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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Sie erinnern sich noch an die neuronale "Entzauberung des Menschen", an schneidige neurowissenschaftliche Manifeste, den pulverisierten freien Willen, an eine Hirnforschung, die als neue Leitwissenschaft unser Menschenbild von Grund auf revolutioniert? Lang ist's nicht her, dass sich rund um diese Stichworte heftige Debatten in allen möglichen medialen Formaten entfalteten. Aber mittlerweile ist deren Intensität doch spürbar gesunken, sind die groß zugeschnittenen Thesen und Prognosen deutlich seltener zu hören.
Tatsächlich hatte man ohnehin schnell den Eindruck gewonnen, dass hinter ihnen eine realistische Einschätzung neurowissenschaftlicher Verfahren und Möglichkeiten tendenziell verschwand. Bei den lautstärksten selbsternannten Vertretern neurowissenschaftlicher Weltbildansprüche war die Forschungsrealität kaum mehr zu erraten. Man geriet da eher vorschnell in Versuchung, oft nur alten Wein in neuen Schläuchen oder vielmehr Tomographenröhren zu vermuten.
Eine solche Diagnose sprach zwar nicht gegen den öffentlichen medialen Erfolg der neuen Stardisziplin, zumal das Anknüpfen an Erwartungshaltungen, die sowohl das Gefühl einer Determiniertheit von Entscheidungen wie das Versprechen neuer, "wissenschaftlich" fundierter Praktiken offener Selbstgestaltung befriedigen - Stichwort zerebrale Plastizität mit allen ihren Marketingfolgen -, offensichtlich gut funktioniert. Doch bei dieser naheliegenden Fokussierung auf die öffentliche Schauseite der Wissenschaft gerät das Faktum der fraglosen Erfolgsgeschichte der Neurowissenschaft in den Labors und Forschungseinrichtungen selbst leicht ins Hintertreffen. Eine exzellente Möglichkeit, solcher Einseitigkeit vorzubeugen, gibt nun die Untersuchung, die der Frankfurter Soziologe Torsten Heinemann der Attraktionskraft der Hirnforschung gewidmet hat ("Populäre Wissenschaft". Hirnforschung zwischen Labor und Talkshow. Wallstein Verlag, Göttingen 2012. 302 S., geb., 29,90 [Euro]).
Der große Vorzug von Heinemanns Darstellung ist, alle Facetten dieser Anziehungskraft und deren Wechselspiel im Blick zu haben. Ein Wechselspiel, das im Fall der Hirnforschung auf exemplarische Weise über die Grenzen der Terrains von "Wissenschaft selbst" und ihrer öffentlichen (Selbst-)Darstellung hinwegreicht: Das öffentliche Image ist von maßgeblicher Bedeutung für die forschungspolitische Durchsetzungskraft. Letztere darf man sich allerdings nicht als neurowissenschaftliche Kolonisierung vorstellen: Heinemann arbeitet auf der Grundlage seiner Beobachtungen und Interviews heraus, dass sich die Hirnforschung erfolgreich als Integrationsprojekt etablieren konnte, das nicht zuletzt Ankoppelungen an avancierte und hoch bewertete Labortechnik anbietet.
Wobei die neurowissenschaftliche Offenheit für die Integration von Forschungsfragen sich dann durch die Anerkennung der methodischen Imperative bezahlt macht, die mit den Techniken verknüpft sind. Heinemann kann da auf manche offenherzige Bekundungen seiner Gesprächspartner auf dem neurowissenschaftlichen Feld zurückgreifen. Ein ideologiekritischer Zungenschlag Frankfurter Provenienz fehlt bei ihm übrigens nicht - aber er ist sehr gut unterbaut.
HELMUT MAYER
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