Der Erzähler von Georgi Gospodinovs zweitem Roman leidet an übergroßer Empathie: er kann und muss sich in alles und jeden einfühlen und erlebt dann, was diese anderen erleben – ob das nun sein Großvater am Beginn des 20. Jahrhunderts war, der kleine in ein Labyrinth weggesperrte Minotauros oder eine Schnecke, die gerade verschluckt wird. Aber auch, dass die Zeit unwiederbringlich vergeht, macht ihm zu schaffen; und er geht mit Zeitkapseln dagegen vor: Behälter, in die alles hineinkommt, was für die Gegenwart wichtig ist. Aber was ist wichtig? Zu diesem Zweck wiederum müssen Listen angelegt werden, eine im alten Ostblock bei Kindern und Jugendlichen ohnehin beliebte Praxis … Aus zahlreichen kurzen poetischen Kapiteln komponiert Gospodinov einen melancholischen Roman, der – wie oft bei Melancholikern – amüsiert und überrascht, und unterstreicht damit nachhaltig seinen weltliterarischen Rang. Seine Vergegenwärtigung altgriechischer Mythen ist ebenso denkwürdig wie seine Erinnerung an 40 Jahre bulgarischen Kommunismus. Und dass das Festhalten des gegenwärtigen Augenblicks eine vergebliche Aufgabe ist: es hindert ihn nicht daran, sich dieser Aufgabe von Seite zu Seite immer wieder neu zu stellen.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Für Andreas Breitenstein ist dieser Autor ein Literatur- und Weltretter, da er sich tollkühn fabulierend über Kommerz und Konvention erhebt. Wie der Bulgare Georgi Gospodinow mit diesem Roman die literarische Landkarte nach Osten erweitert, indem er seinen Erzähler die Wahrheit der eigenen Jugend gegen den Verrat an der Geschichte in Schutz nehmen lässt, hat Breitenstein beeindruckt. Die Verwendung des Minotaurus-Mythos als Metapher für eine unwirkliche bulgarische Wirklichkeit scheint ihm genial gewählt, das Erzählen hier selbst wundersam labyrinthisch und den absurden Lebenswelten des Realsozialismus angemessen. Dafür, dass das Episodische und die Vielfalt der vorkommenden Textformen (vom Apercu bis zum Dokument) den Leser nicht überfordern, sorgen laut Rezensent Gospodinows Ironie und poetologische Selbstreflexion sowie die Fäden der Mythologie.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.01.2014Entdeckung aus dem unbekannten Land
Mitleid mit dem Minotaurus: Der Bulgare Georgi Gospodinov hat einen hinreißenden Roman geschrieben. Seine "Physik der Schwermut" erzählt vom Verlust der Kindheit, der Unschuld und des Kommunismus.
Der Große Krieg, wie sie ihn hier nennen, geht seinem Ende entgegen. Der bulgarische Herbst 1917 ist rauh, und während der Vater an der Front ist, ringen die Mutter und ihre Kinder um jedes Korn, das sie den Feldern der Thrakischen Ebene entreißen können. Die versteckten Münzen sind ausgegeben, und auch der Getreidespeicher ist längst leer. Die Kinder, erschöpft und hungrig, sind fast schon zu Hause, als die Tochter plötzlich ruft: "Mama, wir haben Georgi vergessen!" Was folgt, ist ein langes, undurchdringliches Schweigen. Stille Sekunden, in denen die Mutter überlegt, was jetzt zu tun ist.
Dass sie nicht augenblicklich zurückkehrt, um den Dreijährigen vor dem sicheren Tod zu retten, sondern regungslos verharrt, erzählt man sich heute noch in der Familie. Die Pointe aber, dass diese Mutter, die fast hundert wurde, in ihren letzten Lebensjahren ausgerechnet von jenem Sohn gepflegt und umsorgt worden ist, den sie einst auf dem Feld vergaß, das ist eine dieser Volten, wie sie typisch sind für die Texte von Georgi Gospodinov. Das scheinbar Einfache, das unbedingt Absurde hat den bulgarischen Autor schon immer fasziniert.
"Physik der Schwermut" heißt sein neuer Roman, wobei der Begriff Roman hier sehr weit gefasst ist. Denn das Buch besteht aus neun Kapiteln, die in sehr viele kleine und größere Geschichten und Szenen unterteilt sind, in Miniaturen, Bilder, Listen und Dokumente. Die Epigraphik gibt schon die Richtung vor, in der es mit Augustinus heißt, welch "Schätze unzähliger Vorstellungen" sich in den weiten Palästen des Gedächtnisses finden lassen. Und Flauberts Sehnsucht danach, fliegen, schwimmen, bellen zu können, ja, "in jedes Atom einzudringen", bis man selbst Materie werde, das beschreibt ziemlich genau, was Gospodinovs melancholischen Erzähler umtreibt. Seine Gabe jedenfalls, sich in alles und jeden hineinversetzen zu können, macht sein Leben nicht unbedingt einfacher. Denn er verwandelt sich nicht etwa nur in jenen kleinen Jungen, den seine Mutter einst vergaß. Der Erzähler, auf dem das Gewicht fremder Schwermut lastet wie eine Krankheit, fühlt mit einer Schnecke, die auf dem Boden vor sich hin kriecht ebenso wie mit einem der berüchtigsten Monster der griechischen Sagenwelt, dem Minotaurus.
Dessen Halbschwester Ariadne hat der Erzähler niemals verziehen, dass sie ihren Bruder verriet. "Das Knäuel jenem in die Hand zu drücken, der deinen unglücklichen, verlassenen, in der Dunkelheit zur Bestie gewordenen Bruder töten wird. Da kommt der Schönling aus Athen, verdreht ihr den Kopf", empört sich der Erzähler und kritzelt in seiner alten Kinderausgabe mit den griechischen Mythen Ariadne Hörner auf den Kopf.
Es bereitet ungeheure Lust, sich in den Gängen und Fluchten der Erinnerung von Georgi Gospodinov zu bewegen, um nicht zu sagen zu verlieren. Nicht immer behält man bei der Lektüre die Orientierung. Dem Leser wird dadurch selbst so etwas wie eine labyrinthische Erfahrung zuteil. Aber welche Geschichte ist in Wahrheit schon so linear, wie sie in den klassischen Erzählungen dargelegt wird? Bei Gospodinov jedenfalls springen wir hin und her zwischen den zeitlichen und räumlichen Ebenen. Gerade noch auf dem Feld des Jahres 1917, geraten wir auf einen Jahrmarkt im Jahr 1925, wir erleben die Agonie der achtziger Jahre mit, in denen die bulgarische Jugend mit dem Kommunismus gequält wird, um wie in einer Rolle rückwärts in die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs zu stolpern, als in einem ungarischen Dorf ein Deserteur von einer jungen Witwe versteckt wird. Dass der Krieg irgendwann vorbei ist, die Frau aber, aus Angst, den Geliebten in ihrem Keller zu verlieren, ihm den Krieg weiterhin vorspielt, ist schon atemberaubend genug. Vollends absurd aber wird die Lage des Soldaten, als er endlich doch nach Hause in sein bulgarisches Dorf kommt und sich dort aufs Neue verstecken muss, weil er bereits als Kriegsopfer geehrt wurde - der kommunistischen Führung ist jetzt nicht mehr klarzumachen, dass er ohne Erklärung einen Monat nach Kriegsende ohne Alibi und Uniform zurückgekehrt ist.
Wer spricht hier, fragt man sich ein ums andere Mal? Wer ist dieser Erzähler, der uns in der ersten, manchmal aber auch in der dritten Person von skurrilen Ereignissen der großen Geschichte und des kleinen Alltags berichtet? Er kommt, so viel steht fest, Gospodinov selbst sehr nah, der 1968 im bulgarischen Städtchen Jambol geboren wurde und der nach seinem Philosophiestudium in Sofia 1992 mit dem Gedichtband "Lapidarium" debütierte. International bekannt wurde er mit seinem "Natürlichen Roman", der 2007 auf Deutsch erschien und von einer Ehekrise berichtet, die der Erzähler alle siebzehn Seiten wieder von vorn beginnt. Bei aller postmodernen Experimentierfreudigkeit, die selbst das Magazin "New Yorker" für den Bulgaren begeisterte, ist das Erstaunliche, mit welch großer Leichtigkeit Gospodinov erzählt. Wie selbstverständlich fließen bei ihm die politische Vergangenheit Bulgariens, die griechische Mythologie und das Seelenleben eines Heranwachsenden ineinander. Gospodinov gelingt es dabei, noch aus den kleinsten Details, etwa dem Impfabdruck auf dem Oberarm einer Geliebten, eine ganze Generationengeschichte heraufzubeschwören. Die Begeisterung fürs scheinbar Nebensächliche durchzieht den gesamten Text.
Immer tiefer schraubt sich der Roman anhand von geöffneten Zeitkapseln in Bedeutungsschichten von Sprache und Historie. Dabei kommen die wundersamsten Fabeln heraus, bei denen Alltag und Abenteuer ganz nah beieinanderstehen. Hier liest man nicht, was sich in den Zeitungen nachlesen lässt über den Kollaps des bulgarischen Kommunismus etwa, aber die Auswirkungen auf die Bulgaren, die bis 1989 zu achtzig Prozent das Land nicht verlassen hatten. Ausland war für sie damals wie eine Reise ins Weltall, heißt es an einer Stelle. In Gospodinovs Erzähler wohnen Verzweiflung und leichtfüßiger Humor eng beieinander. Gewiss hat sich der Autor, der auch Theaterstücke schreibt, dazu unter anderem von einer Ausstellung inspirieren lassen, die er vor ein paar Jahren selbst kuratiert hat. Weil Bulgarien das einzige Land Osteuropas ist, in dem es kein eigenes Museum zum Sozialismus gibt, hat Gospodinov eine Internetseite geschaffen, auf der Menschen ihre persönlichen Geschichten aus der Zeit vor 1989 erzählen konnten. Daraus entstand später ein Buch und eben die Ausstellung in Sofia.
Das Kind, das der Erzähler einst war, hat nicht nur Mitleid mit dem Minotaurus in dessen dunkler Höhle. Er, der Junge aus dem Tiefparterre, dessen Eltern tagsüber arbeiten gehen, fühlt sich dem Minotaurus verwandt. So erteilt er, nun, da er erwachsen und auch noch Autor ist, dem Angeklagten huldvoll das Wort. Denn nirgends, weder bei Homer noch bei Ovid oder Vergil, sei die Stimme des Minotaurus überliefert. Der Grund liegt für ihn auf der Hand. Denn während es kinderleicht sei, Ikarus zu bemitleiden und zu Theseus zu halten oder natürlich auch zur betrogenen Ariadne, sei der Kinder verspeisende Minotaurus gänzlich ungeeignet für jegliche Art der Anteilnahme.
Nutzt das Monster seine Chance? Als Gospodinov ihm schließlich das Wort erteilt, gibt der Minotaurus nur einen Laut von sich: "Muuuuuh".
SANDRA KEGEL
Die ersten Kapitel aus Georgi Gospodinovs Roman finden sich unter www.faz.net/lesezeichen.
Georgi Gospodinov: "Physik der Schwermut".
Roman.
Aus dem Bulgarischen von Alexander Sitzmann. Droschl Verlag, Graz 2014. 336 S., geb., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mitleid mit dem Minotaurus: Der Bulgare Georgi Gospodinov hat einen hinreißenden Roman geschrieben. Seine "Physik der Schwermut" erzählt vom Verlust der Kindheit, der Unschuld und des Kommunismus.
Der Große Krieg, wie sie ihn hier nennen, geht seinem Ende entgegen. Der bulgarische Herbst 1917 ist rauh, und während der Vater an der Front ist, ringen die Mutter und ihre Kinder um jedes Korn, das sie den Feldern der Thrakischen Ebene entreißen können. Die versteckten Münzen sind ausgegeben, und auch der Getreidespeicher ist längst leer. Die Kinder, erschöpft und hungrig, sind fast schon zu Hause, als die Tochter plötzlich ruft: "Mama, wir haben Georgi vergessen!" Was folgt, ist ein langes, undurchdringliches Schweigen. Stille Sekunden, in denen die Mutter überlegt, was jetzt zu tun ist.
Dass sie nicht augenblicklich zurückkehrt, um den Dreijährigen vor dem sicheren Tod zu retten, sondern regungslos verharrt, erzählt man sich heute noch in der Familie. Die Pointe aber, dass diese Mutter, die fast hundert wurde, in ihren letzten Lebensjahren ausgerechnet von jenem Sohn gepflegt und umsorgt worden ist, den sie einst auf dem Feld vergaß, das ist eine dieser Volten, wie sie typisch sind für die Texte von Georgi Gospodinov. Das scheinbar Einfache, das unbedingt Absurde hat den bulgarischen Autor schon immer fasziniert.
"Physik der Schwermut" heißt sein neuer Roman, wobei der Begriff Roman hier sehr weit gefasst ist. Denn das Buch besteht aus neun Kapiteln, die in sehr viele kleine und größere Geschichten und Szenen unterteilt sind, in Miniaturen, Bilder, Listen und Dokumente. Die Epigraphik gibt schon die Richtung vor, in der es mit Augustinus heißt, welch "Schätze unzähliger Vorstellungen" sich in den weiten Palästen des Gedächtnisses finden lassen. Und Flauberts Sehnsucht danach, fliegen, schwimmen, bellen zu können, ja, "in jedes Atom einzudringen", bis man selbst Materie werde, das beschreibt ziemlich genau, was Gospodinovs melancholischen Erzähler umtreibt. Seine Gabe jedenfalls, sich in alles und jeden hineinversetzen zu können, macht sein Leben nicht unbedingt einfacher. Denn er verwandelt sich nicht etwa nur in jenen kleinen Jungen, den seine Mutter einst vergaß. Der Erzähler, auf dem das Gewicht fremder Schwermut lastet wie eine Krankheit, fühlt mit einer Schnecke, die auf dem Boden vor sich hin kriecht ebenso wie mit einem der berüchtigsten Monster der griechischen Sagenwelt, dem Minotaurus.
Dessen Halbschwester Ariadne hat der Erzähler niemals verziehen, dass sie ihren Bruder verriet. "Das Knäuel jenem in die Hand zu drücken, der deinen unglücklichen, verlassenen, in der Dunkelheit zur Bestie gewordenen Bruder töten wird. Da kommt der Schönling aus Athen, verdreht ihr den Kopf", empört sich der Erzähler und kritzelt in seiner alten Kinderausgabe mit den griechischen Mythen Ariadne Hörner auf den Kopf.
Es bereitet ungeheure Lust, sich in den Gängen und Fluchten der Erinnerung von Georgi Gospodinov zu bewegen, um nicht zu sagen zu verlieren. Nicht immer behält man bei der Lektüre die Orientierung. Dem Leser wird dadurch selbst so etwas wie eine labyrinthische Erfahrung zuteil. Aber welche Geschichte ist in Wahrheit schon so linear, wie sie in den klassischen Erzählungen dargelegt wird? Bei Gospodinov jedenfalls springen wir hin und her zwischen den zeitlichen und räumlichen Ebenen. Gerade noch auf dem Feld des Jahres 1917, geraten wir auf einen Jahrmarkt im Jahr 1925, wir erleben die Agonie der achtziger Jahre mit, in denen die bulgarische Jugend mit dem Kommunismus gequält wird, um wie in einer Rolle rückwärts in die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs zu stolpern, als in einem ungarischen Dorf ein Deserteur von einer jungen Witwe versteckt wird. Dass der Krieg irgendwann vorbei ist, die Frau aber, aus Angst, den Geliebten in ihrem Keller zu verlieren, ihm den Krieg weiterhin vorspielt, ist schon atemberaubend genug. Vollends absurd aber wird die Lage des Soldaten, als er endlich doch nach Hause in sein bulgarisches Dorf kommt und sich dort aufs Neue verstecken muss, weil er bereits als Kriegsopfer geehrt wurde - der kommunistischen Führung ist jetzt nicht mehr klarzumachen, dass er ohne Erklärung einen Monat nach Kriegsende ohne Alibi und Uniform zurückgekehrt ist.
Wer spricht hier, fragt man sich ein ums andere Mal? Wer ist dieser Erzähler, der uns in der ersten, manchmal aber auch in der dritten Person von skurrilen Ereignissen der großen Geschichte und des kleinen Alltags berichtet? Er kommt, so viel steht fest, Gospodinov selbst sehr nah, der 1968 im bulgarischen Städtchen Jambol geboren wurde und der nach seinem Philosophiestudium in Sofia 1992 mit dem Gedichtband "Lapidarium" debütierte. International bekannt wurde er mit seinem "Natürlichen Roman", der 2007 auf Deutsch erschien und von einer Ehekrise berichtet, die der Erzähler alle siebzehn Seiten wieder von vorn beginnt. Bei aller postmodernen Experimentierfreudigkeit, die selbst das Magazin "New Yorker" für den Bulgaren begeisterte, ist das Erstaunliche, mit welch großer Leichtigkeit Gospodinov erzählt. Wie selbstverständlich fließen bei ihm die politische Vergangenheit Bulgariens, die griechische Mythologie und das Seelenleben eines Heranwachsenden ineinander. Gospodinov gelingt es dabei, noch aus den kleinsten Details, etwa dem Impfabdruck auf dem Oberarm einer Geliebten, eine ganze Generationengeschichte heraufzubeschwören. Die Begeisterung fürs scheinbar Nebensächliche durchzieht den gesamten Text.
Immer tiefer schraubt sich der Roman anhand von geöffneten Zeitkapseln in Bedeutungsschichten von Sprache und Historie. Dabei kommen die wundersamsten Fabeln heraus, bei denen Alltag und Abenteuer ganz nah beieinanderstehen. Hier liest man nicht, was sich in den Zeitungen nachlesen lässt über den Kollaps des bulgarischen Kommunismus etwa, aber die Auswirkungen auf die Bulgaren, die bis 1989 zu achtzig Prozent das Land nicht verlassen hatten. Ausland war für sie damals wie eine Reise ins Weltall, heißt es an einer Stelle. In Gospodinovs Erzähler wohnen Verzweiflung und leichtfüßiger Humor eng beieinander. Gewiss hat sich der Autor, der auch Theaterstücke schreibt, dazu unter anderem von einer Ausstellung inspirieren lassen, die er vor ein paar Jahren selbst kuratiert hat. Weil Bulgarien das einzige Land Osteuropas ist, in dem es kein eigenes Museum zum Sozialismus gibt, hat Gospodinov eine Internetseite geschaffen, auf der Menschen ihre persönlichen Geschichten aus der Zeit vor 1989 erzählen konnten. Daraus entstand später ein Buch und eben die Ausstellung in Sofia.
Das Kind, das der Erzähler einst war, hat nicht nur Mitleid mit dem Minotaurus in dessen dunkler Höhle. Er, der Junge aus dem Tiefparterre, dessen Eltern tagsüber arbeiten gehen, fühlt sich dem Minotaurus verwandt. So erteilt er, nun, da er erwachsen und auch noch Autor ist, dem Angeklagten huldvoll das Wort. Denn nirgends, weder bei Homer noch bei Ovid oder Vergil, sei die Stimme des Minotaurus überliefert. Der Grund liegt für ihn auf der Hand. Denn während es kinderleicht sei, Ikarus zu bemitleiden und zu Theseus zu halten oder natürlich auch zur betrogenen Ariadne, sei der Kinder verspeisende Minotaurus gänzlich ungeeignet für jegliche Art der Anteilnahme.
Nutzt das Monster seine Chance? Als Gospodinov ihm schließlich das Wort erteilt, gibt der Minotaurus nur einen Laut von sich: "Muuuuuh".
SANDRA KEGEL
Die ersten Kapitel aus Georgi Gospodinovs Roman finden sich unter www.faz.net/lesezeichen.
Georgi Gospodinov: "Physik der Schwermut".
Roman.
Aus dem Bulgarischen von Alexander Sitzmann. Droschl Verlag, Graz 2014. 336 S., geb., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.03.2014Kellerkinder
Georgi Gospodinov begibt sich mit seinem Roman „Physik der Schwermut“ in das Labyrinth der bulgarischen Geschichte
Der bekannteste Bulgare dürfte hierzulande immer noch Ilja Rogoff sein, ein Bergbauer, der angeblich dank des regelmäßigen Verzehrs von Knoblauch 130 Jahre alt wurde und deshalb die Werbefigur der gleichnamigen Knoblauchpastillen ist. Und manch einer wird sich vielleicht noch an die glücklichen Kühe auf den Bildern der naiven Malerei aus Bulgarien erinnern, die einmal sehr populär waren.
Für Knoblauch hat auch der bulgarische Schriftsteller Georgi Gospodinov einiges übrig, das ungeschriebene Epos seines Landes müsste eines über dessen pikante Blätterteigpasteten sein, „das Epos des Böreks“, schreibt er in seinem neuen Roman „Physik der Schwermut“. Und zu Kühen unterhält er sowieso ein spezielles Verhältnis – allerdings nicht zu glücklichen, sondern zu unglücklichen Kühen. Ganz besonders hat es ihm ein mythologisches Rindvieh angetan, der Minotaurus aus der griechischen Sage, halb Mensch, halb Stier, für Gospodinov kein Monstrum, sondern Inbild „im Stich gelassener Kinder“.
Der im Labyrinth gefangene Minotaurus bildet das Leitmotiv in diesem essayistisch-kaleidoskopartigen Roman, den Gospodinov auch auf der Leipziger Buchmesse vorstellt. Dem 1968 geborenen Autor geht es nicht um eine lineare Erzählung, denn Geschichte, so Gospodinov, verlaufe nun mal nicht linear. Eine klassische Fabel, schreibt er, wäre ein „Annullieren der Möglichkeiten, die dich von überallher anspringen“. Sein eher evokatives als narratives Schreiben versteht sich als literarischer Teilchenbeschleuniger, eine große Zentrifuge, in der szenische Miniaturen, Aperçus, Listen und, wie bei Alexander Kluge oder W.G. Sebald, eingefügte Fotografien durcheinandergewirbelt werden. Dieser melancholisch abgetönte Postmodernismus hat sogar den ehemaligen Klassenfeind beeindruckt. Gospodinovs „Natürlicher Roman“ (2007) wurde seinerzeit im New Yorker groß gefeiert.
Das aktuelle Buch ist mehr Album als Roman. Statt Lebens- und Zeitgeschichte süffig oder gar mit folkloristischem Zauber zu verzwirbeln, dekonstruiert Gospodinov die Illusion epischer Geschlossenheit, das aber äußerst suggestiv. Zusammengehalten wird sein Gespinst von dem Motivkreis der Minotaurus-Sage, der sich als Ariadne-Faden durch die familiäre und die politische Chronik schlingt. Das Kind, das man in ein Ungeheuer verwandelt habe, um die Sünde zu rechtfertigen, dass es verstoßen wurde, begegnet dem Erzähler in Gestalt seines Großvaters. Als Dreijähriger wäre der beinahe von der Mutter in einer Mühle zurückgelassen worden, weil sie in der Hungersnot des Ersten Weltkriegs nicht mehr wusste, wie sie die Mäuler ihrer Lieben stopfen sollte. Und es kehrt wieder, als der Vater im Zweiten Weltkrieg desertiert und von einer jungen Ungarin versteckt wird. Weil sie sich in ihn verliebt hat, gaukelt sie ihm vor, der längst beendete Krieg dauere immer noch an. Zurück in seinem Dorf muss er sich wiederum im Keller verbergen, weil er längst für tot erklärt wurde und die neuen kommunistischen Herren sonst in Erklärungsnot brächte.
Aber auch der Enkel wächst auf in einer Art Untergrund, der Souterrainwohnung der Eltern. Da beide tagsüber arbeiten müssen, bleibt er sich selbst überlassen, „wie in der Antike waren die Kinder auch im Sozialismus unsichtbar“, heißt es im Roman. Und verfällt so der „Bulimie“ des Lesens. Aber die Abschottung von der Welt, das Leben in einer Zeitkapsel, ist natürlich auch eine politische Metapher für die Situation Bulgariens, deren Spiegelungen Gospodinov überall wiederentdeckt: Sei es in den schon erwähnten Faltungen des Böreks, sei es in den Verhüllungsprojekten des aus Bulgarien stammenden Aktionisten Christo. Die Bulgaren sind ein Volk von Verpackungskünstlern, vor allem was ihre unaufgearbeitete Vergangenheit angeht. Auf die historische Amnesie reagiert Gospodinov mit einer wahren Sammelwut, saugt sich voll mit unerzählten Geschichten – auch als Wiedergutmachung an der verratenen Jugend. Der Autor macht sich selbst zum Gefäß für diese Geschichten, aufgeschnappten, angelesenen, erfundenen, er figuriert als Relaisstation zwischen Öffentlichem und Privatem, eine Ein-Mann-Schwarmintelligenz.
Erklärt wird dieses osmotische Dokumentieren, das sich wie das fliegende Auge einer Kamera an den Alltag heranzoomt, um dann wieder in die Totale zu blenden, ja sogar in ein Endoskop sich verwandelt, das in das Körperinnere vordringt, mit einer pathologisch entwickelten Fähigkeit zur Empathie des sich verströmenden Erzählers. Labyrinthisch ist dessen Geister-Beschwörung, die vom Labyrinth der Herkunft und ihren toten Winkeln handelt. Gospodinovs Pointillismus weist auf den großartigen Lyriker, der er auch ist.
Wunderbare Gedankenfiguren finden sich in diesem Buch, etwa die Idee einer „Grammatik des Alterns“, wonach Kindheit und Jugend von Verben bestimmt sind, die abgelöst werden von den Substantiven der mittleren Jahre, um schließlich in die „Adjektive des Alters“ überzugehen – eine Entwicklung vom Werden über das Haben zum Sein. Georgi Gospodinvos Roman ist ganz große europäische Telepathie-Literatur. Er blickt auf ein räudiges Land, das seine Kinder gefressen hat, denn „Sozialismus und Vegetarismus“, sie würden nicht zueinander passen. Darum überlässt der Autor dem Minotaurus das letzte Wort des Protests, und es lautet: „Muuuuuuuh!“
CHRISTOPHER SCHMIDT
Georgi Gospodinov: Physik der Schwermut. Roman. Aus dem Bulgarischen von Alexander Sitzmann. Literaturverlag Droschl, Graz – Wien 2014. 336 Seiten, 23 Euro, E-Book 18,99 Euro.
Dieser großartige Erzähler
ist so etwas wie eine
Ein-Mann-Schwarmintelligenz
Gestern und heute im sozialistischen Museum in Sofia.
Foto: NIKOLAY DOYCHINOV /AFP PHOTO
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Georgi Gospodinov begibt sich mit seinem Roman „Physik der Schwermut“ in das Labyrinth der bulgarischen Geschichte
Der bekannteste Bulgare dürfte hierzulande immer noch Ilja Rogoff sein, ein Bergbauer, der angeblich dank des regelmäßigen Verzehrs von Knoblauch 130 Jahre alt wurde und deshalb die Werbefigur der gleichnamigen Knoblauchpastillen ist. Und manch einer wird sich vielleicht noch an die glücklichen Kühe auf den Bildern der naiven Malerei aus Bulgarien erinnern, die einmal sehr populär waren.
Für Knoblauch hat auch der bulgarische Schriftsteller Georgi Gospodinov einiges übrig, das ungeschriebene Epos seines Landes müsste eines über dessen pikante Blätterteigpasteten sein, „das Epos des Böreks“, schreibt er in seinem neuen Roman „Physik der Schwermut“. Und zu Kühen unterhält er sowieso ein spezielles Verhältnis – allerdings nicht zu glücklichen, sondern zu unglücklichen Kühen. Ganz besonders hat es ihm ein mythologisches Rindvieh angetan, der Minotaurus aus der griechischen Sage, halb Mensch, halb Stier, für Gospodinov kein Monstrum, sondern Inbild „im Stich gelassener Kinder“.
Der im Labyrinth gefangene Minotaurus bildet das Leitmotiv in diesem essayistisch-kaleidoskopartigen Roman, den Gospodinov auch auf der Leipziger Buchmesse vorstellt. Dem 1968 geborenen Autor geht es nicht um eine lineare Erzählung, denn Geschichte, so Gospodinov, verlaufe nun mal nicht linear. Eine klassische Fabel, schreibt er, wäre ein „Annullieren der Möglichkeiten, die dich von überallher anspringen“. Sein eher evokatives als narratives Schreiben versteht sich als literarischer Teilchenbeschleuniger, eine große Zentrifuge, in der szenische Miniaturen, Aperçus, Listen und, wie bei Alexander Kluge oder W.G. Sebald, eingefügte Fotografien durcheinandergewirbelt werden. Dieser melancholisch abgetönte Postmodernismus hat sogar den ehemaligen Klassenfeind beeindruckt. Gospodinovs „Natürlicher Roman“ (2007) wurde seinerzeit im New Yorker groß gefeiert.
Das aktuelle Buch ist mehr Album als Roman. Statt Lebens- und Zeitgeschichte süffig oder gar mit folkloristischem Zauber zu verzwirbeln, dekonstruiert Gospodinov die Illusion epischer Geschlossenheit, das aber äußerst suggestiv. Zusammengehalten wird sein Gespinst von dem Motivkreis der Minotaurus-Sage, der sich als Ariadne-Faden durch die familiäre und die politische Chronik schlingt. Das Kind, das man in ein Ungeheuer verwandelt habe, um die Sünde zu rechtfertigen, dass es verstoßen wurde, begegnet dem Erzähler in Gestalt seines Großvaters. Als Dreijähriger wäre der beinahe von der Mutter in einer Mühle zurückgelassen worden, weil sie in der Hungersnot des Ersten Weltkriegs nicht mehr wusste, wie sie die Mäuler ihrer Lieben stopfen sollte. Und es kehrt wieder, als der Vater im Zweiten Weltkrieg desertiert und von einer jungen Ungarin versteckt wird. Weil sie sich in ihn verliebt hat, gaukelt sie ihm vor, der längst beendete Krieg dauere immer noch an. Zurück in seinem Dorf muss er sich wiederum im Keller verbergen, weil er längst für tot erklärt wurde und die neuen kommunistischen Herren sonst in Erklärungsnot brächte.
Aber auch der Enkel wächst auf in einer Art Untergrund, der Souterrainwohnung der Eltern. Da beide tagsüber arbeiten müssen, bleibt er sich selbst überlassen, „wie in der Antike waren die Kinder auch im Sozialismus unsichtbar“, heißt es im Roman. Und verfällt so der „Bulimie“ des Lesens. Aber die Abschottung von der Welt, das Leben in einer Zeitkapsel, ist natürlich auch eine politische Metapher für die Situation Bulgariens, deren Spiegelungen Gospodinov überall wiederentdeckt: Sei es in den schon erwähnten Faltungen des Böreks, sei es in den Verhüllungsprojekten des aus Bulgarien stammenden Aktionisten Christo. Die Bulgaren sind ein Volk von Verpackungskünstlern, vor allem was ihre unaufgearbeitete Vergangenheit angeht. Auf die historische Amnesie reagiert Gospodinov mit einer wahren Sammelwut, saugt sich voll mit unerzählten Geschichten – auch als Wiedergutmachung an der verratenen Jugend. Der Autor macht sich selbst zum Gefäß für diese Geschichten, aufgeschnappten, angelesenen, erfundenen, er figuriert als Relaisstation zwischen Öffentlichem und Privatem, eine Ein-Mann-Schwarmintelligenz.
Erklärt wird dieses osmotische Dokumentieren, das sich wie das fliegende Auge einer Kamera an den Alltag heranzoomt, um dann wieder in die Totale zu blenden, ja sogar in ein Endoskop sich verwandelt, das in das Körperinnere vordringt, mit einer pathologisch entwickelten Fähigkeit zur Empathie des sich verströmenden Erzählers. Labyrinthisch ist dessen Geister-Beschwörung, die vom Labyrinth der Herkunft und ihren toten Winkeln handelt. Gospodinovs Pointillismus weist auf den großartigen Lyriker, der er auch ist.
Wunderbare Gedankenfiguren finden sich in diesem Buch, etwa die Idee einer „Grammatik des Alterns“, wonach Kindheit und Jugend von Verben bestimmt sind, die abgelöst werden von den Substantiven der mittleren Jahre, um schließlich in die „Adjektive des Alters“ überzugehen – eine Entwicklung vom Werden über das Haben zum Sein. Georgi Gospodinvos Roman ist ganz große europäische Telepathie-Literatur. Er blickt auf ein räudiges Land, das seine Kinder gefressen hat, denn „Sozialismus und Vegetarismus“, sie würden nicht zueinander passen. Darum überlässt der Autor dem Minotaurus das letzte Wort des Protests, und es lautet: „Muuuuuuuh!“
CHRISTOPHER SCHMIDT
Georgi Gospodinov: Physik der Schwermut. Roman. Aus dem Bulgarischen von Alexander Sitzmann. Literaturverlag Droschl, Graz – Wien 2014. 336 Seiten, 23 Euro, E-Book 18,99 Euro.
Dieser großartige Erzähler
ist so etwas wie eine
Ein-Mann-Schwarmintelligenz
Gestern und heute im sozialistischen Museum in Sofia.
Foto: NIKOLAY DOYCHINOV /AFP PHOTO
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'Es bereitet ungeheure Lust, sich in den Gängen und Fluchten der Erinnerung von Gospodinov zu bewegen, um nicht zu sagen zu verlieren. Ein hinreißender Roman.' (Sandra Kegel, FAZ) 'Eine Liebeserklärung an die Fantasie. eine literarische Wundertüte.' (Carmen Eller, Cicero) 'Ein außerordentliches literarisches Erlebnis, mehr noch, ein unentbehrliches Buch für das restliche Leben.' (Werner Krause, Kleine Zeitung) 'Ein Labyrinth, aus dem man nie wieder herausfinden will: weil diese Irrwege zu Herzklopfen und märchenhaften Erkenntnissen führen.' (Ingrid Mylo, Badische Zeitung, Tipp des Monats) 'Gospodinov gelingt mit Physik der Schwermut Seltenes: Er ist unterhaltsam mit seiner melancholisch-humorvollen Alltagsplauderei und tief- und abgründig mit seiner mythologischen Fantasie.' (Konstantin Ulmer, Der Freitag) 'Georgi Gospodinvos Roman ist ganz große europäische Telepathie-Literatur.' (Christopher Schmidt, Süddeutsche Zeitung)