Die Universitätsphilosophie als Produktionsstätte dessen, was wir für Philosophie halten, ist bislang nicht erforscht worden, wohl aus dem Vorurteil heraus, es gäbe keine philosophische Praxis, die nicht in den Idealen der Disziplin selbst vorgezeichnet sei. Die enorme Bedeutung der Universität für die Philosophie liegt darin, dass auch noch die Dissidenten der Disziplin Vorlesungen und Seminare besucht haben, dass niemand an dem Begriff von Philosophie vorbeigehen kann, der dort immer wieder neu als lernbares Wissen zugerichtet wird: Seit dem 19. Jahrhundert läßt sich für Philosophen die Universität so wenig vermeiden wie für Musiker das Orchester. Existentiell, aber auch praktisch und disziplinär ist die Arbeit in der Universität mehr als ein Mittel zum Zweck der Philosophie, sie ist deren Bedingung.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.12.2000Ach so, sie wurden Professoren
Werktagträumer: Ulrich Johannes Schneider erklärt, warum aus der Philosophie im neunzehnten Jahrhundert etwas anderes wurde
Die wenigsten modernen Philosophen haben sich, wie einst der Brillenschleifer Spinoza, eine unabhängige Existenz durch ein ehrliches Handwerk gesichert. In der Regel sind die Philosophen des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts von Beruf Universitätsprofessoren. Von ihnen stammen fast alle neueren Darstellungen der Philosophiegeschichte, und auch ihr akademischer Unterricht dreht sich vorrangig um die Texte der großen Philosophen der Vergangenheit. Dabei geht es um philosophische Ideen, aber kaum einmal um die Universität selbst als den Ort, an dem in der Praxis von Forschung und Lehre Philosophie produziert wird. Mit einem bemerkenswerten Buch will Ulrich Johannes Schneider diese Einseitigkeit überwinden.
Vor 1800, so Schneider, galt die Philosophie überwiegend der Verwaltung von Überlieferung und einer durch Textstudien vorbereiteten gelehrten Kritik; eigene philosophische Ideen schlugen sich weniger im akademischen Unterricht als in Publikationen nieder. Die Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts dagegen habe sich als Leitwissenschaft der Universität verstanden; systematisierend und historisierend, habe sie in Forschung und Lehre das Wissen als Produkt von Methode begriffen und darum auch eine besondere Funktion für die Bildungsziele des Staates erlangt. Die Vorlesungsverzeichnisse neunzehn deutscher Universitäten von 1810 bis 1881 lassen einen relativ begrenzten Themenkanon des philosophischen Unterrichts erkennen. Das Auffälligste ist, daß die Zahl der Vorlesungen in Philosophiegeschichte auf das Fünffache stieg, dagegen in Ethik und Naturrecht im gleichen Maße sank.
An drei prominenten Beispielen, Samuel Taylor Coleridge in England, Victor Cousin in Frankreich und Hegel in Deutschland, führt Schneider Typen und Funktionen dessen vor, was es im achtzehnten Jahrhundert nur rudimentär gegeben hatte: philosophiehistorische Vorlesungen. Hier konnte der Dozent im Erzählen gestalten und bewerten. Auf dem Goldgrund der großen Denker der Vergangenheit kamen seine persönlichen Digressionen politischer, religiöser oder ethischer Art prächtig zur Wirkung. Die Philosophen nahmen sich das Recht, souverän aus der eigenen Position heraus über die Geschichte der Philosophie zu verfügen. Wie es von solcher Warte aus zu Fehldeutungen kommen konnte, wie überhaupt die Editions- und Kommentartätigkeit der Universitätsphilosophen funktionierte, demonstriert Schneider am Beispiel der Spinoza-Rezeption.
Anschließend führt eine Bibliographie von über dreihundert deutschen, englischen und französischen Philosophiegeschichten zwischen 1810 und 1899 das Ausmaß der Historisierung von Philosophie vor Augen. Die naheliegende Erklärung aus dem historischen Zeitgeist greift nach Schneider zu kurz. Er möchte hinter die Textfixiertheit der Universitätsphilosophie gelangen und die Ebene des universitären Alltags erschließen. Seine These lautet, daß die Universität selbst es sei, welche die Philosophen dazu bringe, ihr philosophisches Selbstverständnis eng mit einer von allen Spuren der Praxis gereinigten Philosophiegeschichte zu verknüpfen. Gute Argumente für die These sind allerdings schwer zu finden. So meint Schneider, daß die Philosophen die Geschichte des Unterrichts deshalb ausblenden, weil sie in ihren philosophiehistorischen Lehrveranstaltungen gerne "letzte Einsichten" vortragen, deren Glanz durch Hinweise auf den institutionellen Alltag matt zu werden drohe. Aber welcher Philosophiehistoriker in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts glaubte noch an "letzte Einsichten"?
Plausibler ist Schneiders Ansicht, daß die Historisierung eine "Hermeneutisierung" der Philosophie gewesen ist: Die Texte sollten nicht zu Relikten der Vergangenheit gestempelt werden, sondern in ihrer noch nicht aufgebrauchten Bedeutung neu verstanden werden. Dies ist der fruchtbare Gedanke der universitären Philosophie. Schneiders materialreiches, gut formuliertes Buch wird das Nachdenken über die historischen und institutionellen Bedingungen des Umgangs mit Philosophiegeschichte anregen und fördern. Daß künftige Darstellungen der Philosophiegeschichte verstärkt aus dem Sonntag der Spekulation in den Alltag des universitären Erwerbslebens hinabsteigen, ist allerdings nicht zu erwarten. Vielleicht ist es auch gar nicht zu wünschen. Denn was ist fesselnder als das pure, ernste Spiel der Gründe und der Gegengründe? Alles hat seine Zeit. Das Mediale hat gegenwärtig seinen Kairos. Aber es wird auch wieder eine Zeit der Inhalte anbrechen.
ROLAND KANY
Ulrich Johannes Schneider: "Philosophie und Universität". Historisierung der Vernunft im 19. Jahrhundert. Felix Meiner Verlag, Hamburg 1999. X, 405 S., br., 64,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Werktagträumer: Ulrich Johannes Schneider erklärt, warum aus der Philosophie im neunzehnten Jahrhundert etwas anderes wurde
Die wenigsten modernen Philosophen haben sich, wie einst der Brillenschleifer Spinoza, eine unabhängige Existenz durch ein ehrliches Handwerk gesichert. In der Regel sind die Philosophen des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts von Beruf Universitätsprofessoren. Von ihnen stammen fast alle neueren Darstellungen der Philosophiegeschichte, und auch ihr akademischer Unterricht dreht sich vorrangig um die Texte der großen Philosophen der Vergangenheit. Dabei geht es um philosophische Ideen, aber kaum einmal um die Universität selbst als den Ort, an dem in der Praxis von Forschung und Lehre Philosophie produziert wird. Mit einem bemerkenswerten Buch will Ulrich Johannes Schneider diese Einseitigkeit überwinden.
Vor 1800, so Schneider, galt die Philosophie überwiegend der Verwaltung von Überlieferung und einer durch Textstudien vorbereiteten gelehrten Kritik; eigene philosophische Ideen schlugen sich weniger im akademischen Unterricht als in Publikationen nieder. Die Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts dagegen habe sich als Leitwissenschaft der Universität verstanden; systematisierend und historisierend, habe sie in Forschung und Lehre das Wissen als Produkt von Methode begriffen und darum auch eine besondere Funktion für die Bildungsziele des Staates erlangt. Die Vorlesungsverzeichnisse neunzehn deutscher Universitäten von 1810 bis 1881 lassen einen relativ begrenzten Themenkanon des philosophischen Unterrichts erkennen. Das Auffälligste ist, daß die Zahl der Vorlesungen in Philosophiegeschichte auf das Fünffache stieg, dagegen in Ethik und Naturrecht im gleichen Maße sank.
An drei prominenten Beispielen, Samuel Taylor Coleridge in England, Victor Cousin in Frankreich und Hegel in Deutschland, führt Schneider Typen und Funktionen dessen vor, was es im achtzehnten Jahrhundert nur rudimentär gegeben hatte: philosophiehistorische Vorlesungen. Hier konnte der Dozent im Erzählen gestalten und bewerten. Auf dem Goldgrund der großen Denker der Vergangenheit kamen seine persönlichen Digressionen politischer, religiöser oder ethischer Art prächtig zur Wirkung. Die Philosophen nahmen sich das Recht, souverän aus der eigenen Position heraus über die Geschichte der Philosophie zu verfügen. Wie es von solcher Warte aus zu Fehldeutungen kommen konnte, wie überhaupt die Editions- und Kommentartätigkeit der Universitätsphilosophen funktionierte, demonstriert Schneider am Beispiel der Spinoza-Rezeption.
Anschließend führt eine Bibliographie von über dreihundert deutschen, englischen und französischen Philosophiegeschichten zwischen 1810 und 1899 das Ausmaß der Historisierung von Philosophie vor Augen. Die naheliegende Erklärung aus dem historischen Zeitgeist greift nach Schneider zu kurz. Er möchte hinter die Textfixiertheit der Universitätsphilosophie gelangen und die Ebene des universitären Alltags erschließen. Seine These lautet, daß die Universität selbst es sei, welche die Philosophen dazu bringe, ihr philosophisches Selbstverständnis eng mit einer von allen Spuren der Praxis gereinigten Philosophiegeschichte zu verknüpfen. Gute Argumente für die These sind allerdings schwer zu finden. So meint Schneider, daß die Philosophen die Geschichte des Unterrichts deshalb ausblenden, weil sie in ihren philosophiehistorischen Lehrveranstaltungen gerne "letzte Einsichten" vortragen, deren Glanz durch Hinweise auf den institutionellen Alltag matt zu werden drohe. Aber welcher Philosophiehistoriker in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts glaubte noch an "letzte Einsichten"?
Plausibler ist Schneiders Ansicht, daß die Historisierung eine "Hermeneutisierung" der Philosophie gewesen ist: Die Texte sollten nicht zu Relikten der Vergangenheit gestempelt werden, sondern in ihrer noch nicht aufgebrauchten Bedeutung neu verstanden werden. Dies ist der fruchtbare Gedanke der universitären Philosophie. Schneiders materialreiches, gut formuliertes Buch wird das Nachdenken über die historischen und institutionellen Bedingungen des Umgangs mit Philosophiegeschichte anregen und fördern. Daß künftige Darstellungen der Philosophiegeschichte verstärkt aus dem Sonntag der Spekulation in den Alltag des universitären Erwerbslebens hinabsteigen, ist allerdings nicht zu erwarten. Vielleicht ist es auch gar nicht zu wünschen. Denn was ist fesselnder als das pure, ernste Spiel der Gründe und der Gegengründe? Alles hat seine Zeit. Das Mediale hat gegenwärtig seinen Kairos. Aber es wird auch wieder eine Zeit der Inhalte anbrechen.
ROLAND KANY
Ulrich Johannes Schneider: "Philosophie und Universität". Historisierung der Vernunft im 19. Jahrhundert. Felix Meiner Verlag, Hamburg 1999. X, 405 S., br., 64,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Als einen Einblick in einen vernachlässigten Bereich der Philosophiegeschichte lobt Roland Kany dieses Buch Ulrich Johannes Schneiders - denn bis heute, so scheint es, lehrt die Philosophie ihre Geschichte, ohne die Institution, in der sie gelehrt wird und von der sie abhängt - nämlich die Universität - in ihre Betrachtungen mit einzubeziehen. Glaubt man Kany, so erfährt man bei Schneider auch einiges darüber, wie sich die Philosophie an den deutschen Universitäten im 19. Jahrhundert zusehends als Philosophiegeschichte instituierte. Bewundernd merkt Kany an, dass Schneiders Bibliografie über 300 Philosophiegeschichten aus dem 19. Jahrhundert aufführt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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