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© BÜCHERmagazin, Katharina Granzin (kgr)
Nachrichten aus leergefischten Kinderzimmern: Verena Güntners verstörender Waldroman "Power"
Der Mann will sich anbiedern. Er habe von einer Bekannten gehört, dass sich eine Gruppe von 25 Kindern schon vor Wochen aus dem Dorf in den Wald zurückgezogen hat, nun steht er mitten unter ihnen. Er will mitmachen, sagt er, bei ihnen sein, die Stadt verlassen, in der er lebt: "Auf dem Land ist vieles besser, nehme ich an. Ursprünglicher." Sein Gegenüber, das Mädchen mit dem seltsamen Namen Kerze, lacht ihm ins Gesicht. Und schickt ihn weg. Er könne nicht bei ihnen bleiben, sagt sie, er sei schon zu groß.
Zwei Teile hat Verena Güntners neuer Roman "Power", erschienen sechs Jahre nach ihrem Romandebüt "Es bringen". Der erste Teil schildert, wie der titelgebende Hund Power seiner Besitzerin, der alten, von ihrem Mann verlassenen Dorfbewohnerin Hitschke, entläuft und wie diese wiederum die elfjährige Kerze darum bittet, ihn zu finden. Das Mädchen geht das ausgesprochen pragmatisch an, eröffnet eine Kladde für ihre sofort angestellte und alles andere überschattende Untersuchung. Sie "glaubt schon lange daran, dass sich die Welt ihrem Willen beugen wird", sagt die Erzählerin über Kerze, "es ist nur eine Frage der Zeit." Mit Rücksichten und Höflichkeit hält sie sich nicht auf, und ihre großzügig und entschlossen gewährte Hilfe hat ihren Preis: Sie hilft nach ihren eigenen Regeln und Überzeugungen, denen sich anzuschließen hat, wer sie in Anspruch nimmt. So meint Kerze etwa, sie müsse ganz genau wissen, wie der verschwundene Power gebellt habe. Und fordert deshalb die Besitzerin auf, dieses Bellen einmal vorzumachen. Sie könne das nicht, antwortet Hitschke. "Ich glaube schon, dass du das kannst", antwortet die gnadenlose Kerze, "denn du willst ja deinen Hund wiederhaben, oder nicht?" Gehorsam kauert sich Hitschke nieder und imitiert ihren bellenden Hund. Kerze filmt das mit dem Handy.
Kerzes Methode ist der von Simenons Maigret vergleichbar, der sich, wenn er in einem Fall ermittelt, in die Welt des Opfers begibt und dort versucht, dessen Position einzunehmen, um alles besser zu verstehen. Auch Kerze läuft bellend über die Dorfstraße, bald schließen sich ihr Kinder an, und so wie man sich als Leser erst allmählich in diesem Erzählkosmos einrichtet, manche wunderlichen Namen verdaut oder dass offenbar jeder überraschenderweise tut, was Kerze von ihm verlangt, so scheinen auch die Erwachsenen des Dorfes lange nicht recht zu wissen, wie sie das Hunde-Imitieren ihrer Kinder nehmen sollen: als Laune, als längeres kollektives Spiel zu Beginn der Sommerferien?
Doch Kerze macht ernst. So zieht die Kinderschar im zweiten Teil des Romans bellend und auf allen vieren in den Wald. Dort "wälzen sie sich im Laub und stürmen weiter Richtung Bach, halten die offenen Münder ins Wasser, und Henne, der sich ganz hineinwirft, schüttelt sich so wild, dass auch die anderen nass werden." Das Wasser scheint trinkbar, der Wald ist voller Beeren. Und Kerze formt wochenlang kratzend und knurrend aus den Kindern ein Rudel, das grausame Strafen akzeptiert und nachts eng zusammengerückt in einem alten Bombentrichter schläft.
Güntner beschreibt all das im Präsensstil und mit dem Willen, das Fremde fremd und das Unverständliche rätselhaft zu lassen. Dafür nimmt ihr Roman wechselnde Perspektiven ein, die des Mädchens Kerze vorweg, aber auch die der alten Hitschke und die eines unglücklichen Jungen, der im Dorf und im Roman nur "Hubersohn" genannt wird, weil sein Vater, der reiche und - vor seinem Schlaganfall - gewalttätige Bauer Huber, sowieso sein Dasein in grässlicher Weise dominiert. Über all dem liegt Güntners Sprache wie ein poetischer Schleier, der nichts verhüllt, aber die Dinge manchmal klarer konturiert, einfärbt oder auch zum Leuchten bringt. Als schließlich alle 25 Kinder des Dorfes, die alt genug dafür sind, Kerze in den Wald folgen, nimmt Güntner die Perspektive der zurückgelassenen Eltern ein: Die Häuser seien "leergefischt"und die Kinderzimmer "ausgetrocknet". Wer es so sieht, der fragt auch nach dem Fischer. Das Dorf findet ihn in Gestalt jener Hitschke, deren Hund von den Kindern im Wald so intensiv gesucht wird.
Sie ist die vielleicht eindrucksvollste Gestalt dieses Romans, gerade in dem, was sie über lange Jahre in einer stummen Ehe erduldet hat, und wenn sie einmal den Verfall des Dorfes um sich herum registriert, die kaputten Laternen, die Schlaglöcher, dann verschafft ihr diese Vernachlässigung des Dorfs "ein gutes Gefühl. So war sie nicht die Einzige, der das passiert."
Dass "auf dem Land vieles besser" sei, wie der Besucher aus der Stadt meint, dürfte kein Leser von "Power" mit ihm glauben. Allein wie die vielfach ausgeübte und erlittene Gewalt dieses Dorf zumindest in der Lebenszeit seiner jetzigen Bewohner geprägt hat und immer noch prägt, wird mit zunehmender Lektüre deutlich - bis zu Enthüllungen am Ende, die das Geschehene noch einmal in einem anderen, trüberen Licht erscheinen lassen. Es kommt zu einem weiteren Exzess im Finale des Buches, und der Ausbruch aus diesen Verhältnissen, der darauf für einen der Protagonisten folgt, ist nur zu verständlich.
Wer auf diese Weise - blutig geschlagen, zerlumpt, mittellos - seine Heimat verlässt, hat dafür die allerbesten Gründe. Das ist das deprimierende Resultat dieses Sommers. Und der konsequente Höhepunkt eines zu Recht für den Preis der Leipziger Buchmesse nominierten Romans.
TILMAN SPRECKELSEN
Verena Güntner: "Power". Roman.
Verlag DuMont, Köln 2020. 254 S., geb., 22,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
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