Die Oktoberrevolution war nicht irgendein Ereignis. Sie hat das 20. Jahrhundert tiefgreifend geprägt. Und auch unsere eigene Zeit, die mit dem Ende des Ost-West-Konflikts aus dem Schatten des Roten Oktobers herausgetreten ist, bleibt unterschwellig auf sie bezogen. Die Alternativlosigkeit der Gegenwart wirkt wie der Nachhall der untergegangenen Alternative – und verweist damit auf 1917. In seinem luziden Buch widmet sich Gunnar Hindrichs der philosophischen Deutung der Revolution im Gesamthorizont europäischer Revolutionen.
Er vertritt die These, dass die Revolution die Regeln unseres Handelns neu setzt und dadurch den Unterschied zwischen Natur und Handeln markiert. Um diese These zu begründen, werden rechtsphilosophische, handlungstheoretische, ästhetische und theologische Konzeptionen des revolutionären Denkens untersucht, von den Schriften Sorels, Lenins und Trotzkis, dem Futurismus Chlebnikovs und Tretjakows bis zu Prophetentum und Apokalyptik. Auf diesem Weg gewinnt Hindrichs vier Explikate, die die Revolution verständlich werden lassen: ihr Recht, ihre Macht, ihre Schönheit und ihr Gott.
Er vertritt die These, dass die Revolution die Regeln unseres Handelns neu setzt und dadurch den Unterschied zwischen Natur und Handeln markiert. Um diese These zu begründen, werden rechtsphilosophische, handlungstheoretische, ästhetische und theologische Konzeptionen des revolutionären Denkens untersucht, von den Schriften Sorels, Lenins und Trotzkis, dem Futurismus Chlebnikovs und Tretjakows bis zu Prophetentum und Apokalyptik. Auf diesem Weg gewinnt Hindrichs vier Explikate, die die Revolution verständlich werden lassen: ihr Recht, ihre Macht, ihre Schönheit und ihr Gott.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.11.2017Wo bitte brennt der nächste Dornbusch?
Ohne alle Regeln: Gunnar Hindrichs versucht sich an einer Bestimmung revolutionären Handelns
Wenn Historiker vom Zeitalter der Revolutionen sprechen, meinen sie jenen Zeitraum, der 1789 begann und irgendwann im zwanzigsten Jahrhundert endete. In diese Epoche fallen Ereignisse wie die Enthauptung Ludwigs des XVI., die Absetzung der Provisorischen Regierung durch Trotzki oder Andreas Baaders Kaufhausbrandstiftung mit Gudrun Ensslin. Den Baseler Philosophen Gunnar Hindrichs interessieren solche Einzelheiten nur am Rande. In seinem Buch geht es auch nicht um einzelne Revolutionen, sondern um das revolutionäre Handeln an sich. Hindrichs bestimmt es höchst formal: Handeln ist im Normalfall Handeln nach Regeln. Das gilt sogar dann, wenn sie negiert und also verletzt werden. Dagegen markiere das revolutionäre Handeln das "Diskontinuum, das die stetige Evolution von Regeln unterbricht". Es befolgt keine Regel und geht auch nicht im Regelbruch auf. Es setzt die Handlungsregeln im Handeln neu. Das bedeutet: Revolution ist absolute Autonomie. In der Revolution sind Regelsetzung und Regelbefolgung eins.
Es ist Hindrichs zuzugeben, dass dieser Revolutionsbegriff die meisten Schwierigkeiten vermeidet, die man gewöhnlich mit ihm hat. Die Frage ist natürlich, was er eigentlich erklärt. Die in der politischen Theorie der Neuzeit am intensivsten durchgearbeitete Möglichkeit, die Revolution zu denken, besteht in einem Recht auf Revolution, das seinem Träger den Abbruch aller Regelbefolgung erlaubt. Doch eine Rechtstheorie der Revolution bleibt in Hindrichs Modell logischerweise zirkulär: Handeln nach einem Recht ist keine absolute Setzung. Auch die revolutionäre Rechterzeugung bleibt ein Rechtsakt.
Die Revolutionstheoretiker des zwanzigsten Jahrhunderts, Georges Sorel, Carl Schmitt, Lenin oder Georg Lukács, haben deshalb die revolutionäre Gewalt an die Stelle des Rechts gesetzt. Auch sie aber kann nicht ohne die Befolgung von Regeln gedacht werden, denn revolutionäres Handeln ist ja immer Handeln einer Gruppe, das deswegen notwendig nach gemeinsamen Handlungsregeln ablaufen muss. In Schmitts berühmter Definition der Souveränität - "Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet" - läge der Denkfehler folglich im versteckten Cäsarismus des Relativpronomens "wer".
Schon gar nicht durchbricht das Kontinuum der Regeln, wer sie bloß verneint. Mit diesem Gedanken kritisiert Hindrichs Lenins Konzept des revolutionären Staates, aber auch das Selbstverständnis der RAF-Terroristen. Sie erscheinen bei Hindrichs als rührende deutsche Pfarrhauskinder, die Strafverfolgung und Haft gesinnungsstolz zu Kriterien ihres revolutionären Handelns machten und deshalb über den negativen Bezug auf die bürgerlichen Handlungsregeln nicht hinauskamen.
So weiß man nach gut der Hälfte des Buches, was die handlungstheoretische Prämisse ohnedies schon enthielt: Eine politische Philosophie der Revolution gibt es nicht. Die Suspendierung jeder Regel kann nur in der Kunst vorkommen - oder als Offenbarung des einen Gottes. Nicht aber etwa schon in Richard Wagners revolutionärem Bühnenfestspiel, sondern erst in der Produktionskunst der russischen Avantgarde, in der der "Vorschein des Utopischen" den "hegemonialen Gemeinsinn" aller Handlungsregeln übersteigt.
Was die Offenbarung betrifft, so hat der amerikanische Philosoph Michael Walzer das Exodusgeschehen schon vor mehr als dreißig Jahren als Urszene europäischer Revolutionen gedeutet. Erfüllt es die Kriterien von Hindrichs Revolutionsbegriff? Konstituiert sich das revolutionäre Subjekt im Bund mit Gott tatsächlich in der Diskontinuität aller Handlungsregeln der Knechtschaft, die den innerweltlichen Ausgriff auf das ganz Neue schafft? Hindrichs verweist dafür auf den brennenden Dornbusch: Gott erklärt seinen Namen selbst, der sich noch dazu jeder bestimmbaren Bedeutung entzieht: "Dieses zentrale Sinnlose ist der Name Gottes. Indem man ihn als eine Kombination von Buchstaben betrachtet, zieht er sich auf eine reine Buchstabenfolge zusammen und löst sich von allem endlichen Sinn ab."
An dieser Stelle gestattet sich Hindrichs in einer Fußnote die einzige Bemerkung zur Gegenwart. Der aus Palästina stammende Literaturtheoretiker Edward Saïd hatte gegen Walzer darauf hingewiesen, dass jener revolutionäre Bund einen ausgeschlossenen Dritten kennt, nämlich die Bewohner Kanaans. Hindrichs weist diese Kritik entschieden zurück. Sie verfehle den revolutionären Sinn des Exodus. Wenn die Revolution alle Handlungsregeln neu setzt, dann auch die Identitäten der Revolutionsopfer und Konterrevolutionäre. So greift er die heutige Fixierung der Linken auf Identitäts- und Exklusionsfragen als Revolutionsvergessenheit an, die zwangsläufig im "statutarischem Moralismus" einer Politik der Minderheiten und der Lebensformen ende.
Nun ist Hindrichs natürlich nicht der Erste, der der Linken seit Trump die Ersetzung von Makropolitik durch moralische Mikropolitiken vorhält. Die Frage ist aber, ob sich der Vorwurf mit einer Philosophie der Revolution begründen lässt. So stellt sich am Ende doch unvermeidlich die Frage, die das Buch vermeidet: Sind heutige Gesellschaften revolutionierbar? Ist die Revolution nicht doch ein konkreter, an eine bestimmte Epoche gebundener Begriff?
Dazu hätte Hindrichs sich mit dem Problem der legalen Revolution beschäftigen müssen. Sie kommt bei ihm natürlich nicht vor, weil eine legale Revolution durch das Kontinuum der Regeln geradezu definiert ist. Aber ist das wirklich so klar? Wird die legale Revolution nicht gerade darum mit Recht als Revolution bezeichnet, weil sie unter anderen, nämlich modernen Bedingungen die Handlungsregeln fundamental neu setzt, also die "stetige Evolution von Regeln unterbricht"? Hindrichs verstellt sich diese Fragen durch einen arg konventionellen rechtstheoretischen Gegensatz zwischen Legalität und Legitimität, also zwischen dem Gesetz und seiner normativen Begründung.
Nun ist es freilich gerade die Pointe des Legalitätsbegriffs bei Weber und Lukács, dass er der Name für eine Sache, nämlich für die Bürokratie ist. In dem Maße, in dem die Bürokratie unhintergehbar wird, verliert jener Gegensatz aber seine Bedeutung und wird, wie Carl Schmitt das 1963 genannt hat, zu einer "billigen Antithese". Nach Marx ist aber die Aufhebung der Bürokratie ein Formelement der Revolution; Hindrichs weist selbst darauf hin. Wie hätte man sich das heute vorzustellen? So spricht am Ende doch viel für die Revolution als einen Epochenbegriff, der jene Zeit umfasst, in der die rationale Bürokratie schon stark genug war, um Handlungsregeln zu setzen, und noch schwach genug, um aufhebbar zu sein.
FLORIAN MEINEL
Gunnar Hindrichs: "Philosophie der Revolution".
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 395 S., geb., 29,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ohne alle Regeln: Gunnar Hindrichs versucht sich an einer Bestimmung revolutionären Handelns
Wenn Historiker vom Zeitalter der Revolutionen sprechen, meinen sie jenen Zeitraum, der 1789 begann und irgendwann im zwanzigsten Jahrhundert endete. In diese Epoche fallen Ereignisse wie die Enthauptung Ludwigs des XVI., die Absetzung der Provisorischen Regierung durch Trotzki oder Andreas Baaders Kaufhausbrandstiftung mit Gudrun Ensslin. Den Baseler Philosophen Gunnar Hindrichs interessieren solche Einzelheiten nur am Rande. In seinem Buch geht es auch nicht um einzelne Revolutionen, sondern um das revolutionäre Handeln an sich. Hindrichs bestimmt es höchst formal: Handeln ist im Normalfall Handeln nach Regeln. Das gilt sogar dann, wenn sie negiert und also verletzt werden. Dagegen markiere das revolutionäre Handeln das "Diskontinuum, das die stetige Evolution von Regeln unterbricht". Es befolgt keine Regel und geht auch nicht im Regelbruch auf. Es setzt die Handlungsregeln im Handeln neu. Das bedeutet: Revolution ist absolute Autonomie. In der Revolution sind Regelsetzung und Regelbefolgung eins.
Es ist Hindrichs zuzugeben, dass dieser Revolutionsbegriff die meisten Schwierigkeiten vermeidet, die man gewöhnlich mit ihm hat. Die Frage ist natürlich, was er eigentlich erklärt. Die in der politischen Theorie der Neuzeit am intensivsten durchgearbeitete Möglichkeit, die Revolution zu denken, besteht in einem Recht auf Revolution, das seinem Träger den Abbruch aller Regelbefolgung erlaubt. Doch eine Rechtstheorie der Revolution bleibt in Hindrichs Modell logischerweise zirkulär: Handeln nach einem Recht ist keine absolute Setzung. Auch die revolutionäre Rechterzeugung bleibt ein Rechtsakt.
Die Revolutionstheoretiker des zwanzigsten Jahrhunderts, Georges Sorel, Carl Schmitt, Lenin oder Georg Lukács, haben deshalb die revolutionäre Gewalt an die Stelle des Rechts gesetzt. Auch sie aber kann nicht ohne die Befolgung von Regeln gedacht werden, denn revolutionäres Handeln ist ja immer Handeln einer Gruppe, das deswegen notwendig nach gemeinsamen Handlungsregeln ablaufen muss. In Schmitts berühmter Definition der Souveränität - "Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet" - läge der Denkfehler folglich im versteckten Cäsarismus des Relativpronomens "wer".
Schon gar nicht durchbricht das Kontinuum der Regeln, wer sie bloß verneint. Mit diesem Gedanken kritisiert Hindrichs Lenins Konzept des revolutionären Staates, aber auch das Selbstverständnis der RAF-Terroristen. Sie erscheinen bei Hindrichs als rührende deutsche Pfarrhauskinder, die Strafverfolgung und Haft gesinnungsstolz zu Kriterien ihres revolutionären Handelns machten und deshalb über den negativen Bezug auf die bürgerlichen Handlungsregeln nicht hinauskamen.
So weiß man nach gut der Hälfte des Buches, was die handlungstheoretische Prämisse ohnedies schon enthielt: Eine politische Philosophie der Revolution gibt es nicht. Die Suspendierung jeder Regel kann nur in der Kunst vorkommen - oder als Offenbarung des einen Gottes. Nicht aber etwa schon in Richard Wagners revolutionärem Bühnenfestspiel, sondern erst in der Produktionskunst der russischen Avantgarde, in der der "Vorschein des Utopischen" den "hegemonialen Gemeinsinn" aller Handlungsregeln übersteigt.
Was die Offenbarung betrifft, so hat der amerikanische Philosoph Michael Walzer das Exodusgeschehen schon vor mehr als dreißig Jahren als Urszene europäischer Revolutionen gedeutet. Erfüllt es die Kriterien von Hindrichs Revolutionsbegriff? Konstituiert sich das revolutionäre Subjekt im Bund mit Gott tatsächlich in der Diskontinuität aller Handlungsregeln der Knechtschaft, die den innerweltlichen Ausgriff auf das ganz Neue schafft? Hindrichs verweist dafür auf den brennenden Dornbusch: Gott erklärt seinen Namen selbst, der sich noch dazu jeder bestimmbaren Bedeutung entzieht: "Dieses zentrale Sinnlose ist der Name Gottes. Indem man ihn als eine Kombination von Buchstaben betrachtet, zieht er sich auf eine reine Buchstabenfolge zusammen und löst sich von allem endlichen Sinn ab."
An dieser Stelle gestattet sich Hindrichs in einer Fußnote die einzige Bemerkung zur Gegenwart. Der aus Palästina stammende Literaturtheoretiker Edward Saïd hatte gegen Walzer darauf hingewiesen, dass jener revolutionäre Bund einen ausgeschlossenen Dritten kennt, nämlich die Bewohner Kanaans. Hindrichs weist diese Kritik entschieden zurück. Sie verfehle den revolutionären Sinn des Exodus. Wenn die Revolution alle Handlungsregeln neu setzt, dann auch die Identitäten der Revolutionsopfer und Konterrevolutionäre. So greift er die heutige Fixierung der Linken auf Identitäts- und Exklusionsfragen als Revolutionsvergessenheit an, die zwangsläufig im "statutarischem Moralismus" einer Politik der Minderheiten und der Lebensformen ende.
Nun ist Hindrichs natürlich nicht der Erste, der der Linken seit Trump die Ersetzung von Makropolitik durch moralische Mikropolitiken vorhält. Die Frage ist aber, ob sich der Vorwurf mit einer Philosophie der Revolution begründen lässt. So stellt sich am Ende doch unvermeidlich die Frage, die das Buch vermeidet: Sind heutige Gesellschaften revolutionierbar? Ist die Revolution nicht doch ein konkreter, an eine bestimmte Epoche gebundener Begriff?
Dazu hätte Hindrichs sich mit dem Problem der legalen Revolution beschäftigen müssen. Sie kommt bei ihm natürlich nicht vor, weil eine legale Revolution durch das Kontinuum der Regeln geradezu definiert ist. Aber ist das wirklich so klar? Wird die legale Revolution nicht gerade darum mit Recht als Revolution bezeichnet, weil sie unter anderen, nämlich modernen Bedingungen die Handlungsregeln fundamental neu setzt, also die "stetige Evolution von Regeln unterbricht"? Hindrichs verstellt sich diese Fragen durch einen arg konventionellen rechtstheoretischen Gegensatz zwischen Legalität und Legitimität, also zwischen dem Gesetz und seiner normativen Begründung.
Nun ist es freilich gerade die Pointe des Legalitätsbegriffs bei Weber und Lukács, dass er der Name für eine Sache, nämlich für die Bürokratie ist. In dem Maße, in dem die Bürokratie unhintergehbar wird, verliert jener Gegensatz aber seine Bedeutung und wird, wie Carl Schmitt das 1963 genannt hat, zu einer "billigen Antithese". Nach Marx ist aber die Aufhebung der Bürokratie ein Formelement der Revolution; Hindrichs weist selbst darauf hin. Wie hätte man sich das heute vorzustellen? So spricht am Ende doch viel für die Revolution als einen Epochenbegriff, der jene Zeit umfasst, in der die rationale Bürokratie schon stark genug war, um Handlungsregeln zu setzen, und noch schwach genug, um aufhebbar zu sein.
FLORIAN MEINEL
Gunnar Hindrichs: "Philosophie der Revolution".
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 395 S., geb., 29,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Eine hervorragende philosophische Studie über die Notwendigkeit der Revolution.« Detlef Kannapin junge Welt 20180121