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Das vergessene Meisterwerk der französischen Exilliteratur – nach 75 Jahren endlich auf Deutsch Marseille 1942, einige Monate vor der endgültigen Besetzung der Freien Zone durch die Deutschen. Der große Mittelmeerhafen quillt über von Menschen, die vor dem Krieg fliehen und auf die Überfahrt nach Amerika, in eine ungewisse Zukunft hoffen. Die Stadt ist wie eine Reuse, in der die Unerwünschten und vom Vichy-Regime Verfolgten zappeln und täglich versuchen, den Spitzeln und Denunzianten zu entwischen. Fast dreißig Romanfiguren, deren Schicksale auf mehr oder weniger verhängnisvolle Weise…mehr

Produktbeschreibung
Das vergessene Meisterwerk der französischen Exilliteratur – nach 75 Jahren endlich auf Deutsch Marseille 1942, einige Monate vor der endgültigen Besetzung der Freien Zone durch die Deutschen. Der große Mittelmeerhafen quillt über von Menschen, die vor dem Krieg fliehen und auf die Überfahrt nach Amerika, in eine ungewisse Zukunft hoffen. Die Stadt ist wie eine Reuse, in der die Unerwünschten und vom Vichy-Regime Verfolgten zappeln und täglich versuchen, den Spitzeln und Denunzianten zu entwischen. Fast dreißig Romanfiguren, deren Schicksale auf mehr oder weniger verhängnisvolle Weise miteinander verstrickt sind, lässt Malaquais auftreten: Flüchtlinge, Aktivisten der Résistance, Vertreter internationaler Hilfsorganisationen, Legionäre, Devisenschieber, Spitzel und Mitläufer aller Art. Zum Teil sind sie angelehnt an historische Figuren wie Victor Serge, Walter Benjamin und Varian Fry, der zahlreichen Verfolgten zur Ausreise verholfen hat – darunter Jean Malaquais selbst – und dem der Roman in der Figur des Aldous Smith ein Denkmal setzt. »Planet ohne Visum« ist zugleich Agententhriller und Milieustudie, ein packendes Epos der Menschen ohne Papiere, dessen elegante Sprache und stilistischen Reichtum Nadine Püschel meisterhaft ins Deutsche übertragen hat. 1947 in Frankreich erschienen, liegt der Roman damit erstmals in deutscher Übersetzung vor.
Autorenporträt
JEAN MALAQUAIS, 1908 als Wladimir Malacki in eine säkulare jüdische Familie in Warschau geboren, war Autor und Übersetzer, Marxist und Kosmopolit. Seit den 1920er Jahren lebte er in Frankreich, für seinen Debütroman »Les Javanais« erhielt er 1939 den Prix Renaudot. Im Zweiten Weltkrieg in Kriegsgefangenschaft, gelang ihm die Flucht über Marseille in die USA. In den 1990er Jahren begleitete Malaquais die Neuausgaben seiner Werke in Frankreich. Er starb 1998 in Genf. NADINE PÜSCHEL, geboren in Starnberg, studierte Literaturübersetzen in Düsseldorf und lebt als Übersetzerin für englisch- und französischsprachige Literatur und audiovisuelle Medien in Berlin.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Großes Leseglück, wenn auch verspätet, überkommt Rezensentin Insa Wilke mit diesem Roman des polnisch-jüdischen Schriftstellers Jean Malaquais von 1947. In seinem Roman "Planet ohne Visum" erzählt er lebensprall vom Marseille des Jahres 1942, in dem Europäer aller Couleur auf der Flucht vor Hitler und Stalin strandeten und auf ein Visum ins rettende Amerika warteten. Die Rezensentin begegnet hier Männern und Frauen unterschiedlichster Klassen, Wissenschaftlern und Arbeitern, Résistance-Kämpfern und Kriegsgewinnlern, Sozialisten und Vichy-Beamten, kaum eine Figur sei ungebrochen oder flach gezeichnet, wie Wilke versichert. Das humanistische Ideal des Romans steht für sie außer Frage, was die literarische Qualität betrifft, druckst sie ein bisschen herum, aber sie empfiehlt ihn als intelligente Unterhaltung, menschlich klug und so modern, dass sie gar nicht verstehen kann, warum Malaquais ihr so lange unbekannt blieb. 

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.12.2022

Staatenlos
Marseille unter deutscher Besatzung, wer das faschistische Europa verlassen will, landet hier:
Warum nur blieb Jean Malaquais’ Exilroman „Planet ohne Visum“ so lange unbekannt?
VON INSA WILKE
Solche Zufälle: Eine Übersetzerin verbringt ihre Ferien in Marseille, sucht in einer Buchhandlung nach einem Roman über die Stadt und entdeckt „Planète sans visa“. Der Autor ist ihr unbekannt, sie greift nur zu, weil sie mit einem Freund erlebt hat, was es bedeutet, den falschen Pass zu haben.
Die Übersetzerin heißt Nadine Püschel, der Autor Jean Malaquais. 2013 schlägt Püschel der Edition Nautilus in Hamburg die Übersetzung vor, zeitgleich kommt dort eine Empfehlung des französischen Verlegers an. Er hatte 1999 die von Malaquais vor seinem Tod im Jahr zuvor noch überarbeitete Neuausgabe des Romans herausgebracht, der 1947 erstmals erschienen war. Man hätte Malaquais sofort ins Programm genommen, sagt Katharina Picandet, Mitglied des Nautilus-Kollektivs. Aber die Übersetzungskosten wären sehr hoch gewesen. Ausgerechnet die Pandemie und die Förderung durch den „Neustart Kultur“ machte es dann möglich.
„Planet ohne Visum“ ist das Gegenstück zu Anne Webers Heldinnen-Epos „Annette“, das 2020 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde: kein Einzelschicksal, sondern ein Kollektivroman, keine sprachliche Preziose, sondern intelligente Unterhaltung, keine fragende Annäherung aus der Zukunft, sondern eine pralle Geschichte, mitten aus der eigenen Lebenserfahrung heraus. Jean Malaquais könnte selbst eine Gestalt seines Romans sein.
1908 als Wladimir Malacki in eine jüdische Familie in Warschau geboren, mit 17 Jahren in die Welt hinausgezogen und 1926, nach Reisen unter anderem in die Türkei und nach Palästina in Marseille gelandet, bricht er von dort immer wieder auf, reist unter abenteuerlichen Umständen bis nach Dakar, verliert irgendwo seinen Pass und bleibt staatenlos.
Seinen Förderer André Gide lernt er kennen, erzählt Nadine Püschel in ihrem Nachwort, weil er, der sich als Matrose, Minen- und Fabrikarbeiter seinen Lohn verdient hat, ihm einen „empörten“ Brief schreibt, als Gide 1935 „in sentimentalem Ton bedauerte, nie die Erfahrung gemacht zu haben, sich sein Brot mit harter körperlicher Arbeit verdienen zu müssen.“ 1939, als Malaquais in die französische Armee eingezogen worden ist, erscheint sein Debütroman „Les Javanais“ und wird ausgezeichnet. Sein „Journal de guerre“ kann 1943 nur in New York erscheinen, zu kritisch sieht er die Bedingungen, unter denen die Soldaten an der Front verheizt werden. Er selbst gerät in Kriegsgefangenschaft, entkommt, flieht nach Marseille und von dort, nachdem er zwei Jahre auf ein Visum gewartet hat, über Venezuela und Mexiko in die USA.
„Planet ohne Visum“ spielt 1942 in Marseille. Hier saßen die Konsulate, von hier aus konnte man nach Übersee entkommen. Die Handlung beginnt mit der Ankündigung, Marschall Pétain werde Marseille besuchen. Ihm zu Ehren sollen Säuberungen stattfinden, die vor allem jüdische Menschen, aber auch Kommunisten treffen. Der Roman endet, als im November die Alliierten in Nordafrika landen und die Deutschen auch die „freie“ Zone des kollaborierenden Vichy-Regimes, in der Marseille liegt, besetzen.
Malaquais entwirft einen pulsierenden Stadtorganismus, in dem der einheimische Café-Besitzer ebenso existiert wie die schon lang aus der Türkei eingewanderte Wirtin, der unpolitische Wissenschaftler, die amerikanische Kriegsgewinnlerin, Résistance-Mitglieder, Kollaborateure und all die unterschiedlichen Menschen, die vor den Deutschen und auch vor den Sowjets fliehen. Der Roman kreuzt diese Schicksale auf seiner Drehbühne.
Die wiederkehrenden Orte sind unter anderem das Lager Les Milles, die Kammer eines in Spanien gefolterten Passfälschers, das Café am Hafen, die genossenschaftlich organisierte Fabrik Sucror, das mit Büchern vollgestopfte Zimmer des „Colonel“, der ein greiser, aber hellwacher italienischer Literaturprofessor ist. Mit seiner Enkelin Gervaise alias Karen haut er Beamte des Regimes übers Ohr, um Gelder für die Flüchtlingshilfe zu organisieren.
Orte und Figuren haben historische Vorbilder, und die politischste Geste des Romans ist, dass sie einander gleichgeordnet werden. Manchmal passiert das in regelrechten erzählerischen Coups, die zeigen, was Malaquais literarisch und, man muss das so sagen, menschlich zu bieten hat. Seine Inszenierung der Sekretärin des American Emergency Rescue Committees ist so ein Beispiel oder seine Darstellung des eiskalten Vichy-Beamten Adrien de Pontillac, der Frauen in eine Zoologie einzuteilen pflegt (recht originell: neben dem klassischen Reh identifiziert er fliegende Fische und Robben) und der Karen verfällt, weil er sie nicht in sein Repertoire einordnen kann. Auch sie verfällt ihm, und als Leserin versteht man es, weil Malaquais eben keine holzschnittartigen Charaktere zeichnet, sondern immer entlang der gebrochenen Linie des Lebens erzählt. Und die führt auch durch die Figuren, die Verbrechen begehen.
Wie einer der Engel von Wim Wenders fliegt Malaquais Kamera über die Schicksale hinweg, fährt hier in ein bedrängtes Innenleben und beschreibt dort ein Schicksal nur von außen. Er lässt den Sozialisten Marc Laverne, ebenfalls eine Heldenfigur und vielleicht die schwächste des Romans, da am wenigsten ambivalent, mit dem im Gulag zum Anti-Stalinisten geprägten Ivan Stépanoff diskutieren, ohne selbst eindeutig Position zu beziehen, und inszeniert noch einen tragischen Vater-Sohn-Konflikt um die beiden, und zwar in mehrfach gespiegelter Weise.
Stépanoff adelt er, indem er ihm ein Miniatur-Porträt von Marseille in den Mund legt, das auch den enormen Horizont des Romans zeigt, der von der Welt weiß und trotzdem auch das ganz einfache, individuelle Bedürfnis gelten lässt: „Ringsum brodelten Stimmen, Kaugeräusche, Satzfetzen, Hitler in Sewastopol, in Tobruk, in Lhasa, und Stépanoff spürte ein kindisches Erstaunen – ein Wunder, dass man immer noch auf beiden Beinen stand, krumm zwar, aber auf eigenen Beinen, dass man von Visa träumte, von Arbeit, von Leben.“
Sucht man nach einer politisch-programmatischen Kernaussage, so findet man sie bei einer Nebenfigur, dem Astrophysiker Arthur Papski: „Es gibt nicht viele Möglichkeiten, sich seines Lebens würdig zu erweisen. Dem Club der Henker nicht beizutreten, ist eine davon. Denjenigen zu helfen, die schwächer sind als man selbst, ist eine andere.“ Wer es dringender nötig habe, von ihm über das Gewicht des Mondes belehrt zu werden, fragt dieser Papski, „der Student im Tweedanzug oder der zerlumpte Junge, der vor Kälte schlottert“.
Dieses humanistische Ideal überrascht nicht bei jemandem wie Jean Malaquais. Verblüffend ist dagegen seine harsche Kritik am Frauenhass, sein Spott über Männer wie den Lagerleiter, der sich schlauer vorkommt als seine kluge Frau und von Adrien de Pontillac für die Position ausgewählt wurde, weil er sich hüten würde, „in den heimtückischen Wassern des Denkens herumzuplanschen“. Immer wieder macht dieser Roman sich lustig über die männliche Hybris und konterkariert sie mit der humorvollen Intelligenz seiner Frauenfiguren. Noch in den mit dem Kitsch kokettierenden Liebesszenen sorgt Malaquais irgendwo für einen kleinen Twist.
Dass „Planet ohne Visum“ wie ein Roman von heute wirkt, liegt aber an Struktur und Sprache, die ihn problemlos vom 20. ins 21. Jahrhundert bringen. Die Übersetzerin hat wesentlichen Anteil daran, weil sie die Gratwanderung zwischen erzählerischen Verfahren der Moderne und Unterhaltungslust meistert, so dass man auch im Deutschen den Eindruck hat, die sozialen Verhältnisse des Hafenviertels auf der Zunge und in der Nase zu haben und außerdem einen Meister des fragmentarischen Erzählens vor sich, der aber auch Situationskomik und postmoderne Referenzkunst, bewusstseinsexperimentelle und satirische literarische Verfahren beherrscht. Wurde das groteske Intermezzo des Vichy-Regimes je besser auf ein Bild gebracht als in dem urkomischen Auftritt eines Kellners, der mit formvollendeter Arroganz das einzige anbietet, was unter den Repressionen der Deutschen noch anzubieten ist, nämlich eine Flasche Wasser: „Vichy-État“, verkündet der, „während er den Kronkorken springen ließ. ‚Grande Source.‘“
Fragt sich, wie Jean Malaquais so lange verborgen bleiben konnte. Weil er als jüdischer Pole auf Französisch schrieb? Weil er die Klassen, auch die literarischen unterlief und Standpunkte eher infrage stellte als einnahm? Weil er dem Zentralstaat seine kosmopolitische Existenz entgegensetzte und ein Freigeist gewesen sein muss? Weil er in die USA emigrierte und sich nicht um seine literarische Karriere kümmerte?
Ein politischer Grund dürfte auch sein, dass er Frankreich auf eine Weise kritisiert, die auch heutiges Handeln demokratischer Staaten, die anderen die Menschenrechte vorhalten, in ein trübes Licht stellt: „Es gibt einen Provinzialismus in diesem Land, einen Mangel an Selbstkritik, der mich fassungslos macht“, zitiert Nadine Püschel den Schriftsteller im Nachwort. Man kann diese Fragen aber auch sein lassen und einfach sagen: Was für ein Glück, Jean Malaquais jetzt kennenzulernen! Man möchte ihn im Bücherkosmos nicht mehr missen.
Umwerfend, was Malaquais
literarisch und, man muss es so
sagen, menschlich zu bieten hat
Zwischen November 1942 und August 1944 stand Marseille unter Besatzung der deutschen Wehrmacht. Im Februar 1943 ließen die Nazis das Altstadtviertel Vieux Port zerstören.
Foto: KHARBINE TAPABOR/imago
Jean Malaquais, 1908 in Warschau in eine jüdische Familie hineingeboren, wurde ein von André Gide bewunderter französischer Schriftsteller, emigrierte in die USA und starb 1998. Foto: Tino Picos
Jean Malaquais: Planet ohne Visum. Roman.
Aus dem Französischen
von Nadine Püschel.
Nautilus, Hamburg 2022.
661 Seiten, 34 Euro.
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