In America, in the rich family estate of Saddle Meadows, the Glendinning family leads a luxurious and carefree existence – Mrs. Glendinning rotates in the upper circles of local society; her son, Pierre, an athlete and a talented young writer who gained his first fame, is going to marry the lovely Lucy, whom he seems to have a crush on. But an accidental meeting with the mysterious beauty Isabel threatens to destroy Pierre’s entire happy life, as she opens the veil of gloomy family secret.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.01.2003Der Staatsgefangene der Literatur
Herman Melvilles Schicksals-, Katastrophen- und Familienroman „Pierre” in einer neuen deutschen Übersetzung
Noch immer kreist wie ein riesiger, schwerfälliger Planet das Buch in seinem schmerzenden Kopf.
Herman Melville: Pierre
Wenn es mit rechten Dingen zuginge, wenn dieses Buch nicht von Herman Melville stammte, es würde heute nicht mehr gedruckt und schon gar nicht – hundertfünfzig Jahre nach seinem Erscheinen – so aufwändig und gediegen neu übersetzt. „Pierre” ist ein monströser Roman, der die ganze Verachtung vorführt, die sein Autor für Romane empfand. Deshalb gibt er nach etwa der Hälfte jeden Vorsatz auf, einen Roman zu schreiben.
Er konnte es einfach nicht.
Seine früheren Bücher, seine Berichte über seine Abenteuer in der Südsee, waren Abenteuergeschichten, Selbsterlebtes etwas blaubärig ausgeschmückt und mit viel gutem Willen (an dem es die heutige Melville- Industrie natürlich nicht fehlen lässt) utopisch zu verstehen: der edle Wilde, den man auf dem nordamerikanischen Kontinent gerade mit den Freuden des Alkohols vertraut machte und anschließend planmäßig ausrottete, erstand wieder im Pazifik, einem Traumland, von dem Kunde bisher nur sagenhaft, zum Beispiel nach der Meuterei auf der „Bounty” 1790, auf die Nordhalbkugel gedrungen war. „Ich hatte eine Empfindung, als wenn mir vor mir selber ekelte, dass ich hier so ruhig u. glückl. säße”, schrieb in Berlin der Student Wilhelm Heinrich Wackenroder an seinen Freund Ludwig Tieck. Der Matrose Melville, Meuterer Fletcher und Captain Bligh in Personalunion, hatte bei den Wilden gelebt, dort Sinnenfreuden genossen, die im pilgerväterischen Neuengland nicht erlaubt waren, und er wurde doch nicht gehenkt für seine Meuterei, sondern Bestsellerautor.
Melville wurde nicht verstanden. „Was ich am liebsten schreiben möchte, verbietet sich – es bringt nichts ein. Doch ganz und gar anders schreiben kann ich nicht. Das Ergebnis ist also eine Art Püree, und alle meine Bücher sind Pfuschwerk.” Er kann einfach nicht anders und muss doch: Zwei Bücher hat er nur des Geldes wegen geschrieben („Dollars damn me”), „nachdem ich dazu gezwungen wurde wie andere Leute zum Holzsägen ... So weit es sich nur um mich dreht & ich von meinem Beutel unabhängig bin”, meldet er trotzig seinem Schwiegervater, dem Obersten Richter im Bundesstaat Massachusetts, „so geht mein größtes Bestreben dahin, jene Art Bücher zu schreiben, von denen es heißt, sie seien ein ,Misserfolg‘”.
„Pierre or The Ambiguities”, sein siebtes Buch, erschien im Herbst 1852 in einer Auflage von 2310 Stück, von der sich genau 283 Exemplare verkauften. Es war bis dahin sein größer Fehlschlag, sein größter Erfolg. Die Rezensionen erschienen unter Überschriften wie „Herman Melville verrückt”, die Kritiker klagten, dass es kaum eine Dialogseite gebe, die nicht „komplett absurd” sei, entsetzten sich vor der „gänzlich unmoralischen Moral der Handlung”, entdeckten, gebildet, wie sie waren, in dem Buch „das, was ein tobender Irrer, der Jean Paul Richter in einer Übersetzung gelesen hat, vielleicht in einer besonders mondbeschienenen Nacht auszuspucken sich gedrängt fühlt”, und einer war sich schließlich sicher, „nie jemanden zu treffen, der die Lektüre des ganzen Buches auf sich genommen hat”.
Hier ist einer, und er hat finstre Qualen ausgestanden.
Verfasser dieser Rezension musste lesen, wie der junge Pierre, wenn er sich nicht unter frühlingsgrünen Bäumen ergeht, mit seiner jugendlichen Mutter turtelt, die ihm fürsorglich bereits die apfelfrische Lucy zur Braut bestimmt hat, mit der Pierre nichts als liebevollste und apfelfrischeste Koseworte wechselt, um dann wieder zu seiner Mutter zurückzuflattern und sich mit ihr in den allerzartesten Armen zu liegen. Musste lesen, wie sich dies ländliche Idyll eintrübt, weil sich beim Master Pierre eine junge Frau meldet und ihm entdeckt, dass sie seines Vaters verleugnete, fern des ehelichen Bettes gezeugte Tochter, mithin Pierres schon immer schmerzlich vermisste Schwester sei, worauf Pierre, ganz Edelmann, die Verlobung mit Lucy löst, von seiner Mutter im Streit scheidet, ihr aber so wenig wie Lucy den Grund offenbart, vielmehr mit der gefundenen Schwester Isabel und zum Schein verheiratet die grünen Hügel von Massachusetts verlässt, nach New York umzieht, sich dort in bohemistischen Umständen einrichtet und einen Roman schreibt.
Alles oder nichts
Ja, plötzlich ist unser guter Pierre Schriftsteller, schreibt er, als hätte er nie was anderes getrieben, gleich den Alles-oder-Nichts-Roman. Irgendwie findet ihn Lucy dann, versteht ihn, verzeiht ihm und bittet um Asyl in der Dichterwohnung, wo sie an ihrer Staffelei Geld für die Dreier-Menage verdienen wird. O Pierre, geht es schöner: „An jeder Hand umklammert von einem Mädchen, das ihr Leben für ihn gegeben hätte”, doch am Schluss – darf man soviel schon verraten? – sind sie tot, alle drei.
Der Roman. Ein Exkurs. „Pierre”, zehn Monate nach dem „Moby- Dick” erschienen, ist eine weitere monströse Fischsuppe, aber diesmal nur noch als Zumutung. „Pierre” ist blass, ungekonnt, unfertig, ein grauenhaftes Durcheinander aus Bauerntheaterdramatik und Weltverzweiflungsgetöse. Melville konnte viel (das hatte er im „Moby-Dick” gezeigt), aber er konnte keine Romane schreiben (auch das hatte er im „Moby-Dick” gezeigt).
In einem poetologischen Exkurs gibt der Erzähler seinen Pierre als Fachmann nur aus, um das Fach zu diskreditieren: „Wie alle Jünglinge hatte er seine Lektion in Romanen gründlich gelernt, hatte mehr Romane gelesen als die meisten seines Alters; doch ihre falschen, verkehrten Versuche, Dingen eine Ordnung zu geben, die sich nun einmal nie und nimmer in eine Ordnung bringen lassen, ihre unverschämte, zudringliche Ohnmacht, jene Fäden, dünner als Marienfäden, zu entwirren und in die Länge zu ziehen und zu sortieren, jene Fäden, aus denen das komplizierte Gewebe des Lebens geschaffen ist, all das hatte inzwischen keine Macht mehr über Pierre. Er durchschaute ihr hilfloses Elend...” – oder vielmehr durchschaut es der redselige Melville, schreibt, durchschaut, schreibt weiter und geht doch unter in dem ganzen Elend.
Seinem englischen Verleger verspricht er, das neue Buch werde „viel mehr auf den Publikumsgeschmack ausgerichtet als alles, was Sie bisher von mir herausgebracht haben – ein echter Roman mit einer kriminalistischen Handlung & aufwühlenden Leidenschaften am Werk, die einen neuen und erhabenen Aspekt des amerikanischen Lebens zeigen”, wo er doch schon von Anfang an hasst, was er da tut, nämlich wieder Holz sägen, wieder Pfuscharbeit, wieder die verdammten Dollars.
Der Autor. Ein Vexierbild. „Von acht Uhr früh bis halb fünf Uhr nachmittags sitzt Pierre dort in seinem Zimmer; – acht Stunden und eine halbe! (...) Er will nicht, dass man ihn besucht; er will nicht, dass man ihn stört. Bisweilen vernimmt Isabels waches Ohr, wie die Stille und das lange, einsame Kratzen seiner Feder einander abwechseln. Es ist, als hörte sie die geschäftige Pfote eines mitternächtlichen Maulwurfs im Erdreich.” Das ist zwar notfalls eine Anspielung auf den „Hamlet”, rettet aber Pierre so wenig wie seinen fronenden Autor vor dem Roman. „Ist es Erschaffung oder Zerstörung? Errichtet Pierre die edle Welt eines neuen Buches?” Ja, schön wär’s. Die Familie hofft darauf, die reiche Verwandtschaft, und die Leser wollen ihren Abenteuergeschichtenerzähler wieder haben. Melville will aber nicht.
„Pierre” erinnert manchmal an die ziellos schweifenden, die ungebärdigen Romane der deutschen Romantik, nur geht ihm fast alle Ironie ab. Grimm setzt er ein dafür, beschwört alles, was hoch und heilig ist und flüchtet sich in Beruhigungsgemurmel. Weiß er doch, was da kommen wird, und schreibt sich vorsorglich Mut an: „Alle Lobeshymnen, alle Verrisse, alle wie auch immer geartete Kritik kamen für Pierre zu spät.” Pierre ist Herman Melville, wenn Pierre so hochgemut schwadroniert: „Ich werde der Welt ein neues Evangelium verkünden und den Menschen Geheimnisse zeigen, die tiefer sind als die der Offenbarung! – ich wer-de es schreiben, ich werde es schreiben!” Dass die Offenbarung sich las wie ein Plädoyer für den Inzest als natürlichste Lebensform, machte ihn allerdings für amerikanisch-puritanische Begriffe zum größten anzunehmenden Ketzer. Seinem Schriftsteller-Freund Nathaniel Hawthorne prophezeite er während der Arbeit an „Moby-Dick” vorsorglich: „Und schriebe ich auch die Evangelien dieses Jahrhunderts, würde ich doch in der Gosse sterben.” Christus mit Verlaub war nichts dagegen.
Was das Gesetz nicht erlaubt
Sogar die Sehschwäche des 32jährigen Melville bekommt der 20jährige Pierre zugeteilt, aber wenn er „an manchen Tagen beinahe mit geschlossenen Lidern schrieb”, dann war das der Abscheu vor dem Buch, das sich verkaufen und auch noch die Kritiker zufrieden stellen sollte. Melville malt sich da als blinder Schreiber und als einen „höchst widerstrebenden Staatsgefangenen der Literatur”. Aber wer hat ihn denn gefangen gesetzt?
Die Familie. Eine Zwangshandlung. Es mag ja nicht gut sein, dass der Mensch allein sei, aber besser wär’s. Vom „Paradies der Junggesellen” hat Melville ge-schrieben, bei der christlichen Seefahrt die Liebe im Hafen genossen, doch in Pittsfield, wo er im Sommer 1850 die Farm „Arrowhead” gekauft hatte, lebte Melville mit Frau und erst einem Kind, mit seiner Mutter und seinen unverheirateten Schwestern. Alle hockten um ihn herum, alle wollten von ihm ernährt werden. Und er? Wollte Dante sein und größer als Shakespeare.
Wer da nicht an die Hölle glaubt, ist fürs Jenseits sowieso verloren: Drinnen der Maulwurf, der übers Papier scharrt, draußen die Familie, die ihn behütet und belauert. Schreibt er und was schreibt er wieder? Pierre und Isabel, seine spät aufgetauchte Schwester, sind sich näher, als das Gesetz es erlaubte. Ein Liebespaar sind sie gewiss, aber verheiratet nur vor der Welt. Lucy auf dem Weg zurück in die Natur weiß es besser und findet sich als dritte in diesen heiligen Bund. Die Kritiker waren empört. Sie waren nicht dumm, denn der Satanist Melville begann schon 1852 das große Zerstörungswerk an der amerikanischen Kleinfamilie, das dann Dreiser, Hemingway, Tennessee Williams, Arthur Miller, Updike und zuletzt Jonathan Franzen mit großem Fleiß fortgesetzt haben.
Besser als Amerika
„Incest is a game the whole family can play”, geht ein bewährter Kalauer. Die neue, die Heilige Familie, gründet sich um den vermeintlichen Bankert von Pierres Vater. Die glutäugige, dunkelhaarige, sinnenfrohe Wildlingin grüßt herüber von den glückseligen Inseln in der Südsee, das bessere Spiegelbild und vor allem das Gegenteil des „protestantischen Triumphalismus”, den Melville auf großer Fahrt und in seiner Familie erlebt hat. Das ist die eigentliche Unmoral von „Pierre”: die Unterstellung, es könnte etwas Besseres geben als das wohlhabende Amerika. Eine geläuterte Lucy gesellt sich dem seltsamen Paar bei; sie hat sich selber entlassen aus dem Sippenverbund der kalvinistischen Aristokratie. Auch sie ein Abbild des immer flüchtigen und immer angeschirrten Herman Melville.
Der Leviathan. Ein Evergreen. Der Leviathan, auf den die Jagd diesmal geht, ist nichts Geringeres als Amerika. Der Schriftsteller Melville verließ in seinem siebten Buch zum ersten Mal das Meer und musste bei diesem Manöver unweigerlich scheitern. Vergeblich hat er den Roman „Seiner Allerhöchsten Majestät Mount Greylock” gewidmet, auf den er beim Schreiben von seinem Haus aus blickte. Der Berg liegt da wie, nun ja, wie ein gestrandeter Wal, aber Melville fand die Freiheit des Meeres nicht mehr. Er war im Binnenland gefangen. Amerika ist bekanntlich unbesiegbar.
Gott ist tot. Noch ein Versuch. Der arme Melville kann sich nicht freilassen. Wenn Pierre durchs neuenglische Idyll schlendert, fällt ihn aus dem arkadischen Hain doch nur an, was seinen Erfinder pausenlos beschäftigt: die rasende Verzweiflung darüber, dass Gott tot sei. „Vor dem Unglücklichen ziehen, sofern er regsamen Geistes ist, alle Zeitalter der Welt wie eine Prozession von Kettensträflingen vorüber, und all die Kettenglieder ohne Zahl rasseln in dem Mysterium der Trauer.”
Melville war einer davon, krummgeschlossen an die Familie, die ernährt sein wollte, und geschmiedet mit allem Eisen des 19. Jahrhunderts an einen Gott, den er anbeten wollte, der es aber vorzog, finster zu schweigen. Die Weltgeschichte ist das Weltgericht, und wir sind alle Kettensträflinge seit je. Melville kreist um Gott, diesen uralten Turm, kann ihn nur hassen und doch nicht lassen. „Mit der Seele eines Gottlosen schrieb er die göttlichsten Dinge nieder”, sagt er über Pierre. „In sich das Gefühl von Elend und Tod, schuf er Gestalten voll Freude und Leben.”
WILLI WINKLER
HERMAN MELVILLE: Pierre oder Die Doppeldeutigkeiten. Deutsch von Christa Schuenke. Mit einem Nachwort von H.-J. Lang und Anmerkungen des Herausgebers Daniel Göske. Hanser Verlag, München 2002. 742 S., 34,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Herman Melvilles Schicksals-, Katastrophen- und Familienroman „Pierre” in einer neuen deutschen Übersetzung
Noch immer kreist wie ein riesiger, schwerfälliger Planet das Buch in seinem schmerzenden Kopf.
Herman Melville: Pierre
Wenn es mit rechten Dingen zuginge, wenn dieses Buch nicht von Herman Melville stammte, es würde heute nicht mehr gedruckt und schon gar nicht – hundertfünfzig Jahre nach seinem Erscheinen – so aufwändig und gediegen neu übersetzt. „Pierre” ist ein monströser Roman, der die ganze Verachtung vorführt, die sein Autor für Romane empfand. Deshalb gibt er nach etwa der Hälfte jeden Vorsatz auf, einen Roman zu schreiben.
Er konnte es einfach nicht.
Seine früheren Bücher, seine Berichte über seine Abenteuer in der Südsee, waren Abenteuergeschichten, Selbsterlebtes etwas blaubärig ausgeschmückt und mit viel gutem Willen (an dem es die heutige Melville- Industrie natürlich nicht fehlen lässt) utopisch zu verstehen: der edle Wilde, den man auf dem nordamerikanischen Kontinent gerade mit den Freuden des Alkohols vertraut machte und anschließend planmäßig ausrottete, erstand wieder im Pazifik, einem Traumland, von dem Kunde bisher nur sagenhaft, zum Beispiel nach der Meuterei auf der „Bounty” 1790, auf die Nordhalbkugel gedrungen war. „Ich hatte eine Empfindung, als wenn mir vor mir selber ekelte, dass ich hier so ruhig u. glückl. säße”, schrieb in Berlin der Student Wilhelm Heinrich Wackenroder an seinen Freund Ludwig Tieck. Der Matrose Melville, Meuterer Fletcher und Captain Bligh in Personalunion, hatte bei den Wilden gelebt, dort Sinnenfreuden genossen, die im pilgerväterischen Neuengland nicht erlaubt waren, und er wurde doch nicht gehenkt für seine Meuterei, sondern Bestsellerautor.
Melville wurde nicht verstanden. „Was ich am liebsten schreiben möchte, verbietet sich – es bringt nichts ein. Doch ganz und gar anders schreiben kann ich nicht. Das Ergebnis ist also eine Art Püree, und alle meine Bücher sind Pfuschwerk.” Er kann einfach nicht anders und muss doch: Zwei Bücher hat er nur des Geldes wegen geschrieben („Dollars damn me”), „nachdem ich dazu gezwungen wurde wie andere Leute zum Holzsägen ... So weit es sich nur um mich dreht & ich von meinem Beutel unabhängig bin”, meldet er trotzig seinem Schwiegervater, dem Obersten Richter im Bundesstaat Massachusetts, „so geht mein größtes Bestreben dahin, jene Art Bücher zu schreiben, von denen es heißt, sie seien ein ,Misserfolg‘”.
„Pierre or The Ambiguities”, sein siebtes Buch, erschien im Herbst 1852 in einer Auflage von 2310 Stück, von der sich genau 283 Exemplare verkauften. Es war bis dahin sein größer Fehlschlag, sein größter Erfolg. Die Rezensionen erschienen unter Überschriften wie „Herman Melville verrückt”, die Kritiker klagten, dass es kaum eine Dialogseite gebe, die nicht „komplett absurd” sei, entsetzten sich vor der „gänzlich unmoralischen Moral der Handlung”, entdeckten, gebildet, wie sie waren, in dem Buch „das, was ein tobender Irrer, der Jean Paul Richter in einer Übersetzung gelesen hat, vielleicht in einer besonders mondbeschienenen Nacht auszuspucken sich gedrängt fühlt”, und einer war sich schließlich sicher, „nie jemanden zu treffen, der die Lektüre des ganzen Buches auf sich genommen hat”.
Hier ist einer, und er hat finstre Qualen ausgestanden.
Verfasser dieser Rezension musste lesen, wie der junge Pierre, wenn er sich nicht unter frühlingsgrünen Bäumen ergeht, mit seiner jugendlichen Mutter turtelt, die ihm fürsorglich bereits die apfelfrische Lucy zur Braut bestimmt hat, mit der Pierre nichts als liebevollste und apfelfrischeste Koseworte wechselt, um dann wieder zu seiner Mutter zurückzuflattern und sich mit ihr in den allerzartesten Armen zu liegen. Musste lesen, wie sich dies ländliche Idyll eintrübt, weil sich beim Master Pierre eine junge Frau meldet und ihm entdeckt, dass sie seines Vaters verleugnete, fern des ehelichen Bettes gezeugte Tochter, mithin Pierres schon immer schmerzlich vermisste Schwester sei, worauf Pierre, ganz Edelmann, die Verlobung mit Lucy löst, von seiner Mutter im Streit scheidet, ihr aber so wenig wie Lucy den Grund offenbart, vielmehr mit der gefundenen Schwester Isabel und zum Schein verheiratet die grünen Hügel von Massachusetts verlässt, nach New York umzieht, sich dort in bohemistischen Umständen einrichtet und einen Roman schreibt.
Alles oder nichts
Ja, plötzlich ist unser guter Pierre Schriftsteller, schreibt er, als hätte er nie was anderes getrieben, gleich den Alles-oder-Nichts-Roman. Irgendwie findet ihn Lucy dann, versteht ihn, verzeiht ihm und bittet um Asyl in der Dichterwohnung, wo sie an ihrer Staffelei Geld für die Dreier-Menage verdienen wird. O Pierre, geht es schöner: „An jeder Hand umklammert von einem Mädchen, das ihr Leben für ihn gegeben hätte”, doch am Schluss – darf man soviel schon verraten? – sind sie tot, alle drei.
Der Roman. Ein Exkurs. „Pierre”, zehn Monate nach dem „Moby- Dick” erschienen, ist eine weitere monströse Fischsuppe, aber diesmal nur noch als Zumutung. „Pierre” ist blass, ungekonnt, unfertig, ein grauenhaftes Durcheinander aus Bauerntheaterdramatik und Weltverzweiflungsgetöse. Melville konnte viel (das hatte er im „Moby-Dick” gezeigt), aber er konnte keine Romane schreiben (auch das hatte er im „Moby-Dick” gezeigt).
In einem poetologischen Exkurs gibt der Erzähler seinen Pierre als Fachmann nur aus, um das Fach zu diskreditieren: „Wie alle Jünglinge hatte er seine Lektion in Romanen gründlich gelernt, hatte mehr Romane gelesen als die meisten seines Alters; doch ihre falschen, verkehrten Versuche, Dingen eine Ordnung zu geben, die sich nun einmal nie und nimmer in eine Ordnung bringen lassen, ihre unverschämte, zudringliche Ohnmacht, jene Fäden, dünner als Marienfäden, zu entwirren und in die Länge zu ziehen und zu sortieren, jene Fäden, aus denen das komplizierte Gewebe des Lebens geschaffen ist, all das hatte inzwischen keine Macht mehr über Pierre. Er durchschaute ihr hilfloses Elend...” – oder vielmehr durchschaut es der redselige Melville, schreibt, durchschaut, schreibt weiter und geht doch unter in dem ganzen Elend.
Seinem englischen Verleger verspricht er, das neue Buch werde „viel mehr auf den Publikumsgeschmack ausgerichtet als alles, was Sie bisher von mir herausgebracht haben – ein echter Roman mit einer kriminalistischen Handlung & aufwühlenden Leidenschaften am Werk, die einen neuen und erhabenen Aspekt des amerikanischen Lebens zeigen”, wo er doch schon von Anfang an hasst, was er da tut, nämlich wieder Holz sägen, wieder Pfuscharbeit, wieder die verdammten Dollars.
Der Autor. Ein Vexierbild. „Von acht Uhr früh bis halb fünf Uhr nachmittags sitzt Pierre dort in seinem Zimmer; – acht Stunden und eine halbe! (...) Er will nicht, dass man ihn besucht; er will nicht, dass man ihn stört. Bisweilen vernimmt Isabels waches Ohr, wie die Stille und das lange, einsame Kratzen seiner Feder einander abwechseln. Es ist, als hörte sie die geschäftige Pfote eines mitternächtlichen Maulwurfs im Erdreich.” Das ist zwar notfalls eine Anspielung auf den „Hamlet”, rettet aber Pierre so wenig wie seinen fronenden Autor vor dem Roman. „Ist es Erschaffung oder Zerstörung? Errichtet Pierre die edle Welt eines neuen Buches?” Ja, schön wär’s. Die Familie hofft darauf, die reiche Verwandtschaft, und die Leser wollen ihren Abenteuergeschichtenerzähler wieder haben. Melville will aber nicht.
„Pierre” erinnert manchmal an die ziellos schweifenden, die ungebärdigen Romane der deutschen Romantik, nur geht ihm fast alle Ironie ab. Grimm setzt er ein dafür, beschwört alles, was hoch und heilig ist und flüchtet sich in Beruhigungsgemurmel. Weiß er doch, was da kommen wird, und schreibt sich vorsorglich Mut an: „Alle Lobeshymnen, alle Verrisse, alle wie auch immer geartete Kritik kamen für Pierre zu spät.” Pierre ist Herman Melville, wenn Pierre so hochgemut schwadroniert: „Ich werde der Welt ein neues Evangelium verkünden und den Menschen Geheimnisse zeigen, die tiefer sind als die der Offenbarung! – ich wer-de es schreiben, ich werde es schreiben!” Dass die Offenbarung sich las wie ein Plädoyer für den Inzest als natürlichste Lebensform, machte ihn allerdings für amerikanisch-puritanische Begriffe zum größten anzunehmenden Ketzer. Seinem Schriftsteller-Freund Nathaniel Hawthorne prophezeite er während der Arbeit an „Moby-Dick” vorsorglich: „Und schriebe ich auch die Evangelien dieses Jahrhunderts, würde ich doch in der Gosse sterben.” Christus mit Verlaub war nichts dagegen.
Was das Gesetz nicht erlaubt
Sogar die Sehschwäche des 32jährigen Melville bekommt der 20jährige Pierre zugeteilt, aber wenn er „an manchen Tagen beinahe mit geschlossenen Lidern schrieb”, dann war das der Abscheu vor dem Buch, das sich verkaufen und auch noch die Kritiker zufrieden stellen sollte. Melville malt sich da als blinder Schreiber und als einen „höchst widerstrebenden Staatsgefangenen der Literatur”. Aber wer hat ihn denn gefangen gesetzt?
Die Familie. Eine Zwangshandlung. Es mag ja nicht gut sein, dass der Mensch allein sei, aber besser wär’s. Vom „Paradies der Junggesellen” hat Melville ge-schrieben, bei der christlichen Seefahrt die Liebe im Hafen genossen, doch in Pittsfield, wo er im Sommer 1850 die Farm „Arrowhead” gekauft hatte, lebte Melville mit Frau und erst einem Kind, mit seiner Mutter und seinen unverheirateten Schwestern. Alle hockten um ihn herum, alle wollten von ihm ernährt werden. Und er? Wollte Dante sein und größer als Shakespeare.
Wer da nicht an die Hölle glaubt, ist fürs Jenseits sowieso verloren: Drinnen der Maulwurf, der übers Papier scharrt, draußen die Familie, die ihn behütet und belauert. Schreibt er und was schreibt er wieder? Pierre und Isabel, seine spät aufgetauchte Schwester, sind sich näher, als das Gesetz es erlaubte. Ein Liebespaar sind sie gewiss, aber verheiratet nur vor der Welt. Lucy auf dem Weg zurück in die Natur weiß es besser und findet sich als dritte in diesen heiligen Bund. Die Kritiker waren empört. Sie waren nicht dumm, denn der Satanist Melville begann schon 1852 das große Zerstörungswerk an der amerikanischen Kleinfamilie, das dann Dreiser, Hemingway, Tennessee Williams, Arthur Miller, Updike und zuletzt Jonathan Franzen mit großem Fleiß fortgesetzt haben.
Besser als Amerika
„Incest is a game the whole family can play”, geht ein bewährter Kalauer. Die neue, die Heilige Familie, gründet sich um den vermeintlichen Bankert von Pierres Vater. Die glutäugige, dunkelhaarige, sinnenfrohe Wildlingin grüßt herüber von den glückseligen Inseln in der Südsee, das bessere Spiegelbild und vor allem das Gegenteil des „protestantischen Triumphalismus”, den Melville auf großer Fahrt und in seiner Familie erlebt hat. Das ist die eigentliche Unmoral von „Pierre”: die Unterstellung, es könnte etwas Besseres geben als das wohlhabende Amerika. Eine geläuterte Lucy gesellt sich dem seltsamen Paar bei; sie hat sich selber entlassen aus dem Sippenverbund der kalvinistischen Aristokratie. Auch sie ein Abbild des immer flüchtigen und immer angeschirrten Herman Melville.
Der Leviathan. Ein Evergreen. Der Leviathan, auf den die Jagd diesmal geht, ist nichts Geringeres als Amerika. Der Schriftsteller Melville verließ in seinem siebten Buch zum ersten Mal das Meer und musste bei diesem Manöver unweigerlich scheitern. Vergeblich hat er den Roman „Seiner Allerhöchsten Majestät Mount Greylock” gewidmet, auf den er beim Schreiben von seinem Haus aus blickte. Der Berg liegt da wie, nun ja, wie ein gestrandeter Wal, aber Melville fand die Freiheit des Meeres nicht mehr. Er war im Binnenland gefangen. Amerika ist bekanntlich unbesiegbar.
Gott ist tot. Noch ein Versuch. Der arme Melville kann sich nicht freilassen. Wenn Pierre durchs neuenglische Idyll schlendert, fällt ihn aus dem arkadischen Hain doch nur an, was seinen Erfinder pausenlos beschäftigt: die rasende Verzweiflung darüber, dass Gott tot sei. „Vor dem Unglücklichen ziehen, sofern er regsamen Geistes ist, alle Zeitalter der Welt wie eine Prozession von Kettensträflingen vorüber, und all die Kettenglieder ohne Zahl rasseln in dem Mysterium der Trauer.”
Melville war einer davon, krummgeschlossen an die Familie, die ernährt sein wollte, und geschmiedet mit allem Eisen des 19. Jahrhunderts an einen Gott, den er anbeten wollte, der es aber vorzog, finster zu schweigen. Die Weltgeschichte ist das Weltgericht, und wir sind alle Kettensträflinge seit je. Melville kreist um Gott, diesen uralten Turm, kann ihn nur hassen und doch nicht lassen. „Mit der Seele eines Gottlosen schrieb er die göttlichsten Dinge nieder”, sagt er über Pierre. „In sich das Gefühl von Elend und Tod, schuf er Gestalten voll Freude und Leben.”
WILLI WINKLER
HERMAN MELVILLE: Pierre oder Die Doppeldeutigkeiten. Deutsch von Christa Schuenke. Mit einem Nachwort von H.-J. Lang und Anmerkungen des Herausgebers Daniel Göske. Hanser Verlag, München 2002. 742 S., 34,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.12.2002Leviathan ist nicht der größte Fisch
Der krakenhafte Roman, der ihn in Armut und Wahnsinn trieb: Herman Melvilles "Pierre" in einer glänzenden neuen Übersetzung
Was ist von einem Roman zu halten, der auf der dritten Seite und mitten im Frieden mit folgendem Dialog aufwartet: "Ich muß jetzt gehen, Lucy; schau! unter diesen Fahnen zieh' ich fort." - "Bravissimo! Oh, mein einziger Rekrut!", um sich unmittelbar im Anschluß an diese verliebten Rufe in einen familiengeschichtlichen Exkurs in die Zeit der Indianerkriege zu begeben, denen Überlegungen zur Bedeutung von Stadt und Acker in der Landschaft der amerikanischen Demokratie und zu ihrem Einfluß auf die Stammbäume edler Familien folgen? Der sodann eine untergründig erotische Liebe zwischen Mutter und Sohn beschreibt, in der die Mutter ihren Sohn "Bruder Pierre" nennt, während er sie mit "Schwester Mary" anredet?
Woran soll der Leser sich halten in einem Roman, dessen Erzähler immer wieder aus der Handlung heraustritt, um an die Scheinhaftigkeit der Welt zu erinnern, um sich von seinem Helden zu distanzieren oder auch ihm näher zu rücken? Was will dieser Roman, der schicksalsschwangere Vorahnungen, das Auftauchen eines alles verändernden Briefs und moralphilosophische Abwägungen mit schauerromantischen Passagen aus den Wäldern des Staats New York kombiniert und dann von einer schluchzenden Gitarre erzählt? Was soll der Leser, der bisher den Klängen eines sentimentalen Liebesromans gefolgt ist und sich durch ausufernde Skizzen eines philosophischen, eines psychologischen sowie eines Schauer- und eines Bildungsromans gearbeitet hat, was soll dieser Leser über ein Buch denken, das nach alldem auf Seite 423 ein weiteres wesentliches Motiv einführt: daß Pierre nämlich nicht nur ein enthusiastischer Wahrheitssucher ist - sondern auch ein Schriftsteller, dem bereits einige Lorbeerkränze gewunden wurden, was zu höhnischen Sottisen auf den Literaturbetrieb und scharfsinnigen Reflexionen über Erfolg und Mißerfolg bei den Kritikern Anlaß gibt?
Und wie paßt in diese böse Satire die große, Macbeth-blutige Sterbeszene am Schluß, in der es aus dem Dunkel ruft: "Ihr kennt ihn nicht!"? Was also erzählt uns "Pierre oder Die Doppeldeutigkeiten" von Herman Melville, jener kaum bekannte Roman von 1852, der nun (nach einem ersten Versuch von 1965) endlich in einer kongenialen deutschen Übersetzung vorliegt?
"Melville ist verrückt geworden", urteilten seine Zeitgenossen. Seine Familie ging nicht ganz so weit, teilte aber die Besorgnis um seinen Geisteszustand, und seine Frau behauptete gar, "Pierre" habe ihren Mann umgebracht. Fast einhundertfünfzig Jahre später befand einer von Melvilles Biographen: "Melvilles oft sardonische Überlegungen über seine eigene Laufbahn passen nicht zu der Geschichte von der Konfrontation einer idealistischen Seele mit der konventionellen Welt" - und nahm sich die Freiheit, eine amerikanische Fassung herauszubringen, die den Roman schlichtweg um die beanstandeten Teile kürzte. Autor und Vollstrecker dieser absonderlichen Idee war übrigens ausgerechnet Hershel Parker, der die verbindliche Ausgabe von Melvilles Schriften (die Northwestern-Newberry-Edition, die auch der deutschen Übertragung zugrunde liegt) mitverantwortet und mit seiner zweibändigen Biographie, die erst in diesem Jahr zum Abschluß kam, wohl die fundierteste Studie über Melvilles Leben vorgelegt hat. Der Internet-Buchhändler Amazon hingegen macht es sich in seiner Inhaltswiedergabe leichter mit dem dicken Buch. Dies sei die Geschichte eines jungen Mannes, "der alles aufs Spiel setzt, als er mit seiner Geliebten nach New York flieht und nicht nur seine Verlobte, sondern sein ganzes bisheriges Leben hinter sich läßt". Die Zusammenfassung verschweigt, daß Pierres Geliebte seine Schwester ist. Gerade das aber ist der Punkt und einer derer, die Melvilles Zeitgenossen außerordentlich erzürnten.
Grob zusammengefaßt, geschieht in "Pierre" folgendes: Der Titelheld, dessen Vater früh in einem von seltsamen Visionen begleiteten Fieberanfall starb, lebt mit seiner Mutter auf den Gütern der Familie in Saddle-Meadows im Bundesstaat New York. Er ist standesgemäß verlobt mit Lucy, zögert aber, von Wachtraumbildern einer verführerischen Schönheit in Zweifel gestürzt, die offizielle Verlobung hinaus. Bei einem Nähkränzchen trifft er ein junges Mädchen, Isabel, das seinen Traumbildern gleicht und bei seinem Anblick in Ohnmacht sinkt. Später erreicht ihn ein Brief, in dem sich diese Isabel als seine Schwester ausgibt, von Pierres Vater unehelich mit einer Französin gezeugt und offenbar Gegenstand väterlicher Fiebervisionen auf dem Totenbett.
Pierre glaubt dem Brief. Alles, was ihm heilig war, scheint plötzlich ebenso falsch wie die unbefleckte Erinnerung an den Vater. Selbst die Natur, einst voller Verheißung, wird ihm nun, da sie angesichts der Monstrosität der Eröffnungen Isabels und auch angesichts seines eigenen erregten Bebens so indifferent bleibt, zum dämonischen Gleichnis von Abscheulichkeiten, von Inzest und Titanenkämpfen. Nicht nur Melville, auch Pierre kennt "Hamlet", und so macht sich unser Held daran, die Welt, die aus den Fugen ist, zu retten. Er gibt seine angebliche Schwester Isabel als seine heimlich angetraute Frau aus und verliert dadurch nicht nur sein Glück mit Lucy und die Liebe seiner Mutter, sondern auch sein Erbe. Verarmt versucht er in New York, ein großes Buch zu schreiben, das möglicherweise jenes ist, das wir gerade lesen. Dann nimmt die Tragödie ihren Lauf bis zum blutigen Ende.
Man kann "Pierre" als Landroman lesen, den Melville seinem "Moby-Dick" folgen ließ, als ebenso großen Entwurf über das Scheitern eines Enthusiasten, dem das Schicksal in seiner unergründlichen Rätselhaftigkeit entgegentritt wie Ahab der weiße Wal. Mit seinen grandiosen Stilparodien der populären literarischen Genres seiner Zeit ist "Pierre" gleichzeitig ein ironischer Kommentar zu den Werken seiner Schriftstellerkollegen, die "lyrische Gedanken wiehern", gerade so wie der Held in der Idylle des ersten Romanteils. Und "Pierre" ist auch die Rache Melvilles am Literaturbetrieb, bevor dieser ihn endgültig vernichtete. Über Pierres Frühwerk, das zwei Verleger, die einst Schneider waren, herausbringen wollen, schwärmen die Rezensenten, daß sich der Autor nie gestattete, "Aufsehen zu erregen, nie zu etwas Ungeschlachtem oder Neuen verführen ließ". Später heißt es, es gebe genau zwei Methoden des Erzählens, nämlich zeitlich zusammenhängende Ereignisse und Tatsachen auch in diesem Zusammenhang hinzuschreiben oder aber nur die auszuwählen, die für den Fortgang einer Geschichte unerläßlich seien. Melville indes kümmerten beide nicht: "Ich schreibe exakt so, wie es mir paßt."
"Pierre" ist Melvilles siebter Roman. Der Autor schrieb ihn in hitziger Erregung in nur wenigen Monaten im unmittelbaren Anschluß an "Moby-Dick". In einem Brief an seinen Freund Nathaniel Hawthorne enthüllt er für diesen Roman einen noch größeren Ehrgeiz als für den vorangegangenen - "Leviathan ist nicht der größte Fisch; ich habe von Kraken gehört!" - und legte einen krakenarmigen Roman hin, der sich vor allem im zweiten Teil streckenweise liest, als seien seinem Autor die Furien auf den Fersen und als wäre er selbst angesteckt von ihrer Rage - und das war er tatsächlich, denn wie auch immer sonst noch "Pierre" zu lesen ist, eines ist dieser Roman mit Sicherheit: die Reaktion des zutiefst gekränkten Melville auf die teils verständnislose, teils offen feindselige Aufnahme von "Moby-Dick", über den zum Beispiel D. H. Lawrence spottete: "O je, wenn der feierliche Esel dröhnt! dröhnt! dröhnt!"
Melville entgegnet in "Pierre", die Erfahrung lehre, "daß die Welt zwar Mittelmaß und Gewöhnlichkeit anbetet, aber aller zeitgenössischen Größe mit Feuer und Schwert begegnet. (. . .) Und obwohl diese Sachlage in Verbindung mit der stets steigenden Flut neuer Bücher unweigerlich auf eine künftige Zeit hinzuweisen scheint, da, wenn die Masse der gesamten Menschheit auf dieselbe Stufe des Schwachsinns abgesackt ist, die Autoren so selten sein werden wie heute die Alchimisten und die Druckerpresse als unbedeutende Erfindung gelten wird, so laß uns doch einander in die Arme sinken, oh, mein Aurelian."
"Pierre" ist also ohne Kenntnis der Lebensumstände seines Autors kaum zu begreifen. Melville brauchte Geld. Nachdem "Moby-Dick" auch beim Publikum durchgefallen war, versprach er seinem Verleger, dieses Mal einen populären Roman zu schreiben, und lange Zeit, während er an "Pierre" arbeitete, mag er selbst daran geglaubt haben. Die Energie, die seine hektische Produktivität antrieb, speiste sich aus der immensen Enttäuschung über die Reaktionen auf "Moby-Dick", und die Wut, die Melville seinem Helden gestattet, ist durchaus auf rhetorisch gleicher Höhe mit der von Ahab. Der kluge Anmerkungsteil, in dem Daniel Göske jedem Detail nachgeht, gibt Auskunft über einzelne Ereignisse im Leben Melvilles, die im Geschehen des Romans wiederauftauchen, erläutert Melvilles Lektüren und enträtselt viele der Kräuselungen im Metaphernmeer als Mythen- oder Bibelexegesen, in denen der ganze Reichtum von Melvilles Universum zum Vorschein kommt. Selbst in seiner ästhetischen Schieflage spricht aus "Pierre" eine Würde und ein Pathos gegenüber den großen Fragen, die hier verhandelt werden, daß dem Leser das empörende Schicksal Melvilles um so deutlicher vor Augen steht.
"Pierre" kostete Melville alles, was er an Ruf noch zu verlieren hatte, vom finanziellen Desaster zu schweigen. Unaufhaltsam glitt er mit diesem Buch über die vollkommene Ablehnung in die fast vollkommene Vergessenheit, in der er starb.
Wie also ist dieses Buch zu lesen? Mit Geduld, sicherlich. Wer sie aufbringt, stiefelt mit Melville hinab in die Tiefen eines radikal moralischen und damit auch eitlen Ichs und auf den Grund der christlichen Wahrheiten, auf denen unsere Kultur ruht. In ihrem Geist wurde Pierre erzogen, an sie glaubte er mit Inbrunst, bis er erfuhr, daß sie für den, der sie ihn lehrte, nicht galten. Pierre ist ein Mann, der daran verzweifelt. Er ist auch ein Mann, der im nächsten Moment seinen inzestuösen Begierden folgt und so eines der großen Tabus der Kultur bricht, die zu retten er angetreten ist. Vielleicht, hoffentlich ist das Publikum heute bereit, von diesen Doppeldeutigkeiten zu lesen und den Autor zu bewundern, der vor hundertfünfzig Jahren den Mut, den Scharfsinn und das gewaltige Sprachvermögen aufbrachte, von ihnen zu erzählen.
Herman Melville: "Pierre oder Die Doppeldeutigkeiten". Roman. Herausgegeben von Daniel Göske. Mit einem Nachwort von Hans-Joachim Lang. Aus dem Englischen übersetzt von Christa Schuenke. Hanser Verlag, München 2002. 740 S., geb., 34,90 [Euro].
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Der krakenhafte Roman, der ihn in Armut und Wahnsinn trieb: Herman Melvilles "Pierre" in einer glänzenden neuen Übersetzung
Was ist von einem Roman zu halten, der auf der dritten Seite und mitten im Frieden mit folgendem Dialog aufwartet: "Ich muß jetzt gehen, Lucy; schau! unter diesen Fahnen zieh' ich fort." - "Bravissimo! Oh, mein einziger Rekrut!", um sich unmittelbar im Anschluß an diese verliebten Rufe in einen familiengeschichtlichen Exkurs in die Zeit der Indianerkriege zu begeben, denen Überlegungen zur Bedeutung von Stadt und Acker in der Landschaft der amerikanischen Demokratie und zu ihrem Einfluß auf die Stammbäume edler Familien folgen? Der sodann eine untergründig erotische Liebe zwischen Mutter und Sohn beschreibt, in der die Mutter ihren Sohn "Bruder Pierre" nennt, während er sie mit "Schwester Mary" anredet?
Woran soll der Leser sich halten in einem Roman, dessen Erzähler immer wieder aus der Handlung heraustritt, um an die Scheinhaftigkeit der Welt zu erinnern, um sich von seinem Helden zu distanzieren oder auch ihm näher zu rücken? Was will dieser Roman, der schicksalsschwangere Vorahnungen, das Auftauchen eines alles verändernden Briefs und moralphilosophische Abwägungen mit schauerromantischen Passagen aus den Wäldern des Staats New York kombiniert und dann von einer schluchzenden Gitarre erzählt? Was soll der Leser, der bisher den Klängen eines sentimentalen Liebesromans gefolgt ist und sich durch ausufernde Skizzen eines philosophischen, eines psychologischen sowie eines Schauer- und eines Bildungsromans gearbeitet hat, was soll dieser Leser über ein Buch denken, das nach alldem auf Seite 423 ein weiteres wesentliches Motiv einführt: daß Pierre nämlich nicht nur ein enthusiastischer Wahrheitssucher ist - sondern auch ein Schriftsteller, dem bereits einige Lorbeerkränze gewunden wurden, was zu höhnischen Sottisen auf den Literaturbetrieb und scharfsinnigen Reflexionen über Erfolg und Mißerfolg bei den Kritikern Anlaß gibt?
Und wie paßt in diese böse Satire die große, Macbeth-blutige Sterbeszene am Schluß, in der es aus dem Dunkel ruft: "Ihr kennt ihn nicht!"? Was also erzählt uns "Pierre oder Die Doppeldeutigkeiten" von Herman Melville, jener kaum bekannte Roman von 1852, der nun (nach einem ersten Versuch von 1965) endlich in einer kongenialen deutschen Übersetzung vorliegt?
"Melville ist verrückt geworden", urteilten seine Zeitgenossen. Seine Familie ging nicht ganz so weit, teilte aber die Besorgnis um seinen Geisteszustand, und seine Frau behauptete gar, "Pierre" habe ihren Mann umgebracht. Fast einhundertfünfzig Jahre später befand einer von Melvilles Biographen: "Melvilles oft sardonische Überlegungen über seine eigene Laufbahn passen nicht zu der Geschichte von der Konfrontation einer idealistischen Seele mit der konventionellen Welt" - und nahm sich die Freiheit, eine amerikanische Fassung herauszubringen, die den Roman schlichtweg um die beanstandeten Teile kürzte. Autor und Vollstrecker dieser absonderlichen Idee war übrigens ausgerechnet Hershel Parker, der die verbindliche Ausgabe von Melvilles Schriften (die Northwestern-Newberry-Edition, die auch der deutschen Übertragung zugrunde liegt) mitverantwortet und mit seiner zweibändigen Biographie, die erst in diesem Jahr zum Abschluß kam, wohl die fundierteste Studie über Melvilles Leben vorgelegt hat. Der Internet-Buchhändler Amazon hingegen macht es sich in seiner Inhaltswiedergabe leichter mit dem dicken Buch. Dies sei die Geschichte eines jungen Mannes, "der alles aufs Spiel setzt, als er mit seiner Geliebten nach New York flieht und nicht nur seine Verlobte, sondern sein ganzes bisheriges Leben hinter sich läßt". Die Zusammenfassung verschweigt, daß Pierres Geliebte seine Schwester ist. Gerade das aber ist der Punkt und einer derer, die Melvilles Zeitgenossen außerordentlich erzürnten.
Grob zusammengefaßt, geschieht in "Pierre" folgendes: Der Titelheld, dessen Vater früh in einem von seltsamen Visionen begleiteten Fieberanfall starb, lebt mit seiner Mutter auf den Gütern der Familie in Saddle-Meadows im Bundesstaat New York. Er ist standesgemäß verlobt mit Lucy, zögert aber, von Wachtraumbildern einer verführerischen Schönheit in Zweifel gestürzt, die offizielle Verlobung hinaus. Bei einem Nähkränzchen trifft er ein junges Mädchen, Isabel, das seinen Traumbildern gleicht und bei seinem Anblick in Ohnmacht sinkt. Später erreicht ihn ein Brief, in dem sich diese Isabel als seine Schwester ausgibt, von Pierres Vater unehelich mit einer Französin gezeugt und offenbar Gegenstand väterlicher Fiebervisionen auf dem Totenbett.
Pierre glaubt dem Brief. Alles, was ihm heilig war, scheint plötzlich ebenso falsch wie die unbefleckte Erinnerung an den Vater. Selbst die Natur, einst voller Verheißung, wird ihm nun, da sie angesichts der Monstrosität der Eröffnungen Isabels und auch angesichts seines eigenen erregten Bebens so indifferent bleibt, zum dämonischen Gleichnis von Abscheulichkeiten, von Inzest und Titanenkämpfen. Nicht nur Melville, auch Pierre kennt "Hamlet", und so macht sich unser Held daran, die Welt, die aus den Fugen ist, zu retten. Er gibt seine angebliche Schwester Isabel als seine heimlich angetraute Frau aus und verliert dadurch nicht nur sein Glück mit Lucy und die Liebe seiner Mutter, sondern auch sein Erbe. Verarmt versucht er in New York, ein großes Buch zu schreiben, das möglicherweise jenes ist, das wir gerade lesen. Dann nimmt die Tragödie ihren Lauf bis zum blutigen Ende.
Man kann "Pierre" als Landroman lesen, den Melville seinem "Moby-Dick" folgen ließ, als ebenso großen Entwurf über das Scheitern eines Enthusiasten, dem das Schicksal in seiner unergründlichen Rätselhaftigkeit entgegentritt wie Ahab der weiße Wal. Mit seinen grandiosen Stilparodien der populären literarischen Genres seiner Zeit ist "Pierre" gleichzeitig ein ironischer Kommentar zu den Werken seiner Schriftstellerkollegen, die "lyrische Gedanken wiehern", gerade so wie der Held in der Idylle des ersten Romanteils. Und "Pierre" ist auch die Rache Melvilles am Literaturbetrieb, bevor dieser ihn endgültig vernichtete. Über Pierres Frühwerk, das zwei Verleger, die einst Schneider waren, herausbringen wollen, schwärmen die Rezensenten, daß sich der Autor nie gestattete, "Aufsehen zu erregen, nie zu etwas Ungeschlachtem oder Neuen verführen ließ". Später heißt es, es gebe genau zwei Methoden des Erzählens, nämlich zeitlich zusammenhängende Ereignisse und Tatsachen auch in diesem Zusammenhang hinzuschreiben oder aber nur die auszuwählen, die für den Fortgang einer Geschichte unerläßlich seien. Melville indes kümmerten beide nicht: "Ich schreibe exakt so, wie es mir paßt."
"Pierre" ist Melvilles siebter Roman. Der Autor schrieb ihn in hitziger Erregung in nur wenigen Monaten im unmittelbaren Anschluß an "Moby-Dick". In einem Brief an seinen Freund Nathaniel Hawthorne enthüllt er für diesen Roman einen noch größeren Ehrgeiz als für den vorangegangenen - "Leviathan ist nicht der größte Fisch; ich habe von Kraken gehört!" - und legte einen krakenarmigen Roman hin, der sich vor allem im zweiten Teil streckenweise liest, als seien seinem Autor die Furien auf den Fersen und als wäre er selbst angesteckt von ihrer Rage - und das war er tatsächlich, denn wie auch immer sonst noch "Pierre" zu lesen ist, eines ist dieser Roman mit Sicherheit: die Reaktion des zutiefst gekränkten Melville auf die teils verständnislose, teils offen feindselige Aufnahme von "Moby-Dick", über den zum Beispiel D. H. Lawrence spottete: "O je, wenn der feierliche Esel dröhnt! dröhnt! dröhnt!"
Melville entgegnet in "Pierre", die Erfahrung lehre, "daß die Welt zwar Mittelmaß und Gewöhnlichkeit anbetet, aber aller zeitgenössischen Größe mit Feuer und Schwert begegnet. (. . .) Und obwohl diese Sachlage in Verbindung mit der stets steigenden Flut neuer Bücher unweigerlich auf eine künftige Zeit hinzuweisen scheint, da, wenn die Masse der gesamten Menschheit auf dieselbe Stufe des Schwachsinns abgesackt ist, die Autoren so selten sein werden wie heute die Alchimisten und die Druckerpresse als unbedeutende Erfindung gelten wird, so laß uns doch einander in die Arme sinken, oh, mein Aurelian."
"Pierre" ist also ohne Kenntnis der Lebensumstände seines Autors kaum zu begreifen. Melville brauchte Geld. Nachdem "Moby-Dick" auch beim Publikum durchgefallen war, versprach er seinem Verleger, dieses Mal einen populären Roman zu schreiben, und lange Zeit, während er an "Pierre" arbeitete, mag er selbst daran geglaubt haben. Die Energie, die seine hektische Produktivität antrieb, speiste sich aus der immensen Enttäuschung über die Reaktionen auf "Moby-Dick", und die Wut, die Melville seinem Helden gestattet, ist durchaus auf rhetorisch gleicher Höhe mit der von Ahab. Der kluge Anmerkungsteil, in dem Daniel Göske jedem Detail nachgeht, gibt Auskunft über einzelne Ereignisse im Leben Melvilles, die im Geschehen des Romans wiederauftauchen, erläutert Melvilles Lektüren und enträtselt viele der Kräuselungen im Metaphernmeer als Mythen- oder Bibelexegesen, in denen der ganze Reichtum von Melvilles Universum zum Vorschein kommt. Selbst in seiner ästhetischen Schieflage spricht aus "Pierre" eine Würde und ein Pathos gegenüber den großen Fragen, die hier verhandelt werden, daß dem Leser das empörende Schicksal Melvilles um so deutlicher vor Augen steht.
"Pierre" kostete Melville alles, was er an Ruf noch zu verlieren hatte, vom finanziellen Desaster zu schweigen. Unaufhaltsam glitt er mit diesem Buch über die vollkommene Ablehnung in die fast vollkommene Vergessenheit, in der er starb.
Wie also ist dieses Buch zu lesen? Mit Geduld, sicherlich. Wer sie aufbringt, stiefelt mit Melville hinab in die Tiefen eines radikal moralischen und damit auch eitlen Ichs und auf den Grund der christlichen Wahrheiten, auf denen unsere Kultur ruht. In ihrem Geist wurde Pierre erzogen, an sie glaubte er mit Inbrunst, bis er erfuhr, daß sie für den, der sie ihn lehrte, nicht galten. Pierre ist ein Mann, der daran verzweifelt. Er ist auch ein Mann, der im nächsten Moment seinen inzestuösen Begierden folgt und so eines der großen Tabus der Kultur bricht, die zu retten er angetreten ist. Vielleicht, hoffentlich ist das Publikum heute bereit, von diesen Doppeldeutigkeiten zu lesen und den Autor zu bewundern, der vor hundertfünfzig Jahren den Mut, den Scharfsinn und das gewaltige Sprachvermögen aufbrachte, von ihnen zu erzählen.
Herman Melville: "Pierre oder Die Doppeldeutigkeiten". Roman. Herausgegeben von Daniel Göske. Mit einem Nachwort von Hans-Joachim Lang. Aus dem Englischen übersetzt von Christa Schuenke. Hanser Verlag, München 2002. 740 S., geb., 34,90 [Euro].
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