Das spektakulärste und visionärste Projekt aus dem Nachlass des großen Autors.
Das Sammeln und Bewahren von Erinnerungen war ein zentrales Motiv von Walter Kempowskis Arbeit. Fast 50 Jahre lang frönte er leidenschaftlich einer Tätigkeit, die er „Plankton fischen“ nannte: Er stellte Menschen, denen er begegnete, unterschiedlichste Fragen – nach ihrer Schulzeit, nach Begegnungen mit Prominenten, nach der ersten Liebe. Denn Kempowski war überzeugt, dass das, was dem Einzelnen widerfährt, exemplarisch ist für eine ganze Generation. Simone Neteler, Walter Kempowskis langjährige Mitarbeiterin, hat die Erinnerungssplitter nach den Vorgaben des 2007 verstorbenen Autors zusammengestellt. Das Ergebnis ist ein „Urquell von Erinnerung“, „der Schlamm, aus dem sich das Echolot und die Chronik erheben“ (Walter Kempowski). So ist „Plankton“ als Fundament des Kempowski’schen Werks zu betrachten.
Das Sammeln und Bewahren von Erinnerungen war ein zentrales Motiv von Walter Kempowskis Arbeit. Fast 50 Jahre lang frönte er leidenschaftlich einer Tätigkeit, die er „Plankton fischen“ nannte: Er stellte Menschen, denen er begegnete, unterschiedlichste Fragen – nach ihrer Schulzeit, nach Begegnungen mit Prominenten, nach der ersten Liebe. Denn Kempowski war überzeugt, dass das, was dem Einzelnen widerfährt, exemplarisch ist für eine ganze Generation. Simone Neteler, Walter Kempowskis langjährige Mitarbeiterin, hat die Erinnerungssplitter nach den Vorgaben des 2007 verstorbenen Autors zusammengestellt. Das Ergebnis ist ein „Urquell von Erinnerung“, „der Schlamm, aus dem sich das Echolot und die Chronik erheben“ (Walter Kempowski). So ist „Plankton“ als Fundament des Kempowski’schen Werks zu betrachten.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.04.2014Der kann Fragen stellen
Sein Leben lang hat Kempowski Plankton gefischt: wildfremde Leute ausgefragt. Was sie ihm erzählten, ist nun als Buch erschienen. Es ist imponierend. Aber ist es auch Literatur?
So ging es los: "1961 fing ich mit den Ausfragungen an. Bauer Drew[e]s in Breddorf. Ich bückte mich über die Erdbeeren, und er stand daneben und guckte mir zu. Das war mir lästig, und da fragte ich ihn eben nach Hitler." Diese Tagebucheintragung vom 6. Juli 1989 ist typisch Kempowski: unprätentiös, direkt; aber auch banal, so banal, wie das Leben oft eben ist. Und daraus soll richtige Literatur entstehen?
Das Projekt "Plankton", das nun im Druck vorliegt, markiert eine weitere, aber, angesichts des gewaltigen Materials, das im Berliner Archiv liegt, bestimmt nicht letzte Epoche dieser Werkgeschichte: auf achthundert Seiten Antworten von Privatpersonen, denen Kempowski meistens ganz zufällig begegnete und dabei ausfragte - ob sie schon mal einen Prominenten gesehen hätten; ihr Lieblingsgericht; Eltern; Kindheit, Mauerfall und natürlich Hitler, immer wieder Hitler, mit allem, was dazugehört. So "wichtig" das auch sein mag - irgendwann kann man es dann doch nicht mehr hören, dass der und der Hitler da und da gesehen oder gehört hat und dabei wahnsinnig oder eben überhaupt nicht beeindruckend fand und dass praktisch jeder die Nachricht vom Mauerfall erst gar nicht glauben konnte. Was soll man auch groß sagen?
Das ist eben der Witz bei der Sache: "Groß" sagen soll ja niemand etwas, sondern so, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Was Bauer Drewes Kempowski seinerzeit zu berichten hatte, ging sehr wahrscheinlich ein in den genau in jener Zeit spielenden, bis heute sträflich vernachlässigten Dorfschullehrer-Roman "Heile Welt" (1998), zweifellos große Literatur. Aber jetzt diese Sammlung von Privatmeinungen? Kempowski war davon überzeugt, dass damit "die Literatur an eine Grenze gerät, von wo aus oder an der sie umkehrt zum Geraune der Menschen am Feuer". Das kann dann mit Literatur nicht mehr viel zu tun haben, sofern man darunter auch einen (privilegierten) Autor-Standpunkt und eine (spezifische) Geformtheit versteht. Aber der Begriff wurde auf "Plankton" in ersten Rezensionen schon angewendet, sogar in einem eminenten, avantgardistischen Sinne. In der Tat lassen sich, zumal im digitalen Zeitalter mit seinem noch fragmentierteren Bewusstsein und den ganz anderen Mitmach-Möglichkeiten des Schreibens, Argumente nennen, wenn man Kempowski als Visionär ins Spiel bringt: "Plankton" wäre dann ein durchaus beeindruckendes Zeugnis von Schwarmintelligenz. Aber von "Literatur" sollte man nur in dem Sinne sprechen, dass damit (auch) die Gesamtheit von Schrifttum gemeint sein kann.
Kempowski, der bei den Befragten oft auf einen ganz natürlichen Mitteilungsdrang setzen konnte, frohlockte am 2. Januar 1989, dass er schon eine "hübsche kleine Sammlung" beisammenhabe, "kleine autonome Texte, "die im günstigsten Fall von hoher literarischer Qualität sind". Im günstigsten Fall sind sie es tatsächlich, aber eben nur im günstigsten. Bisweilen stolpert man über Miniaturen, die so abgründig sind, dass sie die anonym bleibenden, nur mit Beruf und Jahrgang verzeichneten Erzähler ein Leben lang beschäftigen müssten: "Tischlermeister, *1940 Zweiter Weltkrieg
Sein Leben lang hat Kempowski Plankton gefischt: wildfremde Leute ausgefragt. Was sie ihm erzählten, ist nun als Buch erschienen. Es ist imponierend. Aber ist es auch Literatur?
So ging es los: "1961 fing ich mit den Ausfragungen an. Bauer Drew[e]s in Breddorf. Ich bückte mich über die Erdbeeren, und er stand daneben und guckte mir zu. Das war mir lästig, und da fragte ich ihn eben nach Hitler." Diese Tagebucheintragung vom 6. Juli 1989 ist typisch Kempowski: unprätentiös, direkt; aber auch banal, so banal, wie das Leben oft eben ist. Und daraus soll richtige Literatur entstehen?
Das Projekt "Plankton", das nun im Druck vorliegt, markiert eine weitere, aber, angesichts des gewaltigen Materials, das im Berliner Archiv liegt, bestimmt nicht letzte Epoche dieser Werkgeschichte: auf achthundert Seiten Antworten von Privatpersonen, denen Kempowski meistens ganz zufällig begegnete und dabei ausfragte - ob sie schon mal einen Prominenten gesehen hätten; ihr Lieblingsgericht; Eltern; Kindheit, Mauerfall und natürlich Hitler, immer wieder Hitler, mit allem, was dazugehört. So "wichtig" das auch sein mag - irgendwann kann man es dann doch nicht mehr hören, dass der und der Hitler da und da gesehen oder gehört hat und dabei wahnsinnig oder eben überhaupt nicht beeindruckend fand und dass praktisch jeder die Nachricht vom Mauerfall erst gar nicht glauben konnte. Was soll man auch groß sagen?
Das ist eben der Witz bei der Sache: "Groß" sagen soll ja niemand etwas, sondern so, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Was Bauer Drewes Kempowski seinerzeit zu berichten hatte, ging sehr wahrscheinlich ein in den genau in jener Zeit spielenden, bis heute sträflich vernachlässigten Dorfschullehrer-Roman "Heile Welt" (1998), zweifellos große Literatur. Aber jetzt diese Sammlung von Privatmeinungen? Kempowski war davon überzeugt, dass damit "die Literatur an eine Grenze gerät, von wo aus oder an der sie umkehrt zum Geraune der Menschen am Feuer". Das kann dann mit Literatur nicht mehr viel zu tun haben, sofern man darunter auch einen (privilegierten) Autor-Standpunkt und eine (spezifische) Geformtheit versteht. Aber der Begriff wurde auf "Plankton" in ersten Rezensionen schon angewendet, sogar in einem eminenten, avantgardistischen Sinne. In der Tat lassen sich, zumal im digitalen Zeitalter mit seinem noch fragmentierteren Bewusstsein und den ganz anderen Mitmach-Möglichkeiten des Schreibens, Argumente nennen, wenn man Kempowski als Visionär ins Spiel bringt: "Plankton" wäre dann ein durchaus beeindruckendes Zeugnis von Schwarmintelligenz. Aber von "Literatur" sollte man nur in dem Sinne sprechen, dass damit (auch) die Gesamtheit von Schrifttum gemeint sein kann.
Kempowski, der bei den Befragten oft auf einen ganz natürlichen Mitteilungsdrang setzen konnte, frohlockte am 2. Januar 1989, dass er schon eine "hübsche kleine Sammlung" beisammenhabe, "kleine autonome Texte, "die im günstigsten Fall von hoher literarischer Qualität sind". Im günstigsten Fall sind sie es tatsächlich, aber eben nur im günstigsten. Bisweilen stolpert man über Miniaturen, die so abgründig sind, dass sie die anonym bleibenden, nur mit Beruf und Jahrgang verzeichneten Erzähler ein Leben lang beschäftigen müssten: "Tischlermeister, *1940 Zweiter Weltkrieg
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Das prinzipiell endlose Gebrabbel in diesem Band stellt Gustav Seibt gegen Kempowskis Kunstwerke. Nein, mehr als Spielerei mag der Rezensent nicht erkennen in dieser auf einem eigens eingerichteten Internetportal zum Mitmachen aufrufenden Publikation. Zu gewöhnlich und unrührend der aus Kempowskis bei Müller und Schukze gesammelten Erinnerungen tönende deutsche Mittelstandston, zu selten die daraus resultierende Bedeutsamkeit, meint Seibt. Das Ungeformte stört den Rezensenten dabei weniger, denn Artistik kann er ja entdecken, doch mehr im Sinne von Musik, für persönliche Aneignung offen. Drum, rät Seibt, blättere der Leser lieber hier und da herum, schlafe mit dem Buch ein, aber suche nicht nach Befunden in Kempowskis "Installation".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.04.2014Wie war Ihre Mutter?
Walter Kempowskis letztes Werk ist kein Werk mehr:
„Plankton“ ist ein gewaltiger, wispernder Strom unzähliger Stimmen
VON GUSTAV SEIBT
Walter Kempowskis letztes Buch, ist kein Werk, es ist eine Installation. Fast fünfzig Jahre, seit 1961, hatte der 2007 verstorbene Erzähler, Sammler und Arrangeur deutscher Geschichte des 20. Jahrhunderts Menschen nach ihren Erinnerungen befragt. „Wie war Ihre Mutter?“ „Haben Sie mal einen Prominenten gesehen?“ „Erinnern Sie sich an ein Möbelstück aus Ihrer Kindheit?“ „Welches Verhältnis haben Sie zur Religion?“ So sollte das Persönliche und das Allgemeine abgefischt werden. Später kamen aktuelle Fragen hinzu: „Haben Sie schon einmal im Stau gestanden?“ „Erinnern Sie sich an den Tag, als die Mauer fiel?“
Wer zu Kempowski kam, wusste bald, dass er gut beraten war, ein Gedicht oder Bibelzitat auf Lager zu haben. Der leidenschaftliche Lehrer examinierte neue Bekannte lieber, statt sich im Smalltalk an sie heranzutasten. Und alles schrieb er auf, in Kladden, auf Zettel, später in den Computer. So entstand im Lauf der Jahre ein riesiges Archiv von Erinnerungspartikeln verschiedenster Menschen, ein gewaltiger, wispernder Strom aus Stimmen, Zitatfetzen, Belanglosigkeiten, Ungeheuerlichkeiten. Einiges davon kam schon vor Jahrzehnten ans Licht: „Haben Sie von den Judenverfolgungen, von den KZs
gewusst?“ „Haben Sie Hitler gesehen?“: Die Deutsche Katastrophe im Sound der Kaffeetafel, gelegentliches erschrockenes Innehalten nicht ausgeschlossen.
Kempowski nannte seine Materialfetzen „Plankton“, nach den winzigen Meeres- oder Süßwasser-Organismen, Einzellern, Bakterien, Mini-Pflanzen, Faden- und Schalentierchen, von denen die höheren Organismen der Gewässer sich ernähren. Mikrobiologisches Treibgut für ausgewachsene Fische, und das waren für Kempowski dann seine wohlkomponierten, aus schriftlich geformtem Material zusammengesetzten kollektiven Tagebücher zu Stalingrad und zum Kriegsende, dem gewaltigen Unterbau seiner eigenen Romane, die am Ende das gesamte 20. Jahrhundert von der Kaiserzeit bis zur Wiedervereinigung überspannten. Dazu schrieb Kempowski selbst Tagebücher, um auch im Teich des eigenen Gedächtnisses nichts umkommen zu lassen.
„Plankton“, das sollte der Urschlamm unter den höheren Organismen der Kunstwerke sein, der Schritt zum reinen Material, zum Gebrabbel aus Alltag, Schock und Verdrängung. So enthüllt sich der als realistischer Volksschriftsteller lange Zeit unterschätzte Autor als Avantgardist, der die Grenzen der Literatur kraftvoll ins Ungeformte, Unwillkürliche und Zufällige vorschob. Drei Stufen habe das erinnernde Schreiben, befand Kempowski, und „Plankton“ enthält noch einmal eine Skizze dazu, gewissermaßen das Tafelbild des Literaturlehrers: unten Schneekristalle, darüber eine verschneite Landschaft, auf ihr dann die individuell geformten Schneemänner: Plankton, Echolot, Chronik, die drei Werkgruppen des Verfassers, in einem geschlossenen Kreislauf: Würde man die Leser befragen: „Woran erinnern Sie sich aus Ihren Kempowski-Lektüren?“, dann wäre der Kreis geschlossen, die Kunstwerke würden wieder zu Plankton, eingehen in den Urstrom des zersplitterten Gedächtnisses.
Diese letzte Stufe ließe sich sogar in die Tat umsetzen, denn schon „Plankton“ erscheint nun als Angebot zum endlosen Weitermachen. Die Herausgeberin und Kempowski-Mitarbeiterin Simone Neteler hat nämlich das Material nach dessen Tod getreu seinen Vorgaben weiterwachsen lassen und die Neuzugänge unter den hinterlassenen Bestand gemischt. Das Ganze erscheint nach einem Zufallsprinzip gemischt und anonymisiert. Nur Geburtsdaten und eine vage soziale Einordnung bleiben erkennbar: „Pastor, *1904“, „Medientechniker, *1970“, Angestellte, Fotografin, Rektor, ostdeutsche Sekretärin, aber gelegentlich auch nur „eine Frau, ein Mann“, ganz selten fehlen sogar Geburtsdaten.
Nie wird gesagt, wann und unter welchen Umständen die Aussagen entstanden – nur aus internen Hinweisen, etwa bei Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg wird deutlich, wie alt einzelne Notizen schon sein müssen. Diese zufällige und zerstückelte Anlage verbietet es auch, von „Oral History“ zu sprechen, wie die Herausgeberin es im Nachwort tut. Diese Disziplin der Zeitgeschichte pflegt ihr Material kontrolliert zu protokollieren, auch sucht sie eher lange Erzählstrecken als einzelne Gedächtnisfetzen; sie arbeitet vergleichend und erzählanalytisch.
So sehr Kempowskis Verfahren ins Ungeformte steuert, so sehr wirkt es zugleich doch artistisch, weil der große Rührstab des Zufalls die Minikristalle einzeln wirken lässt und in zufällige Ordnungen bringt. Was daraus wird, ist eher Musik als Anamnese, ein Ton, kein Befund. Zugleich ist diese Form für individuelle Aneignungen offen. Der Verlag bietet ein Internetportal an, in dem der Leser sich seine eigene „Plankton“-Ausgabe mit bis zu acht eigenen Beiträgen erstellen lassen kann, samt Autorenname und Vita auf dem Umschlag.
So dürfen sich Max Mustermann oder Gabi Lenz neben Walter Kempowski in den Bücherschrank stellen, und irgendwo auf diesen achthundert Seiten schwimmt ein wenig eigene DNA. Das ist toll, aber auch bastelhaft-irrwitzig. Walter Kempowski wird so noch postum zum Volksschullehrer der Nation, in einem Mitmach-Unterricht, der potenziell unendlich weitergehen könnte bis zum Ende der Tage, wenn niemand mehr da ist, der Erlebtes wiederkäuen kann. Man könnte auch sagen: Der lebenslange DDR-Hasser und Antikommunist hat mit eigensinniger Pedanterie den Bitterfelder Weg überboten und die eigentliche Deutsche Demokratische Prosa erschaffen.
Eine „Lektüre“ dieser Installation kann es im strengen Sinn nicht geben. Warum sollte man ein Buch, das zufällig zusammengestellt ist, von Seite neun bis Seite 812 durcharbeiten? Man blättert, überblättert, geht vor und zurück. Man kann damit einschlafen oder in die S-Bahn gehen. Zahnärzte können es ins Wartezimmer legen. Die Produktion von eigenem Plankton – man kann sich auch ohne Bestellung des ganzen Bandes eine pdf-Vorschau der eigenen Antworten herunterladen – sollte unbedingt zu einer Lektüre gehören.
Man lese also ein paar Stunden in dem Band, und dann antworte man: Haben Sie schon mal einen Prominenten gesehen? Wie war Ihre Mutter? Und zwar so spontan, dass ein Befund draus wird, das Leben in einer Nussschale. Unwillkürlich nimmt man den trockenen deutschen Mittelstandston an, den die Mehrzahl der Einträge hören lässt: ja, so war das damals. Mensch, war das ärgerlich. Schon schlimm. Ach, die arme Mutter. Eigentlich ganz schön. Der sah ganz schön fett aus.
Insgesamt ist dies eine riesige Spielerei, die nur hin und wieder Bedeutsamkeit erzeugt. Kempowski hatte auch die Marotte, nach „Negern“ zu fragen. Eine Antwort sei in ganzer Länge zitiert (Germanist, *1965): „Mein erster Klavierlehrer war ein Schwarzer, ein sehr, sehr freundlicher Mann. Der kam aus Ghana. Da war ich neun Jahre alt. Der sprach Deutsch mit einem kleinen, wohl irgendwie englischen Akzent. Eigentlich gab der Klarinettenunterricht. Große Finger hatte der, die innen hell waren. Der roch sehr speziell. Fremd, aber irgendwie mochte ich das. Als ich nach zwei Jahren dann eine andere Lehrerin kriegen sollte – so eine richtige Ziege –, da habe ich vor der ersten Stunde bitterlich geweint, und da hat er mich getröstet und dann bei der anderen Lehrerin abgeliefert.“ Wenn man Glück hat, erinnert man sich an einen anderen Eintrag (Rechtsanwalt, *ca 1955): „,Und Petrus ging hinaus und weinte bitterlich.‘ Das kann ich sogar auf Lateinisch sagen: ,Et Petrus egressus flevit amare.‘“
Das Meiste ist so unrührend wie die Menschheit insgesamt. Plankton gedeiht auch in der Arktis der Gefühlskälte. Der Rezensent, als junger Historiker vor dreißig Jahren begeisterter Anhänger der „Oral History“, hat kurz überlegt, ob man, wenn alles andere verloren wäre, unsere Zeit aus diesem Plankton rekonstruieren könnte. Könnte man nicht. Aber wir haben ja auch Kempowskis Kunstwerke, populäre Geschichten wie „Tadellöser und Wolff“, die man noch in fünfzig Jahren lesen wird, aber auch die späten, harten Meisterwerke „Heile Welt“ und „Letzte Grüße“, die Anspruch auf die Ewigkeit der Literaturgeschichte erheben dürfen.
In diesem Buch entpuppt
sich der vermeintliche
Volksschriftsteller als Avantgardist
Mensch, war das ärgerlich.
Schon schlimm. Ach, die arme
Mutter. Eigentlich ganz schön
Walter Kempowski:
Plankton. Ein kollektives Gedächtnis. Herausgegeben von Simone Neteler. Knaus Verlag, München 2014. 831 Seiten, 49,99 Euro.
Individualisierte Ausgabe
mit eigenem Plankton
89,99 Euro. Siehe www.kempowski-plankton.de
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Walter Kempowskis letztes Werk ist kein Werk mehr:
„Plankton“ ist ein gewaltiger, wispernder Strom unzähliger Stimmen
VON GUSTAV SEIBT
Walter Kempowskis letztes Buch, ist kein Werk, es ist eine Installation. Fast fünfzig Jahre, seit 1961, hatte der 2007 verstorbene Erzähler, Sammler und Arrangeur deutscher Geschichte des 20. Jahrhunderts Menschen nach ihren Erinnerungen befragt. „Wie war Ihre Mutter?“ „Haben Sie mal einen Prominenten gesehen?“ „Erinnern Sie sich an ein Möbelstück aus Ihrer Kindheit?“ „Welches Verhältnis haben Sie zur Religion?“ So sollte das Persönliche und das Allgemeine abgefischt werden. Später kamen aktuelle Fragen hinzu: „Haben Sie schon einmal im Stau gestanden?“ „Erinnern Sie sich an den Tag, als die Mauer fiel?“
Wer zu Kempowski kam, wusste bald, dass er gut beraten war, ein Gedicht oder Bibelzitat auf Lager zu haben. Der leidenschaftliche Lehrer examinierte neue Bekannte lieber, statt sich im Smalltalk an sie heranzutasten. Und alles schrieb er auf, in Kladden, auf Zettel, später in den Computer. So entstand im Lauf der Jahre ein riesiges Archiv von Erinnerungspartikeln verschiedenster Menschen, ein gewaltiger, wispernder Strom aus Stimmen, Zitatfetzen, Belanglosigkeiten, Ungeheuerlichkeiten. Einiges davon kam schon vor Jahrzehnten ans Licht: „Haben Sie von den Judenverfolgungen, von den KZs
gewusst?“ „Haben Sie Hitler gesehen?“: Die Deutsche Katastrophe im Sound der Kaffeetafel, gelegentliches erschrockenes Innehalten nicht ausgeschlossen.
Kempowski nannte seine Materialfetzen „Plankton“, nach den winzigen Meeres- oder Süßwasser-Organismen, Einzellern, Bakterien, Mini-Pflanzen, Faden- und Schalentierchen, von denen die höheren Organismen der Gewässer sich ernähren. Mikrobiologisches Treibgut für ausgewachsene Fische, und das waren für Kempowski dann seine wohlkomponierten, aus schriftlich geformtem Material zusammengesetzten kollektiven Tagebücher zu Stalingrad und zum Kriegsende, dem gewaltigen Unterbau seiner eigenen Romane, die am Ende das gesamte 20. Jahrhundert von der Kaiserzeit bis zur Wiedervereinigung überspannten. Dazu schrieb Kempowski selbst Tagebücher, um auch im Teich des eigenen Gedächtnisses nichts umkommen zu lassen.
„Plankton“, das sollte der Urschlamm unter den höheren Organismen der Kunstwerke sein, der Schritt zum reinen Material, zum Gebrabbel aus Alltag, Schock und Verdrängung. So enthüllt sich der als realistischer Volksschriftsteller lange Zeit unterschätzte Autor als Avantgardist, der die Grenzen der Literatur kraftvoll ins Ungeformte, Unwillkürliche und Zufällige vorschob. Drei Stufen habe das erinnernde Schreiben, befand Kempowski, und „Plankton“ enthält noch einmal eine Skizze dazu, gewissermaßen das Tafelbild des Literaturlehrers: unten Schneekristalle, darüber eine verschneite Landschaft, auf ihr dann die individuell geformten Schneemänner: Plankton, Echolot, Chronik, die drei Werkgruppen des Verfassers, in einem geschlossenen Kreislauf: Würde man die Leser befragen: „Woran erinnern Sie sich aus Ihren Kempowski-Lektüren?“, dann wäre der Kreis geschlossen, die Kunstwerke würden wieder zu Plankton, eingehen in den Urstrom des zersplitterten Gedächtnisses.
Diese letzte Stufe ließe sich sogar in die Tat umsetzen, denn schon „Plankton“ erscheint nun als Angebot zum endlosen Weitermachen. Die Herausgeberin und Kempowski-Mitarbeiterin Simone Neteler hat nämlich das Material nach dessen Tod getreu seinen Vorgaben weiterwachsen lassen und die Neuzugänge unter den hinterlassenen Bestand gemischt. Das Ganze erscheint nach einem Zufallsprinzip gemischt und anonymisiert. Nur Geburtsdaten und eine vage soziale Einordnung bleiben erkennbar: „Pastor, *1904“, „Medientechniker, *1970“, Angestellte, Fotografin, Rektor, ostdeutsche Sekretärin, aber gelegentlich auch nur „eine Frau, ein Mann“, ganz selten fehlen sogar Geburtsdaten.
Nie wird gesagt, wann und unter welchen Umständen die Aussagen entstanden – nur aus internen Hinweisen, etwa bei Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg wird deutlich, wie alt einzelne Notizen schon sein müssen. Diese zufällige und zerstückelte Anlage verbietet es auch, von „Oral History“ zu sprechen, wie die Herausgeberin es im Nachwort tut. Diese Disziplin der Zeitgeschichte pflegt ihr Material kontrolliert zu protokollieren, auch sucht sie eher lange Erzählstrecken als einzelne Gedächtnisfetzen; sie arbeitet vergleichend und erzählanalytisch.
So sehr Kempowskis Verfahren ins Ungeformte steuert, so sehr wirkt es zugleich doch artistisch, weil der große Rührstab des Zufalls die Minikristalle einzeln wirken lässt und in zufällige Ordnungen bringt. Was daraus wird, ist eher Musik als Anamnese, ein Ton, kein Befund. Zugleich ist diese Form für individuelle Aneignungen offen. Der Verlag bietet ein Internetportal an, in dem der Leser sich seine eigene „Plankton“-Ausgabe mit bis zu acht eigenen Beiträgen erstellen lassen kann, samt Autorenname und Vita auf dem Umschlag.
So dürfen sich Max Mustermann oder Gabi Lenz neben Walter Kempowski in den Bücherschrank stellen, und irgendwo auf diesen achthundert Seiten schwimmt ein wenig eigene DNA. Das ist toll, aber auch bastelhaft-irrwitzig. Walter Kempowski wird so noch postum zum Volksschullehrer der Nation, in einem Mitmach-Unterricht, der potenziell unendlich weitergehen könnte bis zum Ende der Tage, wenn niemand mehr da ist, der Erlebtes wiederkäuen kann. Man könnte auch sagen: Der lebenslange DDR-Hasser und Antikommunist hat mit eigensinniger Pedanterie den Bitterfelder Weg überboten und die eigentliche Deutsche Demokratische Prosa erschaffen.
Eine „Lektüre“ dieser Installation kann es im strengen Sinn nicht geben. Warum sollte man ein Buch, das zufällig zusammengestellt ist, von Seite neun bis Seite 812 durcharbeiten? Man blättert, überblättert, geht vor und zurück. Man kann damit einschlafen oder in die S-Bahn gehen. Zahnärzte können es ins Wartezimmer legen. Die Produktion von eigenem Plankton – man kann sich auch ohne Bestellung des ganzen Bandes eine pdf-Vorschau der eigenen Antworten herunterladen – sollte unbedingt zu einer Lektüre gehören.
Man lese also ein paar Stunden in dem Band, und dann antworte man: Haben Sie schon mal einen Prominenten gesehen? Wie war Ihre Mutter? Und zwar so spontan, dass ein Befund draus wird, das Leben in einer Nussschale. Unwillkürlich nimmt man den trockenen deutschen Mittelstandston an, den die Mehrzahl der Einträge hören lässt: ja, so war das damals. Mensch, war das ärgerlich. Schon schlimm. Ach, die arme Mutter. Eigentlich ganz schön. Der sah ganz schön fett aus.
Insgesamt ist dies eine riesige Spielerei, die nur hin und wieder Bedeutsamkeit erzeugt. Kempowski hatte auch die Marotte, nach „Negern“ zu fragen. Eine Antwort sei in ganzer Länge zitiert (Germanist, *1965): „Mein erster Klavierlehrer war ein Schwarzer, ein sehr, sehr freundlicher Mann. Der kam aus Ghana. Da war ich neun Jahre alt. Der sprach Deutsch mit einem kleinen, wohl irgendwie englischen Akzent. Eigentlich gab der Klarinettenunterricht. Große Finger hatte der, die innen hell waren. Der roch sehr speziell. Fremd, aber irgendwie mochte ich das. Als ich nach zwei Jahren dann eine andere Lehrerin kriegen sollte – so eine richtige Ziege –, da habe ich vor der ersten Stunde bitterlich geweint, und da hat er mich getröstet und dann bei der anderen Lehrerin abgeliefert.“ Wenn man Glück hat, erinnert man sich an einen anderen Eintrag (Rechtsanwalt, *ca 1955): „,Und Petrus ging hinaus und weinte bitterlich.‘ Das kann ich sogar auf Lateinisch sagen: ,Et Petrus egressus flevit amare.‘“
Das Meiste ist so unrührend wie die Menschheit insgesamt. Plankton gedeiht auch in der Arktis der Gefühlskälte. Der Rezensent, als junger Historiker vor dreißig Jahren begeisterter Anhänger der „Oral History“, hat kurz überlegt, ob man, wenn alles andere verloren wäre, unsere Zeit aus diesem Plankton rekonstruieren könnte. Könnte man nicht. Aber wir haben ja auch Kempowskis Kunstwerke, populäre Geschichten wie „Tadellöser und Wolff“, die man noch in fünfzig Jahren lesen wird, aber auch die späten, harten Meisterwerke „Heile Welt“ und „Letzte Grüße“, die Anspruch auf die Ewigkeit der Literaturgeschichte erheben dürfen.
In diesem Buch entpuppt
sich der vermeintliche
Volksschriftsteller als Avantgardist
Mensch, war das ärgerlich.
Schon schlimm. Ach, die arme
Mutter. Eigentlich ganz schön
Walter Kempowski:
Plankton. Ein kollektives Gedächtnis. Herausgegeben von Simone Neteler. Knaus Verlag, München 2014. 831 Seiten, 49,99 Euro.
Individualisierte Ausgabe
mit eigenem Plankton
89,99 Euro. Siehe www.kempowski-plankton.de
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"Der Visionär aus Nartum - Walter Kempowskis Sammlung "Plankton" mit mündlichen Zitaten aus 50 Jahren ist ein faszinierendes künstlerisches Experiment." Der Spiegel, Volker Hage