Ein Franzose 1930 in Magdeburg: Das vorurteilslose, scharfsinnige, komische und tragische Porträt eines Landes vor dem Untergang. Sein Autor Jacques Decour: in Deutschland unbekannt - in Frankreich ebenso. Diese Geschichte kann sich keiner ausdenken - ein junger, wacher Franzose kommt als Austauschlehrer in die preußische Stadt, findet die Autoritäten ziemlich lächerlich aber den Nazi von nebenan ziemlich interessant. Und doch erkennt der junge Mann, was kommt, was kommen muss. »Entschlossen, alles, was ihm begegnet, ganz sachlich zu beobachten, meidet er die Vorurteile, die sich gewöhnlich in die Betrachtung des deutschen Lebens mischen. Er hütet sich davor, wie ein Tourist auf seinem Weg immer bloß das vorfinden zu wollen, was er sich vor der Abreise vorgestellt hat.« (Louis Aragon) Der junge Mann nennt sich Jacques Decour und die Erzählung, in der er aus Magdeburg berichtet, nennt er »Philisterburg«. Er schreibt über Deutschland, wie einer, der das Land noch nicht kennt, aber doch dessen Literatur, ihren »Humanismus«, liebt und immer lieben wird. Er ist offen, subjektiv, leidenschaftlich und doch nicht festgelegt oder einseitig. Der in Tagebuchform geschriebene Text entwickelt Gedanken, unterzieht sie scharfer Kritik, verwirft oder verbessert sie, rekapituliert, resümiert: »Philisterburg« zeigt die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Schreiben. Dank seiner Unbestechlichkeit erkennt Jacques Decour, wie groß die Gefahr ist, die sich zusammenbraut. Es ist diese schonungslose Wahrheitstreue, die bei Erscheinen der Erzählung 1932 in Frankreich wütende Abwehr hervorruft. Nur ein Jahr später sind seine Kritiker widerlegt, aber dann ist von diesem Buch auch schon keine Rede mehr. Jacques Decour (1910-1942) hieß mit bürgerlichem Namen Daniel Decourdemanche und stammte aus Paris, studierte Deutsch, übersetzte - und arbeitete als Lehrer ein Jahr lang in Magdeburg, bevor er in Paris unterrichtete. Er ist zusammen mit Jean Paulhan 1942 Begründer der berühmten Résistance-Zeitschrift »Les Lettres francaises« im besetzten Frankreich. Im gleichen Jahr wird er von der französischen Polizei an die Gestapo ausgeliefert, gefoltert und erschossen. Sein Abschiedsbrief ist ein berührendes Dokument.
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Die langweilige, weltabgewandte Provinz ist ein altes Klischee, das wieder in Mode zu kommen scheint, meint Christoph Buch. Umso mehr freut er sich über zwei Bücher, die mit ihm brechen: Jacques Decours "Philisterburg" und Bernd Wagners "Die Straße kräht Coqui", die sich beide an Magdeburg abarbeiten. Decours Tagebuch aus dem Herbst 1930, in dem sich der Zwanzigjährige als Französischlehrer in Deutschland verdingen wollte, schildert den "erlebten Alltag in der Endphase der Weimarer Republik": junge Nazis, die Heine nicht lesen wollen, weil er Jude war, kommen genauso vor wie die Leberwurstbrote im Lehrerzimmer, berichtet der Rezensent. Decour starb schließlich 1942 als Märtyrer der Résistance, verrät Buch noch.
© Perlentaucher Medien GmbH
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