischter Roth-Fan sein, um derlei Informationen wertzuschätzen. Mit Geduld und Akribie folgt dieser Biograph dem Tages- wie dem Nachtgeschäft seines verehrten Autors und verzeichnet viel vom täglichen Einerlei, das auch ein Promi-Leben letztlich ausmacht. Alles wird mit obligaten Fotos aus dem Familienalbum anschaulich und lesbar dargeboten, doch die schiere Fülle der Details ermüdet und seien sie auch noch so genau recherchiert (warum ist von Belang zu wissen, dass die Glatzenbildung bei Roth schon früh einsetzte? Weil ihm peinlich war, beim Cunnilingus die entblößte Kopfhaut darzubieten, wie "eine Reihe ehemaliger Geliebter" bestätigt). Darunter werden andere, ungleich interessantere Aspekte leicht verschüttet: zum Beispiel Roths engagiertes Eintreten für tschechische Dissidenten und andere osteuropäische Intellektuelle, die er in Prag, wohin er gern zu seinem Idol Kafka reiste, kennenlernte und durch eine eigene Buchreihe im Westen bekannt machte.
Über das literarische Werk erfährt man in diesem dicken Buch ohnehin erstaunlich wenig. Romane werden nur, wie es ausdrücklich heißt, "aus biographischem, nicht aus literaturwissenschaftlichem Interesse" zitiert. Das muss man bedauern. Zumindest ein Werkverzeichnis wäre angebracht gewesen. Die deutsche Ausgabe verzichtet weise auf den definitiven Artikel der amerikanischen ("Philip Roth: The Biography") und ist von Dirk van Gunsteren und Thomas Gunkel mit bewundernswertem Atem übersetzt worden (nur ganz gelegentlich bemerkt man, dass er stockt: wenn etwa "sexual libertinism" verharmlosend mit "Liederlichkeiten" übersetzt wird). Doch ein ganzes Leben für die Literatur nachzuzeichnen, ohne sich auf diese Literatur ernsthaft einzulassen, zeigt letztlich nicht einmal ein halbes.
Die Danksagungen schildern zum Schluss eine bizarre Szene: wie Bailey eine Sommerwoche bei Roth in Connecticut verbrachte und täglich sechs Stunden mit ihm sprach. "Hin und wieder musste einer von uns auf die Toilette, dann hörte man durch die Tür das gedämpfte Plätschern des Strahls. An einem schönen, sonnigen Nachmittag saß ich auf dem Sofa in seinem Studio, hörte, wie unser größter lebender Schriftsteller seine Blase entleerte, und dachte, besser könne man es als amerikanischer Literaturbiograph kaum haben." Das innig Einvernehmliche der Männerszene kippt, wenn man die weiteren Entwicklungen um Bailey kennt, jäh ins Gespenstische: der Biograph als Wiedergänger des Biographierten, ein Doppelspiegelspiel über dem Abgrund. Wenn man sein Buch mit etwas Abstand zu dem Aufruhr liest, drängt sich daher am stärksten ein Gedanke auf: Das muss alles gerothet werden! So bleibt zum Ende nur Bedauern, dass Philip Roth uns diesen Roman nicht mehr schreiben wird. TOBIAS DÖRING
Blake Bailey: "Philip Roth". Biographie.
Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren und Thomas Gunkel. Hanser Verlag, München 2023. 1040 S., geb., 58,- Euro.
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