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Noch nicht einmal das Abschreiben hat Helene Hegemann selbst erfunden: Philipp Theisohn hat eine leichtfüßige Literaturgeschichte des Plagiats verfasst.
Da betrachtet es einer als seine Aufgabe, dem Dichter das Handwerk zu legen. Mit dem Furor akribischen Sammlerfleißes durchkämmt er Werk um Werk, Gedichte, Dramen und Prosa, um "Stellen" zu finden. Stellen, die nicht selbst ausgedacht sind, sondern von anderswo stammen. Es geht darum, den Schriftsteller beim Abschreiben zu erwischen. Als literarischer Autodidakt macht sich um 1890 der Hamburger Anatom Paul Albrecht daran, im Selbstverlag eine auf zehn Bände angelegte Monumentalstudie zu publizieren, die kein anderes Ziel hat, als möglichst lückenlos und beweiskräftig "Leszing's Plagiate" nachzuweisen.
Albrechts vielbändiger Lessing-Befund lässt sich kurz zusammenfassen: Es ist alles geklaut. Denn Gotthold Ephraim Lessing, den Albrecht mit der penetrant verfremdeten Schreibung des Familiennamens als slawischstämmig diskreditieren will, habe, so die idée fixe des Unternehmens, in seinem literarischen Schaffen keinen einzigen "eigenhirnigen" Gedanken fabriziert, sondern sich nur von "fremdhirnigen" Erzeugnissen genährt, sei mithin ein der Scharlatanerie zu überführender "Einführer fremder, nicht-deutscher Gedanken".
Der xenophobe Lessing-Hass Albrechts förderte neben bizarren Behauptungen durchaus manch brauchbaren Quellenfund zutage, bevor sich der umnachtete Verfasser aus seiner Hamburger Villa in den Tod stürzte. "Leszing's Plagiate" geriet zur bis heute unübertroffenen Benchmark einer paranoiden Einflussforschung, die Ernst macht mit dem Verdacht, dass, wo Literaten mit geistreichen Einfällen glänzen, in Wahrheit nur Diebstahl und Plünderung früherer Literatur zugange sind.
Je pauschaler solche Verdächtigungen ausfallen, desto kraftloser ihre Wirkung. Plagiatsvorwürfe kennt jeder; man ahnt, ohne Abertausende von Einzelfällen studiert zu haben, dass sich alles oder eben auch nichts mit dem Begriff erklären lässt. Jede urteilende Einlassung auf diesem Problemfeld hätte demnach mit der Sortierung methodischer Optionen zu beginnen, mit der Unterscheidung zwischen einem intertextuell breiten und einem juristisch enggefassten Verständnis von Gedankendiebstahl. Philipp Theisohn aber will in seiner Literaturgeschichte des Plagiats gar nicht urteilen, und zur Überführung oder Kriminalisierung von Plagiatstätern tragen seine Studien nichts bei.
Das Interesse des Verfassers dieser Plagiatsgeschichte liegt quer zur Frage: echt oder geklaut? Es geht vielmehr um die öffentliche Dramatik von Plagiatsfällen respektive "Plagiatserzählungen", in denen nicht allein Eigentums- oder Abhängigkeitsverhältnisse zur Debatte stehen, sondern auch die gesellschaftlichen Bedingungen des literarischen Schreibens. Unter der Kampfvokabel des Plagiats, so Theisohn, verbirgt sich eine endlose Reihe von (meist nur pseudojuristischen) Verhandlungen, bei welchen in je spezifischen Situationen und an konkrete Akteure gebunden die Geltungsbereiche, Binnenbeziehungen und Außengrenzen der Literatur geklärt sein wollen. Das literarische Werk ist ein Rohstoff und Gut, welches in wechselnder Gestalt verschiedenen Bearbeitern und Besitzern dienstbar werden kann, und darum höchst ungeeignet, Eigentumswerte zu sichern. Genau dies aber, die unverlierbare und zugleich immaterielle Eigentumsbindung erzeugter, mithin: "poetischer" Gedanken, spielt in den ästhetischen Auffassungen von literarischer Originalität seit der Antike eine gewichtige, aus dem abendländischen Kulturverständnis nicht wegzudenkende Rolle.
Tummelplatz des Epigonentums
Mit den Schlüsselbegriffen "Plagiat" und "Geschichte" setzt Theisohn ein Modell ästhetisch-juristischer Eigentumsverhältnisse und eine Chronologie der Werke, Autoren und Epochen miteinander in Beziehung. Damit eröffnet sich zunächst das naheliegende Programm, die Wandlungen der Definition von und des Umgangs mit literarischen Plagiaten durch verschiedene Zeiten und Literaturströmungen hindurch zu verfolgen. Das allein wäre aufschlussreich genug, denn es gibt bemerkenswerte Wandlungen und Einschnitte zu verzeichnen. Doch lässt Theisohn noch ein zweites Thema mitlaufen, das darin besteht, die Zeitfolge selbst als ein Eigentumsverhältnis in den Blick zu nehmen, bei dem sich geistige Originalität je neu aus Erbschaften, Anleihen und Übernahmen herauslösen oder durch selbige prothesenhaft vertreten lassen muss.
Die je gegenwärtige Literatur kann - Gnade oder Fluch? - aufgrund ihrer posterioren Stellung zur Vergangenheit gar nicht anders, als sich zu Vorbildern und Vorgängern ins Verhältnis zu setzen. Der nachahmende, entlehnende und anverwandelnde Umgang mit den Zeugnissen früherer Epochen macht das Schreiben zum Tummelplatz des Epigonentums, der Plagiatoren bequeme Ausreden bietet. Nicht erst die Vertreter des bürgerlichen Realismus wissen um die erdrückende Last der Altvorderen, wenn sie, wie Immermann, Keller, Stifter und Fontane, ihre Figuren von vornherein mit den Zitaten und Gefühlen des literarischen Bestandes ausstaffieren. Was bleibt dann noch für die in Eigentumsfragen ohnehin "laxen" (Brecht) antibürgerlichen Schriftsteller der Moderne, wenn nicht die Erhebung des "Plagiarismus" zu einem "universalethischen Programm"?
Schon im Kulturtransfer von der griechischen zur römischen Antike war die Ausbeutung geistiger Abhängigkeiten ein wiederkehrendes Handlungsmuster. An Terenz' Komödie der "Brüder" legt Theisohn den Mechanismus frei. In einem kunstvollen Handlungsgeflecht von Verwechslung, Entführung und finaler Vierfachhochzeit demonstriert Terenz die Überlegenheit freizügiger gegenüber bevormundender Erziehung. Wenn der libertäre Onkel mit den heranwachsenden Söhnen des strengen Bruders die glücklichere Hand hat, beweist dies implizit, dass gedeihliche Früchte gerade dort zu erwarten sind, wo keine leibliche Erbfolge vorliegt, somit auch kein organisches Besitzverhältnis.
Terenz hat damit en miniature eine Komödie der gelungenen und sich selbst legitimierenden Entlehnung geschrieben. Oder vielmehr: Er konnte den Stoff einer griechischen Vorlage entnehmen und ihn durch die Entführung nochmals beredter machen. Was aber den Zeitgenossen zu denken gab, war, dass Terenz nicht einmal dieses Plagiat selbständig beging, denn vor ihm hatte der um eine Generation ältere Plautus sich bereits über denselben Stoff hergemacht.
Osmotische Anverwandlung
Stellt in der Spätantike die rhetorische "imitatio" ein ehrenwertes Bildungsprogramm dar, das sich aus jedweden Quellen bedienen darf, so wird in der mittelalterlichen Epik die Anrufung großer antiker Autoren zum Beleg der eigenen Glaubwürdigkeit. Wer, wie Heinrich von Veldeke mit der "Eneide", seinem Erzählstoff eine bis Vergil zurückreichende Ahnenreihe zu geben vermag, gewinnt dadurch Kredit, den er für die erheblichen Abweichungen von der Vorlage nutzen kann. Die Technik des Wiedererzählens entführt den antiken Helden und unterstellt ihn der zeitgenössischen Minnepädagogik. Im Reformprogramm der Aufklärung gewinnt die Verfügung über Ressourcen an Bedeutung - und zwar sowohl an Wissen wie Geldvermögen. Zum Problem wird dabei, dass die Verbreitung aufklärerischen Gedankenguts die Eigentumsrechte desjenigen unterhöhlt, der extensiv rezipiert wird. "Wer mit Wissen sein Geld verdienen muss", folgert Theisohn, "verkauft eine Ware, die sich schnell selbständig macht und dabei gleichzeitig eine Person zurücklässt, für die niemand auch nur einen Pfifferling gibt. Das ist der Gelehrte."
Seit gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts urheberrechtliche Gesetze die Prinzipien literarischer Autorschaft definieren, müssen sich deren Erzeugnisse ausweisen können. Die mit dem Autornamen verbürgte Qualität drückt sich in dem Anspruch und der Beteuerung aus, in selbstgeschaffenen Werken die Eigentümlichkeit der eigenen Person zum Ausdruck gebracht zu haben. Das Eigentümliche der Autor-Persönlichkeit wiederum wird zum Garanten der geistigen Eigentumsansprüche des Autors als juristischer Person. Doch hört die literarische Produktion dadurch nicht auf, sich in Paradoxien zu bewegen, im Gegenteil. Die Kunst besteht offenbar darin, aus der Stafette osmotischer Anverwandlungen eine Einbahnstraße zu machen; will sagen: nach Kräften von den Erzeugnissen anderer zu profitieren, dann aber im Zweifelsfall sogar mit strafbewehrten Mitteln zu verhindern, dass andere aus dem eigenen Werk illegitimen Nutzen ziehen. Allerdings ist literarische Unsterblichkeit nicht anders zu erlangen als durch das freudige Zugreifen der Mitwelt und die bedenkenlose Anverwandlung durch Nachgeborene.
Wer das Plagiat zum Thema einer Abhandlung macht, die noch dazu mit dem Epitheton des "Unoriginellen" kokettiert, wird sich vorab die Frage gestellt haben, ob das Ganze eigentlich "Boomerang-proof" ist oder womöglich auf den Autor zurückfallen könnte. Da behandelt jemand die Allgegenwart geistiger Abhängigkeiten und unfreiwilliger Schreib-Gemeinschaften und will selbst das Geschäft der Literaturgeschichte als Ein-Mann-Unternehmen führen? Das zeugt von Hybris, selbst wenn ein leichtfüßiger, charmanter Plauderton den Leser für den weiten Reiseweg einnimmt. Mit Siebenmeilenstiefeln eilt Theisohn durch die Abteilungen, um sich dann wieder detailreich in Fallgeschichten zu versenken. Dass gleich im dritten Satz des Buches versehentlich ein Vierteljahrtausend zu einem Vierteljahrhundert schrumpft, ist freilich nicht dem Tempo der Darstellung, sondern einem stehengebliebenen Fehler geschuldet.
Theisohns Studie ist trotz des Umfangs kurzweilig und vergnüglich, ihre Schauplätze sind treffsicher ausgewählt und pointenreich kommentiert. Sein Buch eröffnet Einsichten in die althergebrachte Praxis des Ab-, Um- und Weiterschreibens und skizziert die wechselnden sozialen und geschichtlichen Konstellationen, unter welchen solches Tun mal Plagiat heißt und manchmal auch nicht.
ALEXANDER HONOLD
Philipp Theisohn: "Plagiat". Eine unoriginelle Literaturgeschichte. Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2009. 578 S., geb., 26,90 [Euro].
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