Was heißt schon Erwachsenwerden? Wo beginnt es, und wo hört es auf? Und was muss dabei geschehen? Markus Günther hat eine klassische "Coming of Age"-Geschichte geschrieben, und doch fällt sein Held Lutz Brokbals aus jedem literarischen Rahmen. Ja, er hadert mit sich selbst und seinen Gefühlen, er wartet sehnsüchtig auf die große Liebe und ein abenteuerliches Leben. Doch da ist noch etwas, was ihn quält und lähmt: die Frage nach den letzten Dingen, auch nach dem Tod. Alice Millers "Drama des begabten Kindes" hallt in dieser Geschichte ebenso nach wie Hermann Hesses Jugendroman "Peter Camenzind". Auch Lutz Brokbals kann seine widerstreitenden Gefühle kaum bändigen und lernt schließlich doch die wichtigsten Lektionen des Lebens, die Liebe und den Abschied. Der Riese, den Lutz besiegen muss, ist in keiner Fabelwelt zuhause, sondern in der Seele eines jeden Menschen. Erst wenn er zu Fall gebracht ist, weitet sich der Blick für die unendlichen Möglichkeiten der Liebe, der Freiheit, des Lebens. Dann wird aus Zweifel Zutrauen und aus Todesfurcht Lebenslust. STIMME ZUM BUCH: Markus Günthers Erzählung vom Erwachsenwerden des überempfindlichen Lutz Brokbals reiht die Momente einer allmählichen Verwandlung wie Perlen aneinander. Seine Poesie trägt die Prägungen bestimmter Orte und Jahre und beschwört doch jene Ängste und Sehnsüchte, die zu allen Zeiten Menschen bewegt haben. Ein packendes Buch, das den schwierigen und existenziellen Fragen des Lebens nicht ausweicht. Und das sich vielleicht gerade deshalb liest wie eine kraftvolle Ermutigung, sich zuversichtlich auf das Abenteuer Leben einzulassen. Ein Buch für alle Liebenden, für alle Trauernden und für alle, die noch wachsen wollen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.06.2020Die Lehren des Todes
Markus Günthers Held kämpft sich ins Leben
Ludger Johannes Andreas Maria Brokbals, genannt Lutz, so heißt der aus Bottrop gebürtige Ich-Erzähler in Markus Günthers zweitem Roman. Johannes kam nur elf Monate vor Lutz zu Welt und starb Minuten nach seiner Entbindung; Andreas war der Zwillingsbruder von Lutz und lebte ebenfalls nur kurz. Den Namen Maria wählte die Mutter aus Dankbarkeit und in der Hoffnung, dass die Gottesmutter dazu beitragen würde, wenigstens einen Knaben durchkommen zu lassen.
Wer so traumatisiert ins Leben startet, das weiß man heute aus der Psychologie, hat ein schweres Päckchen zu tragen, der ist dem Thema Tod von Anfang an nahe und stellt sich als Erwachsener Fragen wie diese: "Ist mein Leben schon auf der neunmonatigen Reise in die Welt hinein auf einen dunkleren Ton gestimmt worden als das all der anderen, die so sorglos und unbekümmert erscheinen?"
Lutz hat es nicht leicht mit sich, mit seinen Altersgenossen, mit der ganzen Welt. Er ist hochsensibel und "etwas extrem in allem", wie nicht nur eine seiner Freundinnen bemerkt. "Todesfälle auf Halbdistanz" gehören zu seiner Pubertät, der Vater eines Schulkameraden stirbt unter Tage, ein Mitschüler wird von einem Lastwagen überfahren. Dann tritt Renate in sein Leben, vielmehr zerrt Lutz sie mit aller Macht und Besitzansprüchen dorthin. Er klammert sich verzweifelt an das Mädchen, das ihn naturgemäß irgendwann verlässt. Um es zurückzuerobern, kämpft er mit unerlaubten Mitteln, scheitert, hat Suizidgedanken, wird danach zum Zyniker - die ganze Palette der Gefühlsverwirrung. Er flieht ins Tagebuch, beginnt zu schreiben. Es wird sein Lebenselixier.
So wächst er heran zu einem jungen Mann, "immer schwankend zwischen Größenwahn und Minderwertigkeitsgefühl". Zum Schlüsselerlebnis wird eine Vorlesung: Theorie der Geschichte, die ein gewisser Dr. Fröhlich hält. Im Gespräch lenkt der kluge Dozent den Studenten auf jene urmenschlichen Fragen, auf die seine Disziplin keine Antwort geben könne: "Wenn Sie einmal mit Sterbenden zu tun haben, dann werden Sie sehen, dass dies genau die Fragen sind, die jeden Menschen am Lebensende beschäftigen." Lutz wird dazu bald Gelegenheit bekommen, seine Mutter stirbt, aber er findet keinen Zugang zu seiner Trauer. Als sich bald darauf seines Vaters Lebensreise dem Ende nähert, wird er es besser machen. Und auch bei den Frauen zeichnet sich eine Wende ab.
Markus Günther legt nach seinem Debüt "Weiß" (F.A.Z. vom 1. November 2017) nun einen klassisch am Zeitpfeil orientierten Roman vom Erwachsenwerden vor - mit einem Protagonisten, der sich die Selbstliebe ebenso wie die Zuneigung des Lesers erkämpfen muss. Günther gelingen auf diesem Weg immer wieder eindrückliche sprachliche Bilder, denen man die Erfahrungstiefe, aus der sie kommen, anmerkt.
Der Autor ist Jahrgang 1965, und wie sein Protagonist ist er in Bottrop geboren. Er blickt auf eine Laufbahn im Journalismus zurück, viele Jahre verbrachte er als politischer Korrespondent in Washington. Er schrieb für die "Los Angeles Times" und die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung", daneben Sachbücher und Essays. Derzeit arbeitet er als Kommunikationsdirektor des Erzbistums Köln. Mit dem Rheinland, dem Ruhrgebiet und dem Münsterland und deren Milieus und Mentalitäten ist er ebenso inwendig vertraut wie mit der dort gepflegten Form des Katholizismus. Und er hat sich intensiv mit Glaubensfragen und der Verstricktheit in Geschichte beschäftigt.
Deswegen gelingt es ihm, über das ungleiche Paar Liebe und Tod mit kühlem Blick und zugleich mit Zugewandtheit zu schreiben. Im Falle seines Protagonisten hat dessen Reifung auch mit Menschen zu tun, die diesem Leben entscheidende Richtungsimpulse geben. Lutz widerfahren nach schmerzhaften Lehrjahren solche Begegnungen desto leichter, je besser er lernt, offen auf die Welt zuzugehen. Dass sich das unterm Strich nicht nach psychotherapeutischer Prosa anfühlt, ist Günthers Verdienst. Auf Lutzens Frage, ob er Angst vor dem Sterben habe, antwortet der sieche Vater: "Aber nein, Lutz. Es hat schon seine Ordnung. Jeder muss nach Hause gehen."
HANNES HINTERMEIER
Markus Günther: "Pietà". Roman.
Fontis Verlag, Basel 2020. 256 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Markus Günthers Held kämpft sich ins Leben
Ludger Johannes Andreas Maria Brokbals, genannt Lutz, so heißt der aus Bottrop gebürtige Ich-Erzähler in Markus Günthers zweitem Roman. Johannes kam nur elf Monate vor Lutz zu Welt und starb Minuten nach seiner Entbindung; Andreas war der Zwillingsbruder von Lutz und lebte ebenfalls nur kurz. Den Namen Maria wählte die Mutter aus Dankbarkeit und in der Hoffnung, dass die Gottesmutter dazu beitragen würde, wenigstens einen Knaben durchkommen zu lassen.
Wer so traumatisiert ins Leben startet, das weiß man heute aus der Psychologie, hat ein schweres Päckchen zu tragen, der ist dem Thema Tod von Anfang an nahe und stellt sich als Erwachsener Fragen wie diese: "Ist mein Leben schon auf der neunmonatigen Reise in die Welt hinein auf einen dunkleren Ton gestimmt worden als das all der anderen, die so sorglos und unbekümmert erscheinen?"
Lutz hat es nicht leicht mit sich, mit seinen Altersgenossen, mit der ganzen Welt. Er ist hochsensibel und "etwas extrem in allem", wie nicht nur eine seiner Freundinnen bemerkt. "Todesfälle auf Halbdistanz" gehören zu seiner Pubertät, der Vater eines Schulkameraden stirbt unter Tage, ein Mitschüler wird von einem Lastwagen überfahren. Dann tritt Renate in sein Leben, vielmehr zerrt Lutz sie mit aller Macht und Besitzansprüchen dorthin. Er klammert sich verzweifelt an das Mädchen, das ihn naturgemäß irgendwann verlässt. Um es zurückzuerobern, kämpft er mit unerlaubten Mitteln, scheitert, hat Suizidgedanken, wird danach zum Zyniker - die ganze Palette der Gefühlsverwirrung. Er flieht ins Tagebuch, beginnt zu schreiben. Es wird sein Lebenselixier.
So wächst er heran zu einem jungen Mann, "immer schwankend zwischen Größenwahn und Minderwertigkeitsgefühl". Zum Schlüsselerlebnis wird eine Vorlesung: Theorie der Geschichte, die ein gewisser Dr. Fröhlich hält. Im Gespräch lenkt der kluge Dozent den Studenten auf jene urmenschlichen Fragen, auf die seine Disziplin keine Antwort geben könne: "Wenn Sie einmal mit Sterbenden zu tun haben, dann werden Sie sehen, dass dies genau die Fragen sind, die jeden Menschen am Lebensende beschäftigen." Lutz wird dazu bald Gelegenheit bekommen, seine Mutter stirbt, aber er findet keinen Zugang zu seiner Trauer. Als sich bald darauf seines Vaters Lebensreise dem Ende nähert, wird er es besser machen. Und auch bei den Frauen zeichnet sich eine Wende ab.
Markus Günther legt nach seinem Debüt "Weiß" (F.A.Z. vom 1. November 2017) nun einen klassisch am Zeitpfeil orientierten Roman vom Erwachsenwerden vor - mit einem Protagonisten, der sich die Selbstliebe ebenso wie die Zuneigung des Lesers erkämpfen muss. Günther gelingen auf diesem Weg immer wieder eindrückliche sprachliche Bilder, denen man die Erfahrungstiefe, aus der sie kommen, anmerkt.
Der Autor ist Jahrgang 1965, und wie sein Protagonist ist er in Bottrop geboren. Er blickt auf eine Laufbahn im Journalismus zurück, viele Jahre verbrachte er als politischer Korrespondent in Washington. Er schrieb für die "Los Angeles Times" und die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung", daneben Sachbücher und Essays. Derzeit arbeitet er als Kommunikationsdirektor des Erzbistums Köln. Mit dem Rheinland, dem Ruhrgebiet und dem Münsterland und deren Milieus und Mentalitäten ist er ebenso inwendig vertraut wie mit der dort gepflegten Form des Katholizismus. Und er hat sich intensiv mit Glaubensfragen und der Verstricktheit in Geschichte beschäftigt.
Deswegen gelingt es ihm, über das ungleiche Paar Liebe und Tod mit kühlem Blick und zugleich mit Zugewandtheit zu schreiben. Im Falle seines Protagonisten hat dessen Reifung auch mit Menschen zu tun, die diesem Leben entscheidende Richtungsimpulse geben. Lutz widerfahren nach schmerzhaften Lehrjahren solche Begegnungen desto leichter, je besser er lernt, offen auf die Welt zuzugehen. Dass sich das unterm Strich nicht nach psychotherapeutischer Prosa anfühlt, ist Günthers Verdienst. Auf Lutzens Frage, ob er Angst vor dem Sterben habe, antwortet der sieche Vater: "Aber nein, Lutz. Es hat schon seine Ordnung. Jeder muss nach Hause gehen."
HANNES HINTERMEIER
Markus Günther: "Pietà". Roman.
Fontis Verlag, Basel 2020. 256 S., geb., 20,- [Euro].
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