In America, in the rich family estate of Saddle Meadows, the Glendinning family leads a luxurious and carefree existence - Mrs. Glendinning rotates in the upper circles of local society; her son, Pierre, an athlete and a talented young writer who gained his first fame, is going to marry the lovely Lucy, whom he seems to have a crush on. But an accidental meeting with the mysterious beauty Isabel threatens to destroy Pierre's entire happy life, as she opens the veil of gloomy family secret.
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Frankfurter Allgemeine ZeitungLeviathan ist nicht der größte Fisch
Der krakenhafte Roman, der ihn in Armut und Wahnsinn trieb: Herman Melvilles "Pierre" in einer glänzenden neuen Übersetzung
Was ist von einem Roman zu halten, der auf der dritten Seite und mitten im Frieden mit folgendem Dialog aufwartet: "Ich muß jetzt gehen, Lucy; schau! unter diesen Fahnen zieh' ich fort." - "Bravissimo! Oh, mein einziger Rekrut!", um sich unmittelbar im Anschluß an diese verliebten Rufe in einen familiengeschichtlichen Exkurs in die Zeit der Indianerkriege zu begeben, denen Überlegungen zur Bedeutung von Stadt und Acker in der Landschaft der amerikanischen Demokratie und zu ihrem Einfluß auf die Stammbäume edler Familien folgen? Der sodann eine untergründig erotische Liebe zwischen Mutter und Sohn beschreibt, in der die Mutter ihren Sohn "Bruder Pierre" nennt, während er sie mit "Schwester Mary" anredet?
Woran soll der Leser sich halten in einem Roman, dessen Erzähler immer wieder aus der Handlung heraustritt, um an die Scheinhaftigkeit der Welt zu erinnern, um sich von seinem Helden zu distanzieren oder auch ihm näher zu rücken? Was will dieser Roman, der schicksalsschwangere Vorahnungen, das Auftauchen eines alles verändernden Briefs und moralphilosophische Abwägungen mit schauerromantischen Passagen aus den Wäldern des Staats New York kombiniert und dann von einer schluchzenden Gitarre erzählt? Was soll der Leser, der bisher den Klängen eines sentimentalen Liebesromans gefolgt ist und sich durch ausufernde Skizzen eines philosophischen, eines psychologischen sowie eines Schauer- und eines Bildungsromans gearbeitet hat, was soll dieser Leser über ein Buch denken, das nach alldem auf Seite 423 ein weiteres wesentliches Motiv einführt: daß Pierre nämlich nicht nur ein enthusiastischer Wahrheitssucher ist - sondern auch ein Schriftsteller, dem bereits einige Lorbeerkränze gewunden wurden, was zu höhnischen Sottisen auf den Literaturbetrieb und scharfsinnigen Reflexionen über Erfolg und Mißerfolg bei den Kritikern Anlaß gibt?
Und wie paßt in diese böse Satire die große, Macbeth-blutige Sterbeszene am Schluß, in der es aus dem Dunkel ruft: "Ihr kennt ihn nicht!"? Was also erzählt uns "Pierre oder Die Doppeldeutigkeiten" von Herman Melville, jener kaum bekannte Roman von 1852, der nun (nach einem ersten Versuch von 1965) endlich in einer kongenialen deutschen Übersetzung vorliegt?
"Melville ist verrückt geworden", urteilten seine Zeitgenossen. Seine Familie ging nicht ganz so weit, teilte aber die Besorgnis um seinen Geisteszustand, und seine Frau behauptete gar, "Pierre" habe ihren Mann umgebracht. Fast einhundertfünfzig Jahre später befand einer von Melvilles Biographen: "Melvilles oft sardonische Überlegungen über seine eigene Laufbahn passen nicht zu der Geschichte von der Konfrontation einer idealistischen Seele mit der konventionellen Welt" - und nahm sich die Freiheit, eine amerikanische Fassung herauszubringen, die den Roman schlichtweg um die beanstandeten Teile kürzte. Autor und Vollstrecker dieser absonderlichen Idee war übrigens ausgerechnet Hershel Parker, der die verbindliche Ausgabe von Melvilles Schriften (die Northwestern-Newberry-Edition, die auch der deutschen Übertragung zugrunde liegt) mitverantwortet und mit seiner zweibändigen Biographie, die erst in diesem Jahr zum Abschluß kam, wohl die fundierteste Studie über Melvilles Leben vorgelegt hat. Der Internet-Buchhändler Amazon hingegen macht es sich in seiner Inhaltswiedergabe leichter mit dem dicken Buch. Dies sei die Geschichte eines jungen Mannes, "der alles aufs Spiel setzt, als er mit seiner Geliebten nach New York flieht und nicht nur seine Verlobte, sondern sein ganzes bisheriges Leben hinter sich läßt". Die Zusammenfassung verschweigt, daß Pierres Geliebte seine Schwester ist. Gerade das aber ist der Punkt und einer derer, die Melvilles Zeitgenossen außerordentlich erzürnten.
Grob zusammengefaßt, geschieht in "Pierre" folgendes: Der Titelheld, dessen Vater früh in einem von seltsamen Visionen begleiteten Fieberanfall starb, lebt mit seiner Mutter auf den Gütern der Familie in Saddle-Meadows im Bundesstaat New York. Er ist standesgemäß verlobt mit Lucy, zögert aber, von Wachtraumbildern einer verführerischen Schönheit in Zweifel gestürzt, die offizielle Verlobung hinaus. Bei einem Nähkränzchen trifft er ein junges Mädchen, Isabel, das seinen Traumbildern gleicht und bei seinem Anblick in Ohnmacht sinkt. Später erreicht ihn ein Brief, in dem sich diese Isabel als seine Schwester ausgibt, von Pierres Vater unehelich mit einer Französin gezeugt und offenbar Gegenstand väterlicher Fiebervisionen auf dem Totenbett.
Pierre glaubt dem Brief. Alles, was ihm heilig war, scheint plötzlich ebenso falsch wie die unbefleckte Erinnerung an den Vater. Selbst die Natur, einst voller Verheißung, wird ihm nun, da sie angesichts der Monstrosität der Eröffnungen Isabels und auch angesichts seines eigenen erregten Bebens so indifferent bleibt, zum dämonischen Gleichnis von Abscheulichkeiten, von Inzest und Titanenkämpfen. Nicht nur Melville, auch Pierre kennt "Hamlet", und so macht sich unser Held daran, die Welt, die aus den Fugen ist, zu retten. Er gibt seine angebliche Schwester Isabel als seine heimlich angetraute Frau aus und verliert dadurch nicht nur sein Glück mit Lucy und die Liebe seiner Mutter, sondern auch sein Erbe. Verarmt versucht er in New York, ein großes Buch zu schreiben, das möglicherweise jenes ist, das wir gerade lesen. Dann nimmt die Tragödie ihren Lauf bis zum blutigen Ende.
Man kann "Pierre" als Landroman lesen, den Melville seinem "Moby-Dick" folgen ließ, als ebenso großen Entwurf über das Scheitern eines Enthusiasten, dem das Schicksal in seiner unergründlichen Rätselhaftigkeit entgegentritt wie Ahab der weiße Wal. Mit seinen grandiosen Stilparodien der populären literarischen Genres seiner Zeit ist "Pierre" gleichzeitig ein ironischer Kommentar zu den Werken seiner Schriftstellerkollegen, die "lyrische Gedanken wiehern", gerade so wie der Held in der Idylle des ersten Romanteils. Und "Pierre" ist auch die Rache Melvilles am Literaturbetrieb, bevor dieser ihn endgültig vernichtete. Über Pierres Frühwerk, das zwei Verleger, die einst Schneider waren, herausbringen wollen, schwärmen die Rezensenten, daß sich der Autor nie gestattete, "Aufsehen zu erregen, nie zu etwas Ungeschlachtem oder Neuen verführen ließ". Später heißt es, es gebe genau zwei Methoden des Erzählens, nämlich zeitlich zusammenhängende Ereignisse und Tatsachen auch in diesem Zusammenhang hinzuschreiben oder aber nur die auszuwählen, die für den Fortgang einer Geschichte unerläßlich seien. Melville indes kümmerten beide nicht: "Ich schreibe exakt so, wie es mir paßt."
"Pierre" ist Melvilles siebter Roman. Der Autor schrieb ihn in hitziger Erregung in nur wenigen Monaten im unmittelbaren Anschluß an "Moby-Dick". In einem Brief an seinen Freund Nathaniel Hawthorne enthüllt er für diesen Roman einen noch größeren Ehrgeiz als für den vorangegangenen - "Leviathan ist nicht der größte Fisch; ich habe von Kraken gehört!" - und legte einen krakenarmigen Roman hin, der sich vor allem im zweiten Teil streckenweise liest, als seien seinem Autor die Furien auf den Fersen und als wäre er selbst angesteckt von ihrer Rage - und das war er tatsächlich, denn wie auch immer sonst noch "Pierre" zu lesen ist, eines ist dieser Roman mit Sicherheit: die Reaktion des zutiefst gekränkten Melville auf die teils verständnislose, teils offen feindselige Aufnahme von "Moby-Dick", über den zum Beispiel D. H. Lawrence spottete: "O je, wenn der feierliche Esel dröhnt! dröhnt! dröhnt!"
Melville entgegnet in "Pierre", die Erfahrung lehre, "daß die Welt zwar Mittelmaß und Gewöhnlichkeit anbetet, aber aller zeitgenössischen Größe mit Feuer und Schwert begegnet. (. . .) Und obwohl diese Sachlage in Verbindung mit der stets steigenden Flut neuer Bücher unweigerlich auf eine künftige Zeit hinzuweisen scheint, da, wenn die Masse der gesamten Menschheit auf dieselbe Stufe des Schwachsinns abgesackt ist, die Autoren so selten sein werden wie heute die Alchimisten und die Druckerpresse als unbedeutende Erfindung gelten wird, so laß uns doch einander in die Arme sinken, oh, mein Aurelian."
"Pierre" ist also ohne Kenntnis der Lebensumstände seines Autors kaum zu begreifen. Melville brauchte Geld. Nachdem "Moby-Dick" auch beim Publikum durchgefallen war, versprach er seinem Verleger, dieses Mal einen populären Roman zu schreiben, und lange Zeit, während er an "Pierre" arbeitete, mag er selbst daran geglaubt haben. Die Energie, die seine hektische Produktivität antrieb, speiste sich aus der immensen Enttäuschung über die Reaktionen auf "Moby-Dick", und die Wut, die Melville seinem Helden gestattet, ist durchaus auf rhetorisch gleicher Höhe mit der von Ahab. Der kluge Anmerkungsteil, in dem Daniel Göske jedem Detail nachgeht, gibt Auskunft über einzelne Ereignisse im Leben Melvilles, die im Geschehen des Romans wiederauftauchen, erläutert Melvilles Lektüren und enträtselt viele der Kräuselungen im Metaphernmeer als Mythen- oder Bibelexegesen, in denen der ganze Reichtum von Melvilles Universum zum Vorschein kommt. Selbst in seiner ästhetischen Schieflage spricht aus "Pierre" eine Würde und ein Pathos gegenüber den großen Fragen, die hier verhandelt werden, daß dem Leser das empörende Schicksal Melvilles um so deutlicher vor Augen steht.
"Pierre" kostete Melville alles, was er an Ruf noch zu verlieren hatte, vom finanziellen Desaster zu schweigen. Unaufhaltsam glitt er mit diesem Buch über die vollkommene Ablehnung in die fast vollkommene Vergessenheit, in der er starb.
Wie also ist dieses Buch zu lesen? Mit Geduld, sicherlich. Wer sie aufbringt, stiefelt mit Melville hinab in die Tiefen eines radikal moralischen und damit auch eitlen Ichs und auf den Grund der christlichen Wahrheiten, auf denen unsere Kultur ruht. In ihrem Geist wurde Pierre erzogen, an sie glaubte er mit Inbrunst, bis er erfuhr, daß sie für den, der sie ihn lehrte, nicht galten. Pierre ist ein Mann, der daran verzweifelt. Er ist auch ein Mann, der im nächsten Moment seinen inzestuösen Begierden folgt und so eines der großen Tabus der Kultur bricht, die zu retten er angetreten ist. Vielleicht, hoffentlich ist das Publikum heute bereit, von diesen Doppeldeutigkeiten zu lesen und den Autor zu bewundern, der vor hundertfünfzig Jahren den Mut, den Scharfsinn und das gewaltige Sprachvermögen aufbrachte, von ihnen zu erzählen.
Herman Melville: "Pierre oder Die Doppeldeutigkeiten". Roman. Herausgegeben von Daniel Göske. Mit einem Nachwort von Hans-Joachim Lang. Aus dem Englischen übersetzt von Christa Schuenke. Hanser Verlag, München 2002. 740 S., geb., 34,90 [Euro].
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Der krakenhafte Roman, der ihn in Armut und Wahnsinn trieb: Herman Melvilles "Pierre" in einer glänzenden neuen Übersetzung
Was ist von einem Roman zu halten, der auf der dritten Seite und mitten im Frieden mit folgendem Dialog aufwartet: "Ich muß jetzt gehen, Lucy; schau! unter diesen Fahnen zieh' ich fort." - "Bravissimo! Oh, mein einziger Rekrut!", um sich unmittelbar im Anschluß an diese verliebten Rufe in einen familiengeschichtlichen Exkurs in die Zeit der Indianerkriege zu begeben, denen Überlegungen zur Bedeutung von Stadt und Acker in der Landschaft der amerikanischen Demokratie und zu ihrem Einfluß auf die Stammbäume edler Familien folgen? Der sodann eine untergründig erotische Liebe zwischen Mutter und Sohn beschreibt, in der die Mutter ihren Sohn "Bruder Pierre" nennt, während er sie mit "Schwester Mary" anredet?
Woran soll der Leser sich halten in einem Roman, dessen Erzähler immer wieder aus der Handlung heraustritt, um an die Scheinhaftigkeit der Welt zu erinnern, um sich von seinem Helden zu distanzieren oder auch ihm näher zu rücken? Was will dieser Roman, der schicksalsschwangere Vorahnungen, das Auftauchen eines alles verändernden Briefs und moralphilosophische Abwägungen mit schauerromantischen Passagen aus den Wäldern des Staats New York kombiniert und dann von einer schluchzenden Gitarre erzählt? Was soll der Leser, der bisher den Klängen eines sentimentalen Liebesromans gefolgt ist und sich durch ausufernde Skizzen eines philosophischen, eines psychologischen sowie eines Schauer- und eines Bildungsromans gearbeitet hat, was soll dieser Leser über ein Buch denken, das nach alldem auf Seite 423 ein weiteres wesentliches Motiv einführt: daß Pierre nämlich nicht nur ein enthusiastischer Wahrheitssucher ist - sondern auch ein Schriftsteller, dem bereits einige Lorbeerkränze gewunden wurden, was zu höhnischen Sottisen auf den Literaturbetrieb und scharfsinnigen Reflexionen über Erfolg und Mißerfolg bei den Kritikern Anlaß gibt?
Und wie paßt in diese böse Satire die große, Macbeth-blutige Sterbeszene am Schluß, in der es aus dem Dunkel ruft: "Ihr kennt ihn nicht!"? Was also erzählt uns "Pierre oder Die Doppeldeutigkeiten" von Herman Melville, jener kaum bekannte Roman von 1852, der nun (nach einem ersten Versuch von 1965) endlich in einer kongenialen deutschen Übersetzung vorliegt?
"Melville ist verrückt geworden", urteilten seine Zeitgenossen. Seine Familie ging nicht ganz so weit, teilte aber die Besorgnis um seinen Geisteszustand, und seine Frau behauptete gar, "Pierre" habe ihren Mann umgebracht. Fast einhundertfünfzig Jahre später befand einer von Melvilles Biographen: "Melvilles oft sardonische Überlegungen über seine eigene Laufbahn passen nicht zu der Geschichte von der Konfrontation einer idealistischen Seele mit der konventionellen Welt" - und nahm sich die Freiheit, eine amerikanische Fassung herauszubringen, die den Roman schlichtweg um die beanstandeten Teile kürzte. Autor und Vollstrecker dieser absonderlichen Idee war übrigens ausgerechnet Hershel Parker, der die verbindliche Ausgabe von Melvilles Schriften (die Northwestern-Newberry-Edition, die auch der deutschen Übertragung zugrunde liegt) mitverantwortet und mit seiner zweibändigen Biographie, die erst in diesem Jahr zum Abschluß kam, wohl die fundierteste Studie über Melvilles Leben vorgelegt hat. Der Internet-Buchhändler Amazon hingegen macht es sich in seiner Inhaltswiedergabe leichter mit dem dicken Buch. Dies sei die Geschichte eines jungen Mannes, "der alles aufs Spiel setzt, als er mit seiner Geliebten nach New York flieht und nicht nur seine Verlobte, sondern sein ganzes bisheriges Leben hinter sich läßt". Die Zusammenfassung verschweigt, daß Pierres Geliebte seine Schwester ist. Gerade das aber ist der Punkt und einer derer, die Melvilles Zeitgenossen außerordentlich erzürnten.
Grob zusammengefaßt, geschieht in "Pierre" folgendes: Der Titelheld, dessen Vater früh in einem von seltsamen Visionen begleiteten Fieberanfall starb, lebt mit seiner Mutter auf den Gütern der Familie in Saddle-Meadows im Bundesstaat New York. Er ist standesgemäß verlobt mit Lucy, zögert aber, von Wachtraumbildern einer verführerischen Schönheit in Zweifel gestürzt, die offizielle Verlobung hinaus. Bei einem Nähkränzchen trifft er ein junges Mädchen, Isabel, das seinen Traumbildern gleicht und bei seinem Anblick in Ohnmacht sinkt. Später erreicht ihn ein Brief, in dem sich diese Isabel als seine Schwester ausgibt, von Pierres Vater unehelich mit einer Französin gezeugt und offenbar Gegenstand väterlicher Fiebervisionen auf dem Totenbett.
Pierre glaubt dem Brief. Alles, was ihm heilig war, scheint plötzlich ebenso falsch wie die unbefleckte Erinnerung an den Vater. Selbst die Natur, einst voller Verheißung, wird ihm nun, da sie angesichts der Monstrosität der Eröffnungen Isabels und auch angesichts seines eigenen erregten Bebens so indifferent bleibt, zum dämonischen Gleichnis von Abscheulichkeiten, von Inzest und Titanenkämpfen. Nicht nur Melville, auch Pierre kennt "Hamlet", und so macht sich unser Held daran, die Welt, die aus den Fugen ist, zu retten. Er gibt seine angebliche Schwester Isabel als seine heimlich angetraute Frau aus und verliert dadurch nicht nur sein Glück mit Lucy und die Liebe seiner Mutter, sondern auch sein Erbe. Verarmt versucht er in New York, ein großes Buch zu schreiben, das möglicherweise jenes ist, das wir gerade lesen. Dann nimmt die Tragödie ihren Lauf bis zum blutigen Ende.
Man kann "Pierre" als Landroman lesen, den Melville seinem "Moby-Dick" folgen ließ, als ebenso großen Entwurf über das Scheitern eines Enthusiasten, dem das Schicksal in seiner unergründlichen Rätselhaftigkeit entgegentritt wie Ahab der weiße Wal. Mit seinen grandiosen Stilparodien der populären literarischen Genres seiner Zeit ist "Pierre" gleichzeitig ein ironischer Kommentar zu den Werken seiner Schriftstellerkollegen, die "lyrische Gedanken wiehern", gerade so wie der Held in der Idylle des ersten Romanteils. Und "Pierre" ist auch die Rache Melvilles am Literaturbetrieb, bevor dieser ihn endgültig vernichtete. Über Pierres Frühwerk, das zwei Verleger, die einst Schneider waren, herausbringen wollen, schwärmen die Rezensenten, daß sich der Autor nie gestattete, "Aufsehen zu erregen, nie zu etwas Ungeschlachtem oder Neuen verführen ließ". Später heißt es, es gebe genau zwei Methoden des Erzählens, nämlich zeitlich zusammenhängende Ereignisse und Tatsachen auch in diesem Zusammenhang hinzuschreiben oder aber nur die auszuwählen, die für den Fortgang einer Geschichte unerläßlich seien. Melville indes kümmerten beide nicht: "Ich schreibe exakt so, wie es mir paßt."
"Pierre" ist Melvilles siebter Roman. Der Autor schrieb ihn in hitziger Erregung in nur wenigen Monaten im unmittelbaren Anschluß an "Moby-Dick". In einem Brief an seinen Freund Nathaniel Hawthorne enthüllt er für diesen Roman einen noch größeren Ehrgeiz als für den vorangegangenen - "Leviathan ist nicht der größte Fisch; ich habe von Kraken gehört!" - und legte einen krakenarmigen Roman hin, der sich vor allem im zweiten Teil streckenweise liest, als seien seinem Autor die Furien auf den Fersen und als wäre er selbst angesteckt von ihrer Rage - und das war er tatsächlich, denn wie auch immer sonst noch "Pierre" zu lesen ist, eines ist dieser Roman mit Sicherheit: die Reaktion des zutiefst gekränkten Melville auf die teils verständnislose, teils offen feindselige Aufnahme von "Moby-Dick", über den zum Beispiel D. H. Lawrence spottete: "O je, wenn der feierliche Esel dröhnt! dröhnt! dröhnt!"
Melville entgegnet in "Pierre", die Erfahrung lehre, "daß die Welt zwar Mittelmaß und Gewöhnlichkeit anbetet, aber aller zeitgenössischen Größe mit Feuer und Schwert begegnet. (. . .) Und obwohl diese Sachlage in Verbindung mit der stets steigenden Flut neuer Bücher unweigerlich auf eine künftige Zeit hinzuweisen scheint, da, wenn die Masse der gesamten Menschheit auf dieselbe Stufe des Schwachsinns abgesackt ist, die Autoren so selten sein werden wie heute die Alchimisten und die Druckerpresse als unbedeutende Erfindung gelten wird, so laß uns doch einander in die Arme sinken, oh, mein Aurelian."
"Pierre" ist also ohne Kenntnis der Lebensumstände seines Autors kaum zu begreifen. Melville brauchte Geld. Nachdem "Moby-Dick" auch beim Publikum durchgefallen war, versprach er seinem Verleger, dieses Mal einen populären Roman zu schreiben, und lange Zeit, während er an "Pierre" arbeitete, mag er selbst daran geglaubt haben. Die Energie, die seine hektische Produktivität antrieb, speiste sich aus der immensen Enttäuschung über die Reaktionen auf "Moby-Dick", und die Wut, die Melville seinem Helden gestattet, ist durchaus auf rhetorisch gleicher Höhe mit der von Ahab. Der kluge Anmerkungsteil, in dem Daniel Göske jedem Detail nachgeht, gibt Auskunft über einzelne Ereignisse im Leben Melvilles, die im Geschehen des Romans wiederauftauchen, erläutert Melvilles Lektüren und enträtselt viele der Kräuselungen im Metaphernmeer als Mythen- oder Bibelexegesen, in denen der ganze Reichtum von Melvilles Universum zum Vorschein kommt. Selbst in seiner ästhetischen Schieflage spricht aus "Pierre" eine Würde und ein Pathos gegenüber den großen Fragen, die hier verhandelt werden, daß dem Leser das empörende Schicksal Melvilles um so deutlicher vor Augen steht.
"Pierre" kostete Melville alles, was er an Ruf noch zu verlieren hatte, vom finanziellen Desaster zu schweigen. Unaufhaltsam glitt er mit diesem Buch über die vollkommene Ablehnung in die fast vollkommene Vergessenheit, in der er starb.
Wie also ist dieses Buch zu lesen? Mit Geduld, sicherlich. Wer sie aufbringt, stiefelt mit Melville hinab in die Tiefen eines radikal moralischen und damit auch eitlen Ichs und auf den Grund der christlichen Wahrheiten, auf denen unsere Kultur ruht. In ihrem Geist wurde Pierre erzogen, an sie glaubte er mit Inbrunst, bis er erfuhr, daß sie für den, der sie ihn lehrte, nicht galten. Pierre ist ein Mann, der daran verzweifelt. Er ist auch ein Mann, der im nächsten Moment seinen inzestuösen Begierden folgt und so eines der großen Tabus der Kultur bricht, die zu retten er angetreten ist. Vielleicht, hoffentlich ist das Publikum heute bereit, von diesen Doppeldeutigkeiten zu lesen und den Autor zu bewundern, der vor hundertfünfzig Jahren den Mut, den Scharfsinn und das gewaltige Sprachvermögen aufbrachte, von ihnen zu erzählen.
Herman Melville: "Pierre oder Die Doppeldeutigkeiten". Roman. Herausgegeben von Daniel Göske. Mit einem Nachwort von Hans-Joachim Lang. Aus dem Englischen übersetzt von Christa Schuenke. Hanser Verlag, München 2002. 740 S., geb., 34,90 [Euro].
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