„Vielleicht dreht sich das Leben ja darum, welche Geschichte wir beschließen zu erzählen.“ – Der neue Roman von Marente de Moor
Manchmal klingt es wie Trompetenstöße. Dann, „als würde Gott Möbel verrücken“. Die seltsamen Geräusche, die seit einiger Zeit am Himmel zu hören sind, verheißen nichts Gutes. Aber wann war es das letzte Mal gut, denkt Nadja. Was ist geblieben von dem Leben, das sie und Lew, ein idealistisches Zoologenpaar, sich in der Einsamkeit der westrussischen Wälder aufbauen wollten. Denn mit den Geräuschen kommen auch die anderen, dunklen Erinnerungen. Unverhohlen erzählt Nadja ihre verhängnisvolle Geschichte. Doch kann man ihr trauen? Ein flirrendes psychologisches Verwirrspiel, fesselnd bis zur letzten Seite. So sinnlich wie subtil dringt es in die dunklen Seiten der Natur und des Menschen.
Manchmal klingt es wie Trompetenstöße. Dann, „als würde Gott Möbel verrücken“. Die seltsamen Geräusche, die seit einiger Zeit am Himmel zu hören sind, verheißen nichts Gutes. Aber wann war es das letzte Mal gut, denkt Nadja. Was ist geblieben von dem Leben, das sie und Lew, ein idealistisches Zoologenpaar, sich in der Einsamkeit der westrussischen Wälder aufbauen wollten. Denn mit den Geräuschen kommen auch die anderen, dunklen Erinnerungen. Unverhohlen erzählt Nadja ihre verhängnisvolle Geschichte. Doch kann man ihr trauen? Ein flirrendes psychologisches Verwirrspiel, fesselnd bis zur letzten Seite. So sinnlich wie subtil dringt es in die dunklen Seiten der Natur und des Menschen.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.10.2021Tief sind die russischen Wälder
Marente de Moor erzählt von der Sehnsucht des Menschen nach einer Natur, die ihn nicht braucht
Man nannte ihn den „Noah von Westrussland“, mittlerweile sieht er eher aus wie ein zerzaustes Mammut. Wenn Nadja, die Erzählerin, ihren Mann in den Blick nimmt, zerfällt er zu Staub. Die ganze frühere Pracht ist dahin, sein Selbstbewusstsein, seine Stärke, sein Geist, alles verschwunden. Manchmal bekommt er eine Erektion, wenn sie ihm beim Aufstehen hilft. Das findet sie unangemessen, lächerlich. „Wir schauen auf den sinnlosen Haufen Männlichkeit auf dem Bett, da drinnen schnarcht es schon, die Träume taumeln in sein Hirn“, heißt es einmal. Was sich anhört wie das Drama eines alternden Ehepaars ist weit mehr. „Phon“, der neue Roman der niederländischen Schriftstellerin Marente de Moor, lauscht hinein in die russischen Wälder – und ortet dort die Widersprüche der Gegenwart.
Wie kommt es, dass wir die Natur so mystifizieren, ausgerechnet im Stadium ihrer maximalen Ausbeutung? Woher rührt der Kult um die Wildnis? Wie weit will der Mensch die Natur eigentlich züchten? Immer weiter in die Richtung, in der andere Lebewesen seinen Bedürfnissen immer exakter angepasst werden, mit allen unabsehbaren Folgen, oder zurück, in eine per Molekulargenetik rekonstruierte Vergangenheit, in der das ausgestorbene Mammut tatsächlich durch die von Zivilisationsmüll verseuchten Wälder stapfen würde? Freilich wäre auch das nur ein weiterer Versuch des Menschen, die Natur seinen Bedürfnissen anzupassen.
„Phon“ ist keine Dystopie, sondern ein starker Gegenwartsroman. Er bleibt konkret, ist im Jetzt und der jüngeren Zeitgeschichte verankert. Das Auseinanderbrechen der Sowjetunion, die gescheiterten Hoffnungen von Glasnost und Perestroika, die Verarmung der Landbevölkerung, Putins Posen als Bezwinger der Natur und Retter der russischen Vormachtstellung bilden den Nährboden, auf dem er gedeiht. Er erzählt eine Geschichte des Verfalls, in der sich persönliche und menschheitsgeschichtliche Motive überlagern. Und er macht das mit schwindelerregender Düsternis, indem er die Geschichte durch ein weibliches Bewusstsein jagt, das voller Wut und Frustration steckt.
Erst mit der Zeit wird deutlich, dass Nadja weit mehr zu ertragen hat als nur den Abschied von ihrem Mann, wie er früher einmal war, und den Abschied von dem Bild, das sie von sich hatte. Eigentlich ist sie gar nicht so alt, Anfang fünfzig. Lew ist siebzehn Jahre älter und leidet unter einer Amnesie. Er war einst Professor der Zoologie in Leningrad, Nadja seine Schülerin, als sie sich verliebten. Die Neunzehnjährige wusste sofort, dass sie ein Kind von ihm will, noch während der Schwangerschaft zogen sie in den Wald, zehn Zugstunden von Leningrad entfernt, um dort eine Forschungsstation zu gründen. „Das Laboratorium der Unabhängigkeit“, eröffnet im Orwell-Jahr 1984, ist ein Zeichen ihrer Zuversicht. Ihre Diplomarbeit über die Evolution der Echoortung bei Mikrofledermäusen gab Nadja auf, zugunsten der Tierbeobachtung in freier Wildbahn.
Das erste Kind, Vera, ist schön, verspielt und eigenwillig, nach der Pubertät zieht es sie in die große Stadt. In St. Petersburg gerät sie ins Drogenmilieu, konsumiert das billige „Krokodil“, ein Opioid, das Anfang der 2020er-Jahre Russland überschwemmte. Nach einem verzweifelten Telefonanruf startet Nadja einen Rettungsversuch und fährt mit dem Zug zum ersten Mal wieder ins frühere Leningrad. Doch sie kehrt allein zurück.
Der Trost des Lokführers, es gebe immer einen nächsten Zug, mit dem die Tochter kommen könne, bildet eines der Leitmotive des Romans. Sohn Dimka ist abgerutscht ins Milieu von Verschwörungsmythen. Das Reaktorunglück von Tschernobyl habe nie stattgefunden, behauptet er, es sei ein „Bluff“ der USA gewesen, um die Sowjetunion zu destabilisieren.
Marente de Moor, die mehrere Jahre als Korrespondentin für niederländische und russische Medien in St. Petersburg gearbeitet hat, überlagert die globale Katastrophengeschichte verschwindender Biodiversität und aussterbender Arten so geschickt mit der persönlichen Geschichte des Paars, dass sie einander potenzieren. Wie sein Vorgänger, „Aus dem Licht“, verarbeitet „Phon“ naturwissenschaftliche Erkenntnisse und setzt sie in Beziehung zum Imaginären. Brauchen wir Märchen, Mythen, Träume, oder legen sie nur unseren Handlungsmuskel lahm? Gott war ein Tier, das wir ausgerottet haben, heißt es einmal. Stattdessen haben wir die Natur an seine Stelle gesetzt, die wir anbeten, während wir sie zerstören.
Die Forschungsstation von Nadja und Lew verwandelt sich im Lauf der Jahre in ein Sommercamp, in dem verwöhnte Jugendliche den Umgang mit Tieren lernen. Esther, eine holländische Journalistin, die sich als Wissenschaftlerin gebärdet, organisiert das Ganze. Bis es zu einem folgenreichen Unfall mit einer Bärin kommt, eine in Nadjas Erinnerung gut verkapselte Katastrophe, die der Roman in einer Szenerie aus gleißenden Bildern, Märchen-Elementen und Albtraum inszeniert.
„Phon“ ist auch ein Roman über Einsamkeit, Isolation und Angst. Lew wird seit jenem Jahr, an das sich die Erzählerin nicht erinnern möchte, von Angst gequält. Seine Amnesie ist eine Schutzreaktion, die Nadja umso tiefer in die Verzweiflung stürzt. Sinnbild der Bedrohung ist ein markerschütterndes, rätselhaftes Geräusch, das vom Himmel dröhnt. Ein Geistlicher, der allerdings nur ein verkleideter Taxifahrer ist, behauptet, es seien die Posaunen der Apokalypse. Nadja hat in Kinderjahren von ihrem Vater eine andere Erklärung bekommen: „Was du hörst und wir längst nicht mehr (...), ist das Phon. Das Hintergrundrauschen des Lebens. Die ganze Geschichte steckt darin, vom schönsten Lied bis zum angsterfüllten Schrei, aber fürchte dich nicht. Menschen, die sich vor Geräuschen fürchten, fürchten sich vor ihrer Fantasie. Sie verschließen ihr geistiges Auge und rufen, so laut sie können: Es ist nicht echt! Aber die Fantasie gibt es, Nadja, nicht nur im Kopf. Sie ist ein Naturphänomen wie alles andere und gleitet auf dem Phon dahin wie ein Zug auf Schienen.“
Für Russen bedeute die Wildnis „Verzicht“, heißt es einmal, für Leute aus dem Westen sei sie eine Ersatzreligion. Allerdings müssten sie sich vorstellen, „der Natur unter die Arme“ zu greifen, ihr Verhältnis zur Wildnis sei idealistisch und sentimental. Wie groß die Sehnsucht ist, dieser Sentimentalität zu entgehen, zeigt der Erfolg des autobiografischen Berichts „An das Wilde glauben“ der französischen Anthropologin Nastassja Martin, die auf der russischen Halbinsel Kamtschatka bei einer Forschungsexpedition einem Bären begegnete, der ihr Gesicht zerbiss und ihren Schädel brach.
Vielleicht ist etwas dran an der Überlegung, die Wildnis sei für den zivilisationsmüden Westen eine Ersatzreligion. In Marente de Moors brillantem Roman genügt am Ende die Fantasie, um ein Mammut in die russischen Wälder zu setzen. Dass auch dies eine Form anthropomorpher Aneignung ist, steht außer Frage.
MEIKE FESSMANN
Die Geschichten aussterbender
Arten und einer schwindenden
Liebe potenzieren einander
Marente de Moor war lange Korrespondentin für niederländische und russische Medien in St. Petersburg.
Foto: E. Hartmann
Marente de Moor:
Phon. Roman.
Aus dem Niederländischen von Bettina Bach.
Hanser, München 2021.
336 Seiten, 23 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Marente de Moor erzählt von der Sehnsucht des Menschen nach einer Natur, die ihn nicht braucht
Man nannte ihn den „Noah von Westrussland“, mittlerweile sieht er eher aus wie ein zerzaustes Mammut. Wenn Nadja, die Erzählerin, ihren Mann in den Blick nimmt, zerfällt er zu Staub. Die ganze frühere Pracht ist dahin, sein Selbstbewusstsein, seine Stärke, sein Geist, alles verschwunden. Manchmal bekommt er eine Erektion, wenn sie ihm beim Aufstehen hilft. Das findet sie unangemessen, lächerlich. „Wir schauen auf den sinnlosen Haufen Männlichkeit auf dem Bett, da drinnen schnarcht es schon, die Träume taumeln in sein Hirn“, heißt es einmal. Was sich anhört wie das Drama eines alternden Ehepaars ist weit mehr. „Phon“, der neue Roman der niederländischen Schriftstellerin Marente de Moor, lauscht hinein in die russischen Wälder – und ortet dort die Widersprüche der Gegenwart.
Wie kommt es, dass wir die Natur so mystifizieren, ausgerechnet im Stadium ihrer maximalen Ausbeutung? Woher rührt der Kult um die Wildnis? Wie weit will der Mensch die Natur eigentlich züchten? Immer weiter in die Richtung, in der andere Lebewesen seinen Bedürfnissen immer exakter angepasst werden, mit allen unabsehbaren Folgen, oder zurück, in eine per Molekulargenetik rekonstruierte Vergangenheit, in der das ausgestorbene Mammut tatsächlich durch die von Zivilisationsmüll verseuchten Wälder stapfen würde? Freilich wäre auch das nur ein weiterer Versuch des Menschen, die Natur seinen Bedürfnissen anzupassen.
„Phon“ ist keine Dystopie, sondern ein starker Gegenwartsroman. Er bleibt konkret, ist im Jetzt und der jüngeren Zeitgeschichte verankert. Das Auseinanderbrechen der Sowjetunion, die gescheiterten Hoffnungen von Glasnost und Perestroika, die Verarmung der Landbevölkerung, Putins Posen als Bezwinger der Natur und Retter der russischen Vormachtstellung bilden den Nährboden, auf dem er gedeiht. Er erzählt eine Geschichte des Verfalls, in der sich persönliche und menschheitsgeschichtliche Motive überlagern. Und er macht das mit schwindelerregender Düsternis, indem er die Geschichte durch ein weibliches Bewusstsein jagt, das voller Wut und Frustration steckt.
Erst mit der Zeit wird deutlich, dass Nadja weit mehr zu ertragen hat als nur den Abschied von ihrem Mann, wie er früher einmal war, und den Abschied von dem Bild, das sie von sich hatte. Eigentlich ist sie gar nicht so alt, Anfang fünfzig. Lew ist siebzehn Jahre älter und leidet unter einer Amnesie. Er war einst Professor der Zoologie in Leningrad, Nadja seine Schülerin, als sie sich verliebten. Die Neunzehnjährige wusste sofort, dass sie ein Kind von ihm will, noch während der Schwangerschaft zogen sie in den Wald, zehn Zugstunden von Leningrad entfernt, um dort eine Forschungsstation zu gründen. „Das Laboratorium der Unabhängigkeit“, eröffnet im Orwell-Jahr 1984, ist ein Zeichen ihrer Zuversicht. Ihre Diplomarbeit über die Evolution der Echoortung bei Mikrofledermäusen gab Nadja auf, zugunsten der Tierbeobachtung in freier Wildbahn.
Das erste Kind, Vera, ist schön, verspielt und eigenwillig, nach der Pubertät zieht es sie in die große Stadt. In St. Petersburg gerät sie ins Drogenmilieu, konsumiert das billige „Krokodil“, ein Opioid, das Anfang der 2020er-Jahre Russland überschwemmte. Nach einem verzweifelten Telefonanruf startet Nadja einen Rettungsversuch und fährt mit dem Zug zum ersten Mal wieder ins frühere Leningrad. Doch sie kehrt allein zurück.
Der Trost des Lokführers, es gebe immer einen nächsten Zug, mit dem die Tochter kommen könne, bildet eines der Leitmotive des Romans. Sohn Dimka ist abgerutscht ins Milieu von Verschwörungsmythen. Das Reaktorunglück von Tschernobyl habe nie stattgefunden, behauptet er, es sei ein „Bluff“ der USA gewesen, um die Sowjetunion zu destabilisieren.
Marente de Moor, die mehrere Jahre als Korrespondentin für niederländische und russische Medien in St. Petersburg gearbeitet hat, überlagert die globale Katastrophengeschichte verschwindender Biodiversität und aussterbender Arten so geschickt mit der persönlichen Geschichte des Paars, dass sie einander potenzieren. Wie sein Vorgänger, „Aus dem Licht“, verarbeitet „Phon“ naturwissenschaftliche Erkenntnisse und setzt sie in Beziehung zum Imaginären. Brauchen wir Märchen, Mythen, Träume, oder legen sie nur unseren Handlungsmuskel lahm? Gott war ein Tier, das wir ausgerottet haben, heißt es einmal. Stattdessen haben wir die Natur an seine Stelle gesetzt, die wir anbeten, während wir sie zerstören.
Die Forschungsstation von Nadja und Lew verwandelt sich im Lauf der Jahre in ein Sommercamp, in dem verwöhnte Jugendliche den Umgang mit Tieren lernen. Esther, eine holländische Journalistin, die sich als Wissenschaftlerin gebärdet, organisiert das Ganze. Bis es zu einem folgenreichen Unfall mit einer Bärin kommt, eine in Nadjas Erinnerung gut verkapselte Katastrophe, die der Roman in einer Szenerie aus gleißenden Bildern, Märchen-Elementen und Albtraum inszeniert.
„Phon“ ist auch ein Roman über Einsamkeit, Isolation und Angst. Lew wird seit jenem Jahr, an das sich die Erzählerin nicht erinnern möchte, von Angst gequält. Seine Amnesie ist eine Schutzreaktion, die Nadja umso tiefer in die Verzweiflung stürzt. Sinnbild der Bedrohung ist ein markerschütterndes, rätselhaftes Geräusch, das vom Himmel dröhnt. Ein Geistlicher, der allerdings nur ein verkleideter Taxifahrer ist, behauptet, es seien die Posaunen der Apokalypse. Nadja hat in Kinderjahren von ihrem Vater eine andere Erklärung bekommen: „Was du hörst und wir längst nicht mehr (...), ist das Phon. Das Hintergrundrauschen des Lebens. Die ganze Geschichte steckt darin, vom schönsten Lied bis zum angsterfüllten Schrei, aber fürchte dich nicht. Menschen, die sich vor Geräuschen fürchten, fürchten sich vor ihrer Fantasie. Sie verschließen ihr geistiges Auge und rufen, so laut sie können: Es ist nicht echt! Aber die Fantasie gibt es, Nadja, nicht nur im Kopf. Sie ist ein Naturphänomen wie alles andere und gleitet auf dem Phon dahin wie ein Zug auf Schienen.“
Für Russen bedeute die Wildnis „Verzicht“, heißt es einmal, für Leute aus dem Westen sei sie eine Ersatzreligion. Allerdings müssten sie sich vorstellen, „der Natur unter die Arme“ zu greifen, ihr Verhältnis zur Wildnis sei idealistisch und sentimental. Wie groß die Sehnsucht ist, dieser Sentimentalität zu entgehen, zeigt der Erfolg des autobiografischen Berichts „An das Wilde glauben“ der französischen Anthropologin Nastassja Martin, die auf der russischen Halbinsel Kamtschatka bei einer Forschungsexpedition einem Bären begegnete, der ihr Gesicht zerbiss und ihren Schädel brach.
Vielleicht ist etwas dran an der Überlegung, die Wildnis sei für den zivilisationsmüden Westen eine Ersatzreligion. In Marente de Moors brillantem Roman genügt am Ende die Fantasie, um ein Mammut in die russischen Wälder zu setzen. Dass auch dies eine Form anthropomorpher Aneignung ist, steht außer Frage.
MEIKE FESSMANN
Die Geschichten aussterbender
Arten und einer schwindenden
Liebe potenzieren einander
Marente de Moor war lange Korrespondentin für niederländische und russische Medien in St. Petersburg.
Foto: E. Hartmann
Marente de Moor:
Phon. Roman.
Aus dem Niederländischen von Bettina Bach.
Hanser, München 2021.
336 Seiten, 23 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Thomas Combrink kann kaum glauben, das mit Marente de Moor eine Niederländerin diesen Text verfasst hat. Die Beschreibungen der russischen Provinz nahe Lettland könnten von einer Russin stammen, findet er. Die retrospektiv erzählte Geschichte eines Zoologen-Pärchens, das vor dem Hintergrund der zerfallenden Sowjetunion ab 1984 ein wissenschaftliches Sommercamp betreibt, bis es zu einem tödlichen Unfall mit einem Bären kommt, vermittelt eindringlich die Alltags- und Lebensgewohnheiten der Menschen dort, erklärt Combrink. Daneben wirkt eine den Rezensenten an Tarkowski erinnernde bedrückende Atmosphäre im Text, die de Moor mit einem unerklärlichen Himmelsgeräusch, dem "Phon", verbildlicht, wie Combrink erläutert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.03.2022Das Hintergrundrauschen des Lebens
Russland aus informierter Innensicht: Marente de Moors Roman über Akustikphänomene ist auch Mentalitätsstudie
Die niederländische Schriftstellerin Marente de Moor hat ein Buch geschrieben, das in Russland spielt, in der Nähe der lettischen Grenze. Es geht um ein Paar, beide Zoologen, die 1984 von Leningrad in ein Dorf ziehen. Nadja und Lew bekommen zwei Kinder und übersiedeln in die Natur, um ihre Arbeit fortzusetzen, bauen sich unter anderem ein "Labor der Unabhängigkeit" auf. "Phon" hätte auch von einer russischen Autorin geschrieben sein können, es ist ein Buch über die Mentalität der Menschen in diesem Land, über deren Leben vor und nach dem Zerfall der Sowjetunion. Marente de Moor lebte acht Jahre in Russland, sie verarbeitet ihre Erfahrungen in dem Band. Es ist beeindruckend, wie die Autorin die Gedanken, die Lebensgewohnheiten, den Alltag der Menschen, ihre Herkunft und ihre Geschichte in Russland nachzeichnet und eine eigenständige literarische Realität entwickelt.
Das Buch vermittelt mitunter die Stimmung des Films "Stalker" von Andrej Tarkowski: eine Atmosphäre der Leere, der daraus resultierenden Angst und des Unheils, das in der Zukunft liegt. Die beiden Zoologen betreiben in dem Dorf ein Sommercamp, unterstützt von einer holländischen Stiftung, mit ausländischen Besuchern, die dort Zeit in der Natur mit Tieren verbringen, darunter junge Bären. Federführend dabei ist die Niederländerin Esther Graafsma, die mit Lew leidenschaftlich verbunden ist. Im Jahr 2005 kommt es zu einem Unfall mit den Bären, bei dem Esther verletzt und Lydia, eine alte Freundin von Nadja, getötet wird. Danach verlassen immer mehr Einwohner das Dorf.
Das Buch wird von Nadja aus der Rückblende erzählt, zehn Jahre nach dem Ereignis, also 2015. Die beiden Zoologen leben nun allein in dem Ort, nur manchmal besucht von ihrem Sohn Dimka. Sie hören seltsame Geräusche, die vom Himmel kommen. "Als Kind hielt mich oft ein dumpfer Brummton wach, der wie ein Monster unter meinem Bett lag. Meine Eltern hörten ihn nicht, sie sagten, das seien die Nachbarn unter uns. Doch als wir nach Kommunar umzogen, reiste der Brummton mit, obwohl wir dort keine Nachbarn mehr unter uns hatten", schreibt Nadja und weist darauf hin, dass sie schon früher Erfahrungen gemacht habe mit akustischen Phänomenen. Ihr Vater nennt dieses Geräusch das "Phon", das "Hintergrundrauschen des Lebens". Dieser Tinnitus, ein für die meisten Menschen unhörbarer Kammerton A, ist ein Ausdruck für die schleichende Entfremdung der Personen in dem Buch. Die geschichtlichen Prozesse, die mit dem Zerfall der Sowjetunion einsetzen, dringen indirekt in die Wirklichkeit des Dorfes ein. Die Hoffnung der beiden Zoologen liegt im Verhältnis zur Natur, es hat den Anschein, als wollten sie dem gesellschaftlichen Wandel entfliehen, indem sie sich in der Welt der Pflanzen und Tiere einrichten.
Die Geräusche am Himmel, deren Herkunft ungelöst bleibt, ähneln den ungeklärten Motiven der Protagonisten. Nadja versucht in ihrer Erzählung weniger zu ergründen, zu analysieren, sondern eher zu beschreiben, die Erfahrungen von der emotionalen Seite zu beleuchten. Es bleibt unklar, warum ihre Liebe zu Lew verschwindet, warum die Tochter Vera drogensüchtig wird, warum die Menschen den Ort verlassen. Scheinbar lenkt eine unbekannte Kraft die Schicksale der Personen in diesem Buch. Ist es die Zeitgeschichte? "Phon" durchzieht eine latent depressive Stimmung, was daran liegt, dass Nadja die Ereignisse vom Zeitpunkt der gescheiterten Lebenspläne erzählt. Zwar kehrt Esther Grafsmaa nach dem Unfall nochmals in das Dorf zurück und erweckt den Eindruck, als hätte sie die Geschehnisse verarbeitet, allerdings gibt es bei Lew, Nadja und ihren Kindern keine Anzeichen für eine positive Zukunft. Die Lebenswege enden in einer Sackgasse.
Nadjas Vater ist der Meinung, dass die Wahrnehmung des "Phons" ein Hinweis auf die Phantasiefähigkeit des Menschen ist. Nach den Ereignissen im Jahre 2005 verschließen sich Lew und Nadja; bei ihm zeigt sich eine Form der Demenz, der Vergesslichkeit, bei ihr wird ein Rückzug in die Illusion deutlich. Das Buch kann unter poetologischen Perspektiven gelesen werden, als eine literarische Auseinandersetzung mit der Phantasie, denn die Entfremdung, die Nadja gegenüber den Personen ihres näheren Umfelds empfindet, verstärkt bei ihr die Flucht in die Vorstellungswelt, den Traum, wie die häufige Anrede eines Lokführers zeigt, der als reale Person gar nicht auftaucht. Die Lokomotive spielt auf die russische Vergangenheit und den Satz von Karl Marx an, nach dem Revolutionen die Zugmaschinen der Geschichte darstellen. Der Lokführer ist eine Figur der Orientierung, eine Person, die ein Ziel vor Augen hat, den Weg kennt und damit für Nadja mit Hoffnung verbunden ist bei ihrem Versucht, Halt zu finden im Leben. THOMAS COMBRINK
Marente de Moor: "Phon". Roman.
Aus dem Niederländischen von Bettina Bach. Hanser Verlag, München 2021. 336 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Russland aus informierter Innensicht: Marente de Moors Roman über Akustikphänomene ist auch Mentalitätsstudie
Die niederländische Schriftstellerin Marente de Moor hat ein Buch geschrieben, das in Russland spielt, in der Nähe der lettischen Grenze. Es geht um ein Paar, beide Zoologen, die 1984 von Leningrad in ein Dorf ziehen. Nadja und Lew bekommen zwei Kinder und übersiedeln in die Natur, um ihre Arbeit fortzusetzen, bauen sich unter anderem ein "Labor der Unabhängigkeit" auf. "Phon" hätte auch von einer russischen Autorin geschrieben sein können, es ist ein Buch über die Mentalität der Menschen in diesem Land, über deren Leben vor und nach dem Zerfall der Sowjetunion. Marente de Moor lebte acht Jahre in Russland, sie verarbeitet ihre Erfahrungen in dem Band. Es ist beeindruckend, wie die Autorin die Gedanken, die Lebensgewohnheiten, den Alltag der Menschen, ihre Herkunft und ihre Geschichte in Russland nachzeichnet und eine eigenständige literarische Realität entwickelt.
Das Buch vermittelt mitunter die Stimmung des Films "Stalker" von Andrej Tarkowski: eine Atmosphäre der Leere, der daraus resultierenden Angst und des Unheils, das in der Zukunft liegt. Die beiden Zoologen betreiben in dem Dorf ein Sommercamp, unterstützt von einer holländischen Stiftung, mit ausländischen Besuchern, die dort Zeit in der Natur mit Tieren verbringen, darunter junge Bären. Federführend dabei ist die Niederländerin Esther Graafsma, die mit Lew leidenschaftlich verbunden ist. Im Jahr 2005 kommt es zu einem Unfall mit den Bären, bei dem Esther verletzt und Lydia, eine alte Freundin von Nadja, getötet wird. Danach verlassen immer mehr Einwohner das Dorf.
Das Buch wird von Nadja aus der Rückblende erzählt, zehn Jahre nach dem Ereignis, also 2015. Die beiden Zoologen leben nun allein in dem Ort, nur manchmal besucht von ihrem Sohn Dimka. Sie hören seltsame Geräusche, die vom Himmel kommen. "Als Kind hielt mich oft ein dumpfer Brummton wach, der wie ein Monster unter meinem Bett lag. Meine Eltern hörten ihn nicht, sie sagten, das seien die Nachbarn unter uns. Doch als wir nach Kommunar umzogen, reiste der Brummton mit, obwohl wir dort keine Nachbarn mehr unter uns hatten", schreibt Nadja und weist darauf hin, dass sie schon früher Erfahrungen gemacht habe mit akustischen Phänomenen. Ihr Vater nennt dieses Geräusch das "Phon", das "Hintergrundrauschen des Lebens". Dieser Tinnitus, ein für die meisten Menschen unhörbarer Kammerton A, ist ein Ausdruck für die schleichende Entfremdung der Personen in dem Buch. Die geschichtlichen Prozesse, die mit dem Zerfall der Sowjetunion einsetzen, dringen indirekt in die Wirklichkeit des Dorfes ein. Die Hoffnung der beiden Zoologen liegt im Verhältnis zur Natur, es hat den Anschein, als wollten sie dem gesellschaftlichen Wandel entfliehen, indem sie sich in der Welt der Pflanzen und Tiere einrichten.
Die Geräusche am Himmel, deren Herkunft ungelöst bleibt, ähneln den ungeklärten Motiven der Protagonisten. Nadja versucht in ihrer Erzählung weniger zu ergründen, zu analysieren, sondern eher zu beschreiben, die Erfahrungen von der emotionalen Seite zu beleuchten. Es bleibt unklar, warum ihre Liebe zu Lew verschwindet, warum die Tochter Vera drogensüchtig wird, warum die Menschen den Ort verlassen. Scheinbar lenkt eine unbekannte Kraft die Schicksale der Personen in diesem Buch. Ist es die Zeitgeschichte? "Phon" durchzieht eine latent depressive Stimmung, was daran liegt, dass Nadja die Ereignisse vom Zeitpunkt der gescheiterten Lebenspläne erzählt. Zwar kehrt Esther Grafsmaa nach dem Unfall nochmals in das Dorf zurück und erweckt den Eindruck, als hätte sie die Geschehnisse verarbeitet, allerdings gibt es bei Lew, Nadja und ihren Kindern keine Anzeichen für eine positive Zukunft. Die Lebenswege enden in einer Sackgasse.
Nadjas Vater ist der Meinung, dass die Wahrnehmung des "Phons" ein Hinweis auf die Phantasiefähigkeit des Menschen ist. Nach den Ereignissen im Jahre 2005 verschließen sich Lew und Nadja; bei ihm zeigt sich eine Form der Demenz, der Vergesslichkeit, bei ihr wird ein Rückzug in die Illusion deutlich. Das Buch kann unter poetologischen Perspektiven gelesen werden, als eine literarische Auseinandersetzung mit der Phantasie, denn die Entfremdung, die Nadja gegenüber den Personen ihres näheren Umfelds empfindet, verstärkt bei ihr die Flucht in die Vorstellungswelt, den Traum, wie die häufige Anrede eines Lokführers zeigt, der als reale Person gar nicht auftaucht. Die Lokomotive spielt auf die russische Vergangenheit und den Satz von Karl Marx an, nach dem Revolutionen die Zugmaschinen der Geschichte darstellen. Der Lokführer ist eine Figur der Orientierung, eine Person, die ein Ziel vor Augen hat, den Weg kennt und damit für Nadja mit Hoffnung verbunden ist bei ihrem Versucht, Halt zu finden im Leben. THOMAS COMBRINK
Marente de Moor: "Phon". Roman.
Aus dem Niederländischen von Bettina Bach. Hanser Verlag, München 2021. 336 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Ein kraftvoller, irisierender Roman, der das Chaos der postsowjetischen Zeit in ungewöhnlichen, düsteren Stimmungsszenarien einfängt." Rainer Moritz, Chrismon, 11/2021
"'Phon' [...] lauscht hinein in die russischen Wälder - und ortet dort die Widersprüche der Gegenwart. [...] 'Phon' ist keine Dystopie, sondern ein starker Gegenwartsroman. Er bleibt konkret, ist im Jetzt und der jüngeren Zeitgeschichte verankert.[...] Er erzählt eine Geschichte des Verfalls, in der sich persönliche und menschheitsgeschichtliche Motive überlagern. Und er macht das mit schwindelerregender Düsternis, indem er die Geschichte durch ein weibliches Bewusstsein jagt, das voller Wut und Frustration steckt." Meike Feßmann, Süddeutsche Zeitung, 14.10.2021
"Hier verdichtet sich Zeitgeschichte und Nature Writing zu toller Literatur." Freundin DONNA 10/21
"Marente de Moors Sprache ist ein Naturereignis, sie besteht nicht aus Worten, sondern aus Samen, die auf den fruchtbaren Boden der Fantasie gefallen und aufgegangen sind." Ingrid Mylo, Badische Zeitung, 18.09.2021
"'Phon' [...] lauscht hinein in die russischen Wälder - und ortet dort die Widersprüche der Gegenwart. [...] 'Phon' ist keine Dystopie, sondern ein starker Gegenwartsroman. Er bleibt konkret, ist im Jetzt und der jüngeren Zeitgeschichte verankert.[...] Er erzählt eine Geschichte des Verfalls, in der sich persönliche und menschheitsgeschichtliche Motive überlagern. Und er macht das mit schwindelerregender Düsternis, indem er die Geschichte durch ein weibliches Bewusstsein jagt, das voller Wut und Frustration steckt." Meike Feßmann, Süddeutsche Zeitung, 14.10.2021
"Hier verdichtet sich Zeitgeschichte und Nature Writing zu toller Literatur." Freundin DONNA 10/21
"Marente de Moors Sprache ist ein Naturereignis, sie besteht nicht aus Worten, sondern aus Samen, die auf den fruchtbaren Boden der Fantasie gefallen und aufgegangen sind." Ingrid Mylo, Badische Zeitung, 18.09.2021