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Gernot Böhmes Milchglasscheibe der platonischen Denkungsart / Von Thomas Sören Hoffmann
Wer es unternimmt, eine Darstellung von Platons "theoretischer" Philosophie anzukündigen, wird auf die Frage gefaßt sein müssen, ob es dergleichen im strengen Sinne überhaupt gebe und Platon denn fürs Theoretische andere Prinzipien benenne als fürs Praktische. Platon hat dieser kurz nach ihm in Mode gekommenen Aufspaltung des Denkens nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch, will sagen biographisch, widersprochen: theoretisch, indem er die Auflösung der Grundprobleme der Philosophie in letzter Instanz in der Idee des Guten, des absoluten Zwecks, leistete; biographisch, indem er sich dazu bekannte, daß seine Konversion zur Philosophie die Konsequenz aus dem Scheitern eines politisch-praktischen Impulses war.
Zwar führte die Einsicht in die Nichtigkeit begrifflosen "Engagements" hinaus vor die Tore der Stadt, aber die Schule im Hain des Heros Akademos hat sich damit gerade nicht von der Frage nach der von Grund auf guten und wahren Polis und Politeia losgesagt. Im Gegenteil ist die Verfassungsfrage eigentlich nur dann zu beantworten, wenn sie schlüssig mit allen Fragen der "theoretischen" Vernunft vermittelbar ist. Darum hat der wirkliche Staat sein wirkliches Selbstbewußtsein nur in seinen Philosophien, und umgekehrt ist das Erkennen des Philosophen immer das Wiedererkennen des in sich Guten.
Gleichwohl kann man sagen, daß Platon den Raum der "Theorie", des scharfen Sehens aus produktiver Distanz, vielleicht als erster bewußt betreten hat. "Theorie" ist das Geschäft der aus ihrer Unmittelbarkeit herausgetretenen Seele, einer Seele, die dort den Umweg über Ideen, Prinzipien und Gründe zu nehmen stark genug ist, wo andere in blinder Wahrnehmung, Gier und Meinung verdämmern. Noch der Antiplatoniker Nietzsche hat in jedem Satz Platons ein "Jauchzen" über den neu "erfundenen" logischen Standpunkt gehört. Inzwischen jedoch, das ist die nicht ganz spektakuläre These, mit welcher der Darmstädter Philosoph Gernot Böhme sein neues Platon-Buch eröffnet, ist der logisch-theoretische Standpunkt fast trivial geworden. Die Frage nach Platons theoretischer Philosophie ist irgendwie auch die Frage nach dem "Platon in uns" - auch wenn Böhme sie fürs erste doch wieder verfremdend, nämlich durch den Blick zurück auf Platon "im Kontext der Wissenschaftsentwicklung" seiner Zeit, beantwortet.
Böhme präsentiert, dem Wissenschaftenkanon des "Staats" sowie dem "Philebos" und "Timaios" folgend, zunächst das "positive" Grundwissen der Platonischen Mathematik, Astronomie und Harmonielehre. Dabei gelangt er zu oft sehr griffigen Resultaten, die ohne gröbere Vereinfachungen vertrackte Texte auslegen. Damit ist gegen Schleiermacher, Schlegel und auch Neuere einmal mehr gezeigt, daß wir es bei Platon keineswegs nur mit urbaner, sich selbst genießender Redelust, sondern im Kern mit konkreten theoretischen Konzepten zu tun haben, die überdies bei näherem Zusehen womöglich gar nicht nur "antiquiert" sind.
Das überzeugendste Beispiel dafür liegt in Böhmes Darstellung von Platons Kosmogonie, die am Ende fast wie eine Fußnote zu Whitehead erscheint. Insofern nämlich gezeigt werden kann, daß hier statt des aristotelischen Substanz-Akzidens-Schemas etwas ganz anderes obwaltet: die Grundannahme, daß sich in einer ursprünglichen chaotischen Bewegtheit als reiner Plastizität (Chora) "stabile" Strukturmuster (die platonischen Körper) bilden, in denen dann die gesamte sinnliche Welt als bewegtes "Bild" der ewigen aufscheint. Materie ist so nicht "etwas", das auch noch bewegt ist, sie ist nichts anderes als an unbestimmter Bewegung überhaupt aktualisierte Zahl und Figur. Böhme hat bereits in früheren Arbeiten gezeigt, wie sich in diesem Zusammenhang nicht zuletzt ein Zeitbegriff ergibt, der mit dem uns vertrauten linear-eindimensionalen "Zeitpfeil" wenig gemein hat: Zeit ist bei Platon, ihrem ersten Theoretiker, der Eigenrhythmus des "transzendentalen" Werdens; sie ist die ordnende Arbeit der "inneren Uhr" der Welt und darin stimmige Verbildlichung des Ewigen.
Da der "Timaios" wie überhaupt Platons Naturphilosophie mit Einschluß seiner Lehre von Zahl und Gestalt als gut erforscht gelten kann, ist keineswegs alles neu, was Böhme hier bietet; weiterführend ist jedoch die konsequente Einordnung der Ergebnisse in Platons philosophisches Gesamtkonzept. Demnach können etwa die Ideen als selbstseiende Urbilder keine nur abstraktiv gewonnenen Allgemeinbegriffe sein, sondern umgekehrt ist jedes Ansprechen des sinnlich einzelnen eine Abstraktion von der Idee, wodurch diese ins Bildliche und ins Diskursive transponiert wird. Auch wird unter Rückgriff auf "Meta-Ideen" und oberste Prinzipien der Ort der Dialektik als Wissenschaft vom methodischen Ansprechen der Ideen als Ideen plausibilisiert.
Aber die Dialektik ist dabei auch noch einmal mit der Frage der Einheit der Wissenschaften insgesamt, mit deren "Ordnungsprinzipien", befaßt. Sie macht, was in der Einzelwissenschaft Hypothese bleibt, "logosfähig", und sie korreliert diese Wissenschaften auf eine Totalität hin, die zuletzt unter der Idee des Guten noch einmal in den Blick genommen werden kann: eines Guten freilich, das bei Böhme eher formale, merkwürdig teleologiefreie Bedeutung annimmt: Die Differenz zwischen einem Seinssoll (der Idee) und dem aktual Seienden stiftet Erkenntnis - denn etwas auf seine Güte befragen heißt an etwas das, was es im Vollsinne wäre, aufleuchten lassen.
Ob dieser eher methodologische Sinn des Guten tatsächlich das ausschöpft, was Platon mit seiner doch wohl auch ontologisch relevanten obersten Idee im Auge hatte, mag man bezweifeln. Es dürfte kein Zufall sein, daß Böhme die spekulative Dialektik des "Parmenides" ebenso unberücksichtigt läßt, wie er den Ansatz bei der Reflexität des Wissens im "Charmides" nur beiläufig erwähnt; daß beides auf einen Begriff des "absoluten Selbst" zuläuft, wie ihn die Idee des Guten ausspricht, würde der Sache eine Tiefendimension geben, die Böhme zwar für neuplatonischen "Überschwang" hält, mit der aber auch die ausgesparte Frage nach der Einheit von Theorie und Praxis beantwortet werden könnte.
Böhmes systematisch angelegtes Kompendium kann zur Übersicht über entscheidende Teile von Platons Philosophie recht gute Dienste leisten; es bietet darüber hinaus oftmals instruktive oder doch anregende Platon-Lesarten. Daß jedem Versuch, Platon in Oxford nachzuhabilitieren und ihn in attischem Glanze sprachanalytische Belanglosigkeiten sagen zu lassen, eine klare Absage erteilt wird, gehört zu den Souveränitätsmerkmalen des Buches. Bedauern mag man dagegen, daß die Platon-Literatur sehr selektiv herangezogen wird und insbesondere ältere Autoren wie Paul Friedländer, Ernst Hoffmann, Léon Robin, Alfred E. Taylor oder Paul Wilpert, von wichtigen Autoren des neunzehnten Jahrhunderts zu schweigen, komplett ausgeblendet werden.
Äußerlich hätte man sich darüber hinaus ein Buch gewünscht, das eine resolute Fahnenkorrektur erlebt hätte: nicht nur, weil man sich jetzt doch sehr wundert, Philipp von Opus an Stelle von Speusipp zum Nachfolger Platons in der Akademie befördert zu sehen, sondern weil das Buch so auch von seiner etwas aleatorisch ausgelegten Interpunktion und anderen Satzmängeln hätte befreit werden können. Mehr den Verlag als den Autor geht schließlich die unerfreuliche Tatsache an, daß die Bögen gleich nach der ersten Lektüre aus ihrer Heftung rutschen. Aber dergleichen soll nicht hindern, den vorliegenden Titel, vielleicht zusammen mit Thomas A. Szlezáks "Platon lesen", unter dem Strich für den Einstieg in Platon durchaus zu empfehlen. Sein Gegenstand, Platon nämlich, empfiehlt sich ohnedies stets von selbst.
Gernot Böhme: "Platons theoretische Philosophie". Verlag J. B. Metzler, Stuttgart 2000. VIII, 392 S., geb. 78,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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