In Philip und die anderen erzählt Cees Nooteboom die Geschichte eines jungen Mannes, der, einem traumhaften chinesischen Mädchen auf der Spur, quer durch Europa trampt, von Bekanntschaft zu Bekanntschaft eilt und in den Jugendherbergen und auf den Straßen seine »Schule des Lebens« besucht. In sieben Kapiteln entfaltet der ...
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.06.2003Per Anhalter durch die Seele
Cees Nootebooms furioses Debüt in neuer Übersetzung
Es geschieht nicht alle Tage, daß das Buch eines lebenden Autors komplett neu ins Deutsche übersetzt wird. Bei Cees Nootebooms "Philip und die anderen" ist der Grund schon am Titel ersichtlich: Als der kleine Roman 1958 in der Übersetzung von Georg Tichy erschien, hieß er fälschlich "Das Paradies ist nebenan". Offenbar hatte man damals dem auffällig nüchternen Titel wenig getraut und ihn durch eine optimistische Verheißung ersetzt. Das Buch wurde seinerzeit in Deutschland recht freundlich aufgenommen, in den Niederlanden machte es Furore, weil der blutjunge Nooteboom - Anfang Zwanzig bei der Niederschrift - mit der realistisch-sachlichen Erzähltradition seiner Landessprache brach und den romantischen Träumer ins berechenbare Land der Polder und Deiche einführte. Ganz ähnlich war es zeitgleich Harry Mulisch mit seinem pikaresken Erstling "Archibald Strohhalm" ergangen.
Die Geschichte Nootebooms als Autor ist nicht frei von Merkwürdigkeiten. Als er dem furiosen Debüt nichts Vergleichbares folgen ließ und sich vorzugsweise dem Genre der Reiseliteratur zuwandte, geriet er in seiner Heimat beinahe in Vergessenheit. Es kam mit dem Boom niederländischer Autoren nach 1990 zu seiner Wiederentdeckung - freilich erst einmal in Deutschland, wo er nach der Übersetzung des fernöstlich angehauchten Romans "Rituale" Stipendien, gezielte Förderung durch seinen Verleger und enthusiastische Kritiker fand. Nooteboom, der auch heute in seiner Heimat nicht zu den wichtigsten Schriftstellern gezählt wird, machte Karriere bei und mit den ungeliebten Nachbarn im Osten. Und die sollen seinen Erstling nun in einer zeitgemäßen, weniger gestelzten und unbeholfenen Fassung lesen.
Schon allein als Dokument verdient "Philip und die anderen" diese Wertschätzung durch Nootebooms gewohnt stilsichere Übersetzerin Helga van Beuningen. Inzwischen gelten bei der heiklen Übertragung aus dem Niederländischen - die Sprache ist zu verwandt für eine Neuerfindung und viel zu fremd für Linearübertragung - härtere Qualitätskriterien als vor der Entdeckung von Autoren wie Mulisch, Van der Heijden, De Winter, De Moor und eben Nooteboom selbst. Zu bewundern ist die traumverlorene Fabulierkunst eines offenbar leicht depressiven, dabei immer neugierigen Spätpubertären, dem der Krieg die Kindheit geraubt und die Jugend mit Armut beschwert hatte. Nootebooms Erzähler Philip Emanuel Vanderley tut im Grunde nichts anderes, als die Wirrnisse einer Trampfahrt durch Europa nachzuerzählen - einer kargen Grand Tour per Anhalter, zu der damals viele Generationsgenossen aufgebrochen sind.
Paris, Calais, Kopenhagen, Brüssel, Südfrankreich, Stockholm - diese Etappenziele verschwimmen wie im Weichzeichner eines Schwarzweißfilms und bilden doch den Rahmen dessen, was bald darauf das zusammenwachsende Europa werden sollte. Es geht um die Sehnsucht nach einem unerreichbaren, ziemlich spleenigen Mädchen asiatischen Zuschnitts, um Welterklärungsgespräche mit dem weggelaufenen deutschen Mönch und Epileptiker Heinz, um die Ortlosigkeit von verregneten Landstraßen und die Brummigkeit von übermüdeten Lastwagenfahrern. In Wahrheit ist diese romantische Reise natürlich eine Tour zum Ich, das nach dem Ende seiner kindlichen Gewißheiten nicht so recht weiterweiß. Nooteboom hatte eine katholische Schule, hatte Besatzung und das Wissen um die Greuel der Ideologien hinter sich, er suchte seinen Weg jenseits der spießigen Wiederaufbaunormalität, und er war zu wach, um nun einfach frohgemut draufloszuleben.
Darum wohl und aus zeittypischer Keuschheit vor der sexuellen Revolution bleiben seine Erlebnisse mit Mädchen - etwa der lebenslustigen Irin Vivien auf dem Zeltplatz von Paris - erstaunlich platonisch. Doch Philip will es auch nicht anders, denn er hat sich zurechtgelegt, daß für ihn, den jungen, schönen Melancholiker, das Leben anderswo abläuft: "Ich habe meine Zeit damit verbracht, Abschied zu nehmen und mich zu erinnern und Adressen in meinen Notizbüchern zu sammeln, wie kleine Grabsteine." Für ein Erstsemester im Studium des Lebens klingt das erstaunlich altersmüde und weist auch auf Nootebooms dann folgende Schreibkrise hin, die er recht eigentlich erst im Alter überwinden konnte.
Einzige wirklich konturierte Figur des Buches ist der wunderliche Onkel Alexander, den der Junge anfangs und am Ende besucht, ein schwuler Musikliebhaber, mit dem gemeinsam er auf dem Zauberfunken in jedem Alltag insistiert, und von dem er die trotzige Gewißheit lernt, das Paradies liege immer ganz dicht neben der ernüchternden Wirklichkeit. Wem diese Philosophie zu sehr nach dem bemühten Kunstmärchenton von Saint-Exupérys "Kleinem Prinzen" klingt (und der spätere Nooteboom gehört selbst zu diesen Skeptikern), der liegt nicht verkehrt. Doch trotz aller Einwände gegen die manchmal etwas rührselige Unschärfe gewisser Passagen bewahrt sich der jugendliche Geniestreich große Frische. Leser wie der Philosoph Rüdiger Safranski, der das Nachwort beisteuerte, machte als Altersgenosse aus der ersten Übersetzung, die also gar so übel nicht war, ein Lebensbuch und schöpfte aus diesem existentialistischen Märchen, wie er launig erzählt, bis heute Kraft und Spaß.
Des jungen Nooteboom Mantra "Jeder kann spielen" führt gutwillige Leser dann auch zurück in eine romantische Weltsicht, die mancher als Jugendlicher selbst gehegt haben mag: Es ist die Phase der Suche nach Liebe mit dem keimenden Wissen um die Beliebigkeit und die Endlichkeit der Liebe. Und beim Umkreisen dieser Erkenntnis reiht sich Nooteboom durchaus ein in die Tradition der hintersinnigen romantischen Unschuldsprosa seit Eichendorffs "Taugenichts". Bei Nooteboom wird freilich längst nicht alles, alles gut, sondern alles geht aus, wie es muß: Das Mädchen zieht seiner Wege, die Reise geht zu Ende, das Leben wartet weiter. Und Philips Zukunft wurde zu dem, was heute Cees Nootebooms Vergangenheit ist: eine Erfolgsgeschichte.
DIRK SCHÜMER
Cees Nooteboom: "Philip und die anderen". Roman. Aus dem Niederländischen übersetzt von Helga van Beuningen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 168 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Cees Nootebooms furioses Debüt in neuer Übersetzung
Es geschieht nicht alle Tage, daß das Buch eines lebenden Autors komplett neu ins Deutsche übersetzt wird. Bei Cees Nootebooms "Philip und die anderen" ist der Grund schon am Titel ersichtlich: Als der kleine Roman 1958 in der Übersetzung von Georg Tichy erschien, hieß er fälschlich "Das Paradies ist nebenan". Offenbar hatte man damals dem auffällig nüchternen Titel wenig getraut und ihn durch eine optimistische Verheißung ersetzt. Das Buch wurde seinerzeit in Deutschland recht freundlich aufgenommen, in den Niederlanden machte es Furore, weil der blutjunge Nooteboom - Anfang Zwanzig bei der Niederschrift - mit der realistisch-sachlichen Erzähltradition seiner Landessprache brach und den romantischen Träumer ins berechenbare Land der Polder und Deiche einführte. Ganz ähnlich war es zeitgleich Harry Mulisch mit seinem pikaresken Erstling "Archibald Strohhalm" ergangen.
Die Geschichte Nootebooms als Autor ist nicht frei von Merkwürdigkeiten. Als er dem furiosen Debüt nichts Vergleichbares folgen ließ und sich vorzugsweise dem Genre der Reiseliteratur zuwandte, geriet er in seiner Heimat beinahe in Vergessenheit. Es kam mit dem Boom niederländischer Autoren nach 1990 zu seiner Wiederentdeckung - freilich erst einmal in Deutschland, wo er nach der Übersetzung des fernöstlich angehauchten Romans "Rituale" Stipendien, gezielte Förderung durch seinen Verleger und enthusiastische Kritiker fand. Nooteboom, der auch heute in seiner Heimat nicht zu den wichtigsten Schriftstellern gezählt wird, machte Karriere bei und mit den ungeliebten Nachbarn im Osten. Und die sollen seinen Erstling nun in einer zeitgemäßen, weniger gestelzten und unbeholfenen Fassung lesen.
Schon allein als Dokument verdient "Philip und die anderen" diese Wertschätzung durch Nootebooms gewohnt stilsichere Übersetzerin Helga van Beuningen. Inzwischen gelten bei der heiklen Übertragung aus dem Niederländischen - die Sprache ist zu verwandt für eine Neuerfindung und viel zu fremd für Linearübertragung - härtere Qualitätskriterien als vor der Entdeckung von Autoren wie Mulisch, Van der Heijden, De Winter, De Moor und eben Nooteboom selbst. Zu bewundern ist die traumverlorene Fabulierkunst eines offenbar leicht depressiven, dabei immer neugierigen Spätpubertären, dem der Krieg die Kindheit geraubt und die Jugend mit Armut beschwert hatte. Nootebooms Erzähler Philip Emanuel Vanderley tut im Grunde nichts anderes, als die Wirrnisse einer Trampfahrt durch Europa nachzuerzählen - einer kargen Grand Tour per Anhalter, zu der damals viele Generationsgenossen aufgebrochen sind.
Paris, Calais, Kopenhagen, Brüssel, Südfrankreich, Stockholm - diese Etappenziele verschwimmen wie im Weichzeichner eines Schwarzweißfilms und bilden doch den Rahmen dessen, was bald darauf das zusammenwachsende Europa werden sollte. Es geht um die Sehnsucht nach einem unerreichbaren, ziemlich spleenigen Mädchen asiatischen Zuschnitts, um Welterklärungsgespräche mit dem weggelaufenen deutschen Mönch und Epileptiker Heinz, um die Ortlosigkeit von verregneten Landstraßen und die Brummigkeit von übermüdeten Lastwagenfahrern. In Wahrheit ist diese romantische Reise natürlich eine Tour zum Ich, das nach dem Ende seiner kindlichen Gewißheiten nicht so recht weiterweiß. Nooteboom hatte eine katholische Schule, hatte Besatzung und das Wissen um die Greuel der Ideologien hinter sich, er suchte seinen Weg jenseits der spießigen Wiederaufbaunormalität, und er war zu wach, um nun einfach frohgemut draufloszuleben.
Darum wohl und aus zeittypischer Keuschheit vor der sexuellen Revolution bleiben seine Erlebnisse mit Mädchen - etwa der lebenslustigen Irin Vivien auf dem Zeltplatz von Paris - erstaunlich platonisch. Doch Philip will es auch nicht anders, denn er hat sich zurechtgelegt, daß für ihn, den jungen, schönen Melancholiker, das Leben anderswo abläuft: "Ich habe meine Zeit damit verbracht, Abschied zu nehmen und mich zu erinnern und Adressen in meinen Notizbüchern zu sammeln, wie kleine Grabsteine." Für ein Erstsemester im Studium des Lebens klingt das erstaunlich altersmüde und weist auch auf Nootebooms dann folgende Schreibkrise hin, die er recht eigentlich erst im Alter überwinden konnte.
Einzige wirklich konturierte Figur des Buches ist der wunderliche Onkel Alexander, den der Junge anfangs und am Ende besucht, ein schwuler Musikliebhaber, mit dem gemeinsam er auf dem Zauberfunken in jedem Alltag insistiert, und von dem er die trotzige Gewißheit lernt, das Paradies liege immer ganz dicht neben der ernüchternden Wirklichkeit. Wem diese Philosophie zu sehr nach dem bemühten Kunstmärchenton von Saint-Exupérys "Kleinem Prinzen" klingt (und der spätere Nooteboom gehört selbst zu diesen Skeptikern), der liegt nicht verkehrt. Doch trotz aller Einwände gegen die manchmal etwas rührselige Unschärfe gewisser Passagen bewahrt sich der jugendliche Geniestreich große Frische. Leser wie der Philosoph Rüdiger Safranski, der das Nachwort beisteuerte, machte als Altersgenosse aus der ersten Übersetzung, die also gar so übel nicht war, ein Lebensbuch und schöpfte aus diesem existentialistischen Märchen, wie er launig erzählt, bis heute Kraft und Spaß.
Des jungen Nooteboom Mantra "Jeder kann spielen" führt gutwillige Leser dann auch zurück in eine romantische Weltsicht, die mancher als Jugendlicher selbst gehegt haben mag: Es ist die Phase der Suche nach Liebe mit dem keimenden Wissen um die Beliebigkeit und die Endlichkeit der Liebe. Und beim Umkreisen dieser Erkenntnis reiht sich Nooteboom durchaus ein in die Tradition der hintersinnigen romantischen Unschuldsprosa seit Eichendorffs "Taugenichts". Bei Nooteboom wird freilich längst nicht alles, alles gut, sondern alles geht aus, wie es muß: Das Mädchen zieht seiner Wege, die Reise geht zu Ende, das Leben wartet weiter. Und Philips Zukunft wurde zu dem, was heute Cees Nootebooms Vergangenheit ist: eine Erfolgsgeschichte.
DIRK SCHÜMER
Cees Nooteboom: "Philip und die anderen". Roman. Aus dem Niederländischen übersetzt von Helga van Beuningen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 168 S., geb., 19,90 [Euro].
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»Bereits sein erster Roman ist eine Reise gegen die Zeit, ein romantisches Märchen von durchtriebener Naivität. ... Als Reisende in Nootebooms Büchern können wir lernen, dass der Moment, in dem wir uns ... in einem Raum orientieren müssen, eine Geistesverfassung ist, mit der man dem Leben ganz gut begegnen kann.« Andrea Köhler Neue Zürcher Zeitung 20030803