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Anatomie eines Volkskörpers: Der österreichische Autor Gerhard Roth öffnet seinen Materialkasten und präsentiert in "Portraits" allerhand zeitgeschichtliches Personal.
Kreisky habe drei Standpunkte, schreibt Gerhard Roth: "1. den aus Formulierungs- und Gesprächslust. 2. den der Öffentlichkeit gegenüber. 3. den persönlichen." Eugène Ionesco wiederum, den Roth 1987 in St. Gallen trifft, erklärt, bei der Geburt habe Gott ihm drei Fässer gegeben: eines mit Bier, eines mit Wein und ein kleineres mit Whisky. Er habe sie nacheinander ausgetrunken. Nun bleibe ihm nichts mehr. Auch Gerhard Roth, für frühere Alkoholexzesse berüchtigt, hat sein Schaffen einer Dreifaltigkeit unterworfen: Fotografie, Roman und Reportage. Mehr als dreißig Werke hat er auf diese Weise verfasst - und doch verdichtet sich alles, was Roth je veröffentlicht hat, zu einem dominierenden Thema: der Archäologie Österreichs, der Tiefenbohrung in einem Land, das nach dem Krieg zu einem Archiv des Schweigens versiegelt worden war.
"Archive des Schweigens" lautete denn auch der erste von zwei großen Romanzyklen, die Roth neben Peter Handke und Wolfgang Bauer zu einer der wichtigsten intellektuellen Stimmen Österreichs haben werden lassen. Und das, obwohl er beflissen wie ein Anatom (Roth hatte dem Vater nacheifernd ein Medizinstudium aufgenommen) den österreichischen Volkskörper, der moralisch verwest war, auf diese Verwesung hin untersuchte.
Der letzte Teil dieser lebenslangen, wie Kritiker monierten, zwanghaften Beschäftigung mit der Zeitgeschichte erschien vor einem Jahr mit dem bewusst nicht als Roman ausgewiesenen Buch "Orkus - Reise zu den Toten". Es bildete den Endpunkt - als Materialsammlung aber zugleich den Ausgangspunkt eines zweiten Roman-Zyklus: "Orkus". Schon mit der "Reise zu den Toten" hatten alte und neue Leser des Rothschen Werks Gelegenheit, sich mit den Stoffen, den fiktiven wie realen Figuren, den essayistischen Essenzen und den dokumentarischen Grundlagen seines Schreibens vertraut zu machen, handelte es sich bei dem Buch doch mehr um eine lose Textsammlung, eine literarische Assoziationskette, wie Roth sie seit seiner Beschäftigung mit den schizophrenen Künstlern der Anstalt Gugging imaginiert hatte. Eine Assoziationskette, die aus der Verdichtung im Roman, im Essay und erst recht in der Fotografie, mit der sich Roth in verschiedenen Bänden beschäftigte, wieder in eine Offenheit des Materials zurückführte. Man könnte auch sagen: Er hat mit der "Reise zu den Toten" sein 1995 begonnenes Roman-Werk wieder losgelassen.
Nun ist ein Jahr nach diesem Abschluss ein weiteres Buch aus der Roth-Manufaktur erschienen, dieses Mal mit Porträts, die Roth - bis zu seinem sechzigsten Lebensjahr noch sehr auf Zusatzverdienste angewiesen - in diversen Zeitschriften veröffentlicht hat. Wer sein Werk kennt, wird alte Bekannte wiedertreffen. Kanzler Kreisky parfümierte mit seinen legendären Sentenzen bereits das Orkus magnum. Nun kann man ihn in einer glänzenden Reportage von 1980 auf Dienstreisen begleiten. Zweihundert Veranstaltungen hatte der SPÖ-Politiker im Wahljahr 1979 zu absolvieren - innerhalb von zwei Wochen. Roth, von dem Hofberichterstattung erwartet wird, geht mit Kreisky auf jeden Empfang, steigt mit ihm in jede Limousine. Und Kreisky steigt für Roth auf seinen Heimtrainer, mit dem er steile Berge erklimmt. "Vor Journalisten", schreibt Roth, "beherrscht und genießt Kreisky den Wechsel von vertrauensvoller Ausführlichkeit und zugeknöpfter Knappheit."
Ähnlich könnte man Stil und Methode des Autors selbst beschreiben. Roth ist keine österreichische Marie-Luise Scherer, die mit brillanten Beschreibungspointen aufwartet. Eher schon hat man es mit einem sachlichen Chronisten zu tun. Erstaunlich ist, dass sich gerade durch den sparsamen Gebrauch von Wertungen und ihren sprachlichen Vehikeln, den Adjektiven, von selbst ein Bild des Politikers ergibt. Die Schilderung seiner manisch vollzogenen Aktivitäten, die Anekdote von Frau Kreisky, die bei minus zwanzig Grad auf einer Veranstaltung vergessen wurde, benötigt keine erzählerischen Steigbügel.
Selbst wenn Roth über die "Hassgötzen" eines Elias Canetti schreibt - Dürrenmatt, Zweig, Hesse, Bernhard -, erliegt er nicht der Versuchung, sich in eine Reihe mit diesen großen Österreich-Beschimpfern zu stellen. Mitleidlos wühlt er dennoch in der schwarzen Nachkriegsseele seiner Landsleute. Über Simon Wiesenthal heißt es: "Österreich, das - wenn man so sagen darf - sich selbst gerne verzeiht, bevor noch die anderen ihm verzeihen wollen, benötigte diesen diamantharten und doch differenzierten Mann, der nie von einer Kollektivschuld sprach, sondern sie stets vehement in Abrede stellte."
"Die Archive des Schweigens" bestanden aus vier Romanen und drei journalistischen Werken, in denen Roth die Schuldsedimente des zwanzigsten Jahrhunderts für die lesende Nachwelt abgetragen hatte. Sie seien, sagte er einmal, die "Fundamente der Wirklichkeit". Er müsse sie dem Leser mitliefern, um tiefere Einsichten in sein Werk zu gewähren - vor allem für die Nachgeborenen. Auch Gerhard Roth hat also, ganz wie Kanzler Kreisky, einen sprachlichen, einen privaten und einen öffentlichen Auftrag. Eugène Ionesco, dessen Porträt ein weiterer Höhepunkt des neuen Roth-Bands ist, hat seine literarische Stimme in absurden Werken wie "Die kahle Sängerin" zum Schweigen gebracht. Von Gerhard Roth, der am Sonntag seinen siebzigsten Geburtstag feiert, ist ein derartiger Rückzug aus der Sprache nicht zu erwarten. "Wenn ich nicht schreibe, löse ich mich in einzelne Atome auf", erklärt er immer wieder - und sitzt bereits an etwas Neuem.
KATHARINA TEUTSCH
Gerhard Roth: "Portraits".
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012. Geb. 318 S., 19,99 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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