Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse 2020 Die selbstbewusste Kerze ist gerade noch ein Kind. Sie lebt in einem kleinen, von Wald und Feldern umgebenen Dorf, das nur noch wenige Bewohner hat. Doch Kerze verteidigt ihr Dorf gegen den Schwund, sie ist hier fest verwurzelt. Eines Tages geht Power verloren, der Hund einer Nachbarin. Die Hitschke ist verzweifelt – seit ihr Mann nicht mehr da ist, lebt sie allein. Kerze macht sich auf die Suche nach Power und verspricht, den Hund zurückzubringen. Koste es, was es wolle. Denn Kerze hält, was sie verspricht. Immer! Sie geht methodisch vor, durchstreift das Dorf und die Felder, tastet sich immer näher an Power heran. Beobachtet wird sie dabei von den Kindern des Dorfes, die sich ihr nach und nach anschließen. Ein ganzes Rudel bildet sich, das bellend und auf allen vieren Powers Fährte aufnimmt. Als klar wird, dass sie ihn nur außerhalb der Dorfgemeinschaft finden können, verlassen die Kinder das Dorf und ziehen in den Wald. Mit außergewöhnlicher Sprachmacht, Scharfsinn und mit enormem Einfühlungsvermögen erzählt Verena Güntner davon, was mit einer Gemeinschaft geschieht, die den Kontakt zu ihren Kindern verliert. ›Power‹ führt hinein in den Schmerz derer, die zurückbleiben, und zeigt mit großer Kraft, was es braucht, um durchzuhalten, weiterzumachen und Sinn zu finden in einer haltlos gewordenen Welt. »›Power‹ ist eine faszinierende Parabel auf die Gegenwart, absurd, märchenhaft und radikal. Ein großer Gesellschaftsroman über Macht und Niedertracht – und eine Kampfansage: So, wie es ist, kann es nicht weitergehen.« Jan Brandt »So etwas habe ich noch nie gelesen.« Thomas Schindler, ARD MoMa »In zarter und sicherer Sprache schichtet Verena Güntner Ebene auf Ebene, demontiert Geschlechterzuschreibungen, hält sich fern vom Klischee. Und zeigt, welchen Erzählsog die Suche nach einem verschwundenen Haustier entwickeln kann.« Jury des Preises der Leipziger Buchmesse »[Kerze] ist der Herr der Fliegen des 21. Jahrhunderts. […] Möchte man gleich nochmal lesen.« Elmar Krekeler, DIE LITERARISCHE WELT
buecher-magazin.deEin kleines Dorf ist im Ausnahmezustand. Und alles beginnt mit dem Verschwinden von Power, dem Hund der Frau Hitschke. Ein elfjähriges Mädchen macht sich auf die Suche nach dem vermissten Tier. Tagelang durchstreift sie allein den Wald und ist dabei so beharrlich, dass sich ihr nach und nach immer mehr Kinder anschließen. Mit Ferienbeginn ist es endgültig so weit: Alle Kinder sind weg, verschwunden in den Wald, wo sie auf Hundeweise an einem geheimen Ort miteinander leben. Den Erwachsenen gelingt es partout nicht, sie zu finden. Das Szenario erinnert an Jugendbücher neuerer Prägung, in denen Kinder in einer erwachsenenlosen Welt sich selbst überlassen sind. Doch diese Kinder haben, scheint es, nur auf einen Anlass gewartet, der Welt zu entfliehen. Und die Erwachsenen finden sich in der Rolle der hilflos Zurückgebliebenen; allen voran die arme Hitschke, die nicht nur keinen Hund mehr hat, sondern auch für das Verschwinden der Kinder verantwortlich gemacht wird. Güntners surrealistischer Handlungsentwurf enthielte theoretisch genügend Bedrohungspotenzial für einen rabenschwarzen Katastrophenroman. Das ist „Power“ nicht. Was es aber sonst sein könnte – Gesellschaftssatire, Parabel, Abenteuerroman? –, lässt sich nur sehr schwer sagen. Das ist irritierend und reizvoll zugleich.
© BÜCHERmagazin, Katharina Granzin (kgr)
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.02.2020Alle werden
Hundebrüder
Brutaler als die Zivilisation: Verena Güntners
„Power“ ist kein gewöhnlicher Dorf-Roman
VON MARIE SCHMIDT
Provinz ist ja nicht gleich Provinz, aber diese hier kommt einem unheimlich bekannt vor: Wo die Hügel Brocken heißen, im früheren Zonenrandgebiet, liegt ein Dorf mit einer Schule, einer Kirche, einem Edeka. Wenn da die Meyers sterben, steht das Haus sechs Jahre lang leer, dann ziehen Leute aus der Stadt ein und pflanzen dichte Hecken. Der Großbauer am Ort heißt Huber, hat einen Fendt 1000 Vario, einen dicken Traktor, und Erntehelfer aus dem Ausland. Einer kam vor zwanzig Jahren und gehört jetzt dazu: „Weil er sich gut eingegliedert hat und doch auf Distanz blieb.“ Vor dem Dorf liegen die Rüben- und Kartoffelfelder des Huber und ein Wald, den die Leute von Kindheit an kennen, aber als Erwachsene nicht mehr betreten.
So eine glatte Ordnung bedeutet selten etwas Gutes in einem deutschen Roman, sie besteht wahrscheinlich auf menschliche Kosten. Bevor sie die abrechnet, zählt die 1978 geborene Schauspielerin und Autorin Verena Güntner in ihrem für den Preis der Leipziger Buchmesse nominierten Roman „Power“ Details auf: „Felderschachbrett, Wiesen dazwischen, ein frisch gepflügter Acker neben einer Weide, auf der Kühe grasen, weiter vorn Heuballen“, aus den Häusern „Fernsehgeräusche, Geschirrklappern, Wortfetzen und leise Selbstgespräche“, im Kühlschrank sieht man „die Marmelade, das Apfelmus, den Frischkäse, die Margarine im obersten Fach liegen, darunter die Eier, den Emmentaler …“. Standardwarenkorb, Plandeutschland: Es ist nicht sicher, ob diese traulichen Dinge einen in Sicherheit wiegen sollen oder das Dorf zum Archetypus machen.
In dieser Landschaft jedenfalls verschwindet ein Hund, der „Power“ heißt. Die Besitzerin, eine Frau Hitschke, beauftragt ein Mädchen aus der Nachbarschaft, ihn zu suchen. Es ist gerade noch Kind, elf Jahre alt, kann sich gut konzentrieren, nicht gut mit Emotionen umgehen und nennt sich „Kerze“: „Ein Licht in dieser rabenschwarzen Welt“, wie treuherzig erklärt wird. „Am Ende hat sie ihn gefunden“, heißt es außerdem am Anfang: „Natürlich war er tot und von Maden zerfressen.“ Um das Schicksal des Tieres geht es also nicht, eher um die Frage, vor welchem Unheil es geflohen ist.
Kerze probiert es erst mit detektivischer Akribie, Recherche, Befragung, Buchführung. Auf einem Foto hat der Hund ein „selbst gesticktes Jäckchen“ an und sieht ziemlich menschlich aus. In einer Art Umkehrung diese Bildes kommt Kerze auf eine mimetische Taktik: Sie lernt. zu bellen und zu laufen wie Power, frisst mit dem Mund direkt vom Teller. In den Sommerferien schließen sich ihr die Kinder des Dorfes an und verschwinden als Rudel im Wald, wärmen einander im Schlaf, trainieren, mit blutigen Knien auf allen vieren zu leben. Einmal umkreisen sie einander, die Nase am Po des anderen Kindes, und dazu passt womöglich eine Fußnote in Sigmund Freuds „Das Unbehagen in der Kultur“: „Am Beginne des verhängnisvollen Kulturprozesses“, heißt es da, „stünde also die Aufrichtung des Menschen. Die Verkettung läuft von hier aus über die Entwertung der Geruchsreize, Sichtbarwerden der Genitalien, weiter zur Kontinuität der Sexualerregung, Gründung der Familie und damit zur Schwelle der menschlichen Kultur.“ Diesem Prozess entziehen sich die Kinder. Vielleicht, um nicht zu Familiengründern, also erwachsen werden zu müssen. Oder um einer Kultiviertheit etwas entgegenzusetzen, die im Dorf, wie sich herausstellt, mit schwelender Grausamkeit verbunden ist.
Es handelt sich dabei zwar um gängige Topoi von Coming-of-Age- und von Dorfromanen, den Reiz von „Power“ macht es aber aus, dass dieser Roman in seinem ostentativ simplen Stil existenzielle Abgründe umschwänzelt und sich über die genreübliche Gesellschaftskritik eher lustig macht. Wie die sich ausnimmt, kann man beispielhalber am jüngsten Exemplar einer nicht abreißenden Serie von Romanen über die Misere des Landlebens ablesen: „Vom Land“, dem Debütroman des 1982 in Oberösterreich geborenen Autors Dominik Barta. Der spielt zwar in Österreich, nicht in Deutschland, aber die Grundbestandteile sind vertraut: Es gibt eine alte Bäuerin, die nicht mehr kann, breitbeinige Geschäftemacher, fortgezogene Bildungsaufsteiger, die nur mit Grausen in die Provinz zurückkehren, ein Figurenensemble, in dem alle irgendwie verwandt und verbandelt und einander ausgeliefert sind.
Barta skizziert dieses Soziotop in so groben Zügen, dass man nicht sagen kann, ob die Erzählung mit Fleiß oder versehentlich ungelenk geraten ist. Da wechseln unvermittelt die Erzähler, womöglich beim Versuch, verschiedenen Perspektiven gerecht zu werden. Nebenbei werden merkwürdig über die Köpfe der Figuren hinweg ihre Lebensbedingungen analysiert: „Obwohl die Einwohnerzahl in den letzten dreißig Jahren kaum gestiegen war, hatte sich das Siedlungsgebiet weit über den Talrücken ausgedehnt. Auf der Südseite prangten etliche Einfamilienhäuser mit ausladenden Gauben, Balkonen und Erkern. Jedes einzelne hätte einer Vielzahl von Personen Platz geboten. Meist lebten darin kleine Familien, mit einem oder zwei Kindern und einem Hund.“ Das ist in trockenster Form die Gegenwartsdiagnose der gängigen Geschichten vom Land: Die mondäne Unsitte der Singularisierung wird als Zersiedelung zum Strukturproblem auf dem Land. Das betrifft noch den letzten Hund und wirkt da draußen noch viel entfremdeter als im urbanen Leben – eines Schriftstellers beispielsweise. Vom Dorfleben bleibt nur das Schlechteste: Das Gerede und Gehetze, vor dem sich auch in „Vom Land“ ein Kind in den Wald zurückzieht. Wo es auf einen syrischen Jungen trifft, dessen Familie von den örtlichen Neonazis verfolgt wird.
Ohne Nazis scheint momentan kein Dorfroman auszukommen. Oder Romane, in denen Nazis vorkommen, spielen auf dem Land, als seien Rechtsradikale ein Problem der Provinz. Bei Verena Güntner ist der Nazi eigentümlicherweise ein kleiner Junge, mit dem keiner etwas zu tun haben will, weil er alle fragt: „Willst du mit mir zusammen ein Nazi sein?“ Später nehmen die Kinder ihn in ihr Rudel auf, wo er „den Nazi rausschwitzt“, wie es heißt. Verena Güntner spielt da eher spaßeshalber auf Probleme der Radikalisierung der Ränder, der Fragmentierung der Gesellschaft an und sieht die Vereinzelung zugleich radikaler: In ihrem Dorf verliert jeden Schutz und jede Sicherheit, wem der Ehemann oder der Hund wegläuft, wie der Hitschke. Deren Scham, verlassen worden zu sein, macht sie fast wahnsinnig und tatsächlich zum Paria.
Dieser ständig mit Ausschluss drohenden Erwachsenenkultur gegenüber ist Kerzes Kinderwelt voller Mitwesen: „Sie schaut den Bäumen beim Wachsen zu, seit sie leben“ und pflegt Umgang mit bösen Geistern sowie einem „Keingott“ genannten höheren Wesen. Insofern nimmt es nicht wunder, wie hemmungslos sie sich mit dem verschwundenen Hund verschwistert. Eigentlich gehört sie damit zu den rasend futuristischen Figuren, die auch die Feministin Donna Haraway in ihrer spekulativen Ökologie beschreibt: In Anbetracht der wachsenden Weltbevölkerung und der Zerstörung der Natur schlägt Haraway vor, sich Wesen anderer Spezies „zu Verwandten zu machen“, statt eigene Kinder zu bekommen: „Make kin, not babies!“
Das hieße praktisch, Freuds „Kulturprozess“ nicht mit der Gründung biologischer Familien als Kern von Gesellschaften enden zu lassen, sondern die Zivilisation weiterzuentwickeln. Zumal wenn sich herausstellt, dass die Kultur bis dato Egoismus, Feindseligkeit und der Ausbeutung der Umwelt Vorschub geleistet hat. Haraway schlägt dagegen vor, Familien auszuweiten zu „Arten-Assemblagen“, Netzwerken von Tieren, Pflanzen, Ökosystemen und technischen Komplexen, in denen der Mensch Mitglied, aber kein Zentrum mehr ist. Verena Güntner Kerze wäre auf jeden Fall schon so weit.
Allerdings wird aus ihrer Zivilisationsflucht kein Idyll, und das rettet den Roman vor der Esoterik: Güntners Heldin erzwingt die Auswilderung der Kinder autoritär und setzt sich im Zweifel mit Gewalt an die Spitze ihres Rudels. Zwischen dem Kinderrudel und der Erwachsenengesellschaft kommt es zu aggressiven Abgrenzungskämpfen. Man sieht, wie die Brutalität eines Zustands, in dem der Mensch dem Menschen ein Hund ist, und die Brutalität der Vereinzelung in der Zivilisation ineinandergreifen. So gesehen wird aus diesem Roman, der sich den Ton und den Anschein einer simplen Kindergeschichte gibt, ein existenzielles Drama, indem die Rettung der Menschheit wieder einmal misslingt.
Verena Güntner: Power. Roman. Dumont, Köln 2020. 254 Seiten, 22 Euro.
Dominik Barta: Vom Land. Roman. Zsolnay, Wien 2020. 176 Seiten, 18 Euro.
Über die genreübliche
Gesellschaftskritik macht sich
„Power“ eher lustig
Güntners Heldin
erzwingt die Auswilderung
der Kinder autoritär
Zurück zur Natur ist auch keine Lösung: In einer Landschaft wie dieser im Harz spielt Verena Güntners Roman „Power“.
Foto: Andreas Vitting / imago
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Hundebrüder
Brutaler als die Zivilisation: Verena Güntners
„Power“ ist kein gewöhnlicher Dorf-Roman
VON MARIE SCHMIDT
Provinz ist ja nicht gleich Provinz, aber diese hier kommt einem unheimlich bekannt vor: Wo die Hügel Brocken heißen, im früheren Zonenrandgebiet, liegt ein Dorf mit einer Schule, einer Kirche, einem Edeka. Wenn da die Meyers sterben, steht das Haus sechs Jahre lang leer, dann ziehen Leute aus der Stadt ein und pflanzen dichte Hecken. Der Großbauer am Ort heißt Huber, hat einen Fendt 1000 Vario, einen dicken Traktor, und Erntehelfer aus dem Ausland. Einer kam vor zwanzig Jahren und gehört jetzt dazu: „Weil er sich gut eingegliedert hat und doch auf Distanz blieb.“ Vor dem Dorf liegen die Rüben- und Kartoffelfelder des Huber und ein Wald, den die Leute von Kindheit an kennen, aber als Erwachsene nicht mehr betreten.
So eine glatte Ordnung bedeutet selten etwas Gutes in einem deutschen Roman, sie besteht wahrscheinlich auf menschliche Kosten. Bevor sie die abrechnet, zählt die 1978 geborene Schauspielerin und Autorin Verena Güntner in ihrem für den Preis der Leipziger Buchmesse nominierten Roman „Power“ Details auf: „Felderschachbrett, Wiesen dazwischen, ein frisch gepflügter Acker neben einer Weide, auf der Kühe grasen, weiter vorn Heuballen“, aus den Häusern „Fernsehgeräusche, Geschirrklappern, Wortfetzen und leise Selbstgespräche“, im Kühlschrank sieht man „die Marmelade, das Apfelmus, den Frischkäse, die Margarine im obersten Fach liegen, darunter die Eier, den Emmentaler …“. Standardwarenkorb, Plandeutschland: Es ist nicht sicher, ob diese traulichen Dinge einen in Sicherheit wiegen sollen oder das Dorf zum Archetypus machen.
In dieser Landschaft jedenfalls verschwindet ein Hund, der „Power“ heißt. Die Besitzerin, eine Frau Hitschke, beauftragt ein Mädchen aus der Nachbarschaft, ihn zu suchen. Es ist gerade noch Kind, elf Jahre alt, kann sich gut konzentrieren, nicht gut mit Emotionen umgehen und nennt sich „Kerze“: „Ein Licht in dieser rabenschwarzen Welt“, wie treuherzig erklärt wird. „Am Ende hat sie ihn gefunden“, heißt es außerdem am Anfang: „Natürlich war er tot und von Maden zerfressen.“ Um das Schicksal des Tieres geht es also nicht, eher um die Frage, vor welchem Unheil es geflohen ist.
Kerze probiert es erst mit detektivischer Akribie, Recherche, Befragung, Buchführung. Auf einem Foto hat der Hund ein „selbst gesticktes Jäckchen“ an und sieht ziemlich menschlich aus. In einer Art Umkehrung diese Bildes kommt Kerze auf eine mimetische Taktik: Sie lernt. zu bellen und zu laufen wie Power, frisst mit dem Mund direkt vom Teller. In den Sommerferien schließen sich ihr die Kinder des Dorfes an und verschwinden als Rudel im Wald, wärmen einander im Schlaf, trainieren, mit blutigen Knien auf allen vieren zu leben. Einmal umkreisen sie einander, die Nase am Po des anderen Kindes, und dazu passt womöglich eine Fußnote in Sigmund Freuds „Das Unbehagen in der Kultur“: „Am Beginne des verhängnisvollen Kulturprozesses“, heißt es da, „stünde also die Aufrichtung des Menschen. Die Verkettung läuft von hier aus über die Entwertung der Geruchsreize, Sichtbarwerden der Genitalien, weiter zur Kontinuität der Sexualerregung, Gründung der Familie und damit zur Schwelle der menschlichen Kultur.“ Diesem Prozess entziehen sich die Kinder. Vielleicht, um nicht zu Familiengründern, also erwachsen werden zu müssen. Oder um einer Kultiviertheit etwas entgegenzusetzen, die im Dorf, wie sich herausstellt, mit schwelender Grausamkeit verbunden ist.
Es handelt sich dabei zwar um gängige Topoi von Coming-of-Age- und von Dorfromanen, den Reiz von „Power“ macht es aber aus, dass dieser Roman in seinem ostentativ simplen Stil existenzielle Abgründe umschwänzelt und sich über die genreübliche Gesellschaftskritik eher lustig macht. Wie die sich ausnimmt, kann man beispielhalber am jüngsten Exemplar einer nicht abreißenden Serie von Romanen über die Misere des Landlebens ablesen: „Vom Land“, dem Debütroman des 1982 in Oberösterreich geborenen Autors Dominik Barta. Der spielt zwar in Österreich, nicht in Deutschland, aber die Grundbestandteile sind vertraut: Es gibt eine alte Bäuerin, die nicht mehr kann, breitbeinige Geschäftemacher, fortgezogene Bildungsaufsteiger, die nur mit Grausen in die Provinz zurückkehren, ein Figurenensemble, in dem alle irgendwie verwandt und verbandelt und einander ausgeliefert sind.
Barta skizziert dieses Soziotop in so groben Zügen, dass man nicht sagen kann, ob die Erzählung mit Fleiß oder versehentlich ungelenk geraten ist. Da wechseln unvermittelt die Erzähler, womöglich beim Versuch, verschiedenen Perspektiven gerecht zu werden. Nebenbei werden merkwürdig über die Köpfe der Figuren hinweg ihre Lebensbedingungen analysiert: „Obwohl die Einwohnerzahl in den letzten dreißig Jahren kaum gestiegen war, hatte sich das Siedlungsgebiet weit über den Talrücken ausgedehnt. Auf der Südseite prangten etliche Einfamilienhäuser mit ausladenden Gauben, Balkonen und Erkern. Jedes einzelne hätte einer Vielzahl von Personen Platz geboten. Meist lebten darin kleine Familien, mit einem oder zwei Kindern und einem Hund.“ Das ist in trockenster Form die Gegenwartsdiagnose der gängigen Geschichten vom Land: Die mondäne Unsitte der Singularisierung wird als Zersiedelung zum Strukturproblem auf dem Land. Das betrifft noch den letzten Hund und wirkt da draußen noch viel entfremdeter als im urbanen Leben – eines Schriftstellers beispielsweise. Vom Dorfleben bleibt nur das Schlechteste: Das Gerede und Gehetze, vor dem sich auch in „Vom Land“ ein Kind in den Wald zurückzieht. Wo es auf einen syrischen Jungen trifft, dessen Familie von den örtlichen Neonazis verfolgt wird.
Ohne Nazis scheint momentan kein Dorfroman auszukommen. Oder Romane, in denen Nazis vorkommen, spielen auf dem Land, als seien Rechtsradikale ein Problem der Provinz. Bei Verena Güntner ist der Nazi eigentümlicherweise ein kleiner Junge, mit dem keiner etwas zu tun haben will, weil er alle fragt: „Willst du mit mir zusammen ein Nazi sein?“ Später nehmen die Kinder ihn in ihr Rudel auf, wo er „den Nazi rausschwitzt“, wie es heißt. Verena Güntner spielt da eher spaßeshalber auf Probleme der Radikalisierung der Ränder, der Fragmentierung der Gesellschaft an und sieht die Vereinzelung zugleich radikaler: In ihrem Dorf verliert jeden Schutz und jede Sicherheit, wem der Ehemann oder der Hund wegläuft, wie der Hitschke. Deren Scham, verlassen worden zu sein, macht sie fast wahnsinnig und tatsächlich zum Paria.
Dieser ständig mit Ausschluss drohenden Erwachsenenkultur gegenüber ist Kerzes Kinderwelt voller Mitwesen: „Sie schaut den Bäumen beim Wachsen zu, seit sie leben“ und pflegt Umgang mit bösen Geistern sowie einem „Keingott“ genannten höheren Wesen. Insofern nimmt es nicht wunder, wie hemmungslos sie sich mit dem verschwundenen Hund verschwistert. Eigentlich gehört sie damit zu den rasend futuristischen Figuren, die auch die Feministin Donna Haraway in ihrer spekulativen Ökologie beschreibt: In Anbetracht der wachsenden Weltbevölkerung und der Zerstörung der Natur schlägt Haraway vor, sich Wesen anderer Spezies „zu Verwandten zu machen“, statt eigene Kinder zu bekommen: „Make kin, not babies!“
Das hieße praktisch, Freuds „Kulturprozess“ nicht mit der Gründung biologischer Familien als Kern von Gesellschaften enden zu lassen, sondern die Zivilisation weiterzuentwickeln. Zumal wenn sich herausstellt, dass die Kultur bis dato Egoismus, Feindseligkeit und der Ausbeutung der Umwelt Vorschub geleistet hat. Haraway schlägt dagegen vor, Familien auszuweiten zu „Arten-Assemblagen“, Netzwerken von Tieren, Pflanzen, Ökosystemen und technischen Komplexen, in denen der Mensch Mitglied, aber kein Zentrum mehr ist. Verena Güntner Kerze wäre auf jeden Fall schon so weit.
Allerdings wird aus ihrer Zivilisationsflucht kein Idyll, und das rettet den Roman vor der Esoterik: Güntners Heldin erzwingt die Auswilderung der Kinder autoritär und setzt sich im Zweifel mit Gewalt an die Spitze ihres Rudels. Zwischen dem Kinderrudel und der Erwachsenengesellschaft kommt es zu aggressiven Abgrenzungskämpfen. Man sieht, wie die Brutalität eines Zustands, in dem der Mensch dem Menschen ein Hund ist, und die Brutalität der Vereinzelung in der Zivilisation ineinandergreifen. So gesehen wird aus diesem Roman, der sich den Ton und den Anschein einer simplen Kindergeschichte gibt, ein existenzielles Drama, indem die Rettung der Menschheit wieder einmal misslingt.
Verena Güntner: Power. Roman. Dumont, Köln 2020. 254 Seiten, 22 Euro.
Dominik Barta: Vom Land. Roman. Zsolnay, Wien 2020. 176 Seiten, 18 Euro.
Über die genreübliche
Gesellschaftskritik macht sich
„Power“ eher lustig
Güntners Heldin
erzwingt die Auswilderung
der Kinder autoritär
Zurück zur Natur ist auch keine Lösung: In einer Landschaft wie dieser im Harz spielt Verena Güntners Roman „Power“.
Foto: Andreas Vitting / imago
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.03.2020Wer seinen Hund zurück will, muss bellen
Nachrichten aus leergefischten Kinderzimmern: Verena Güntners verstörender Waldroman "Power"
Der Mann will sich anbiedern. Er habe von einer Bekannten gehört, dass sich eine Gruppe von 25 Kindern schon vor Wochen aus dem Dorf in den Wald zurückgezogen hat, nun steht er mitten unter ihnen. Er will mitmachen, sagt er, bei ihnen sein, die Stadt verlassen, in der er lebt: "Auf dem Land ist vieles besser, nehme ich an. Ursprünglicher." Sein Gegenüber, das Mädchen mit dem seltsamen Namen Kerze, lacht ihm ins Gesicht. Und schickt ihn weg. Er könne nicht bei ihnen bleiben, sagt sie, er sei schon zu groß.
Zwei Teile hat Verena Güntners neuer Roman "Power", erschienen sechs Jahre nach ihrem Romandebüt "Es bringen". Der erste Teil schildert, wie der titelgebende Hund Power seiner Besitzerin, der alten, von ihrem Mann verlassenen Dorfbewohnerin Hitschke, entläuft und wie diese wiederum die elfjährige Kerze darum bittet, ihn zu finden. Das Mädchen geht das ausgesprochen pragmatisch an, eröffnet eine Kladde für ihre sofort angestellte und alles andere überschattende Untersuchung. Sie "glaubt schon lange daran, dass sich die Welt ihrem Willen beugen wird", sagt die Erzählerin über Kerze, "es ist nur eine Frage der Zeit." Mit Rücksichten und Höflichkeit hält sie sich nicht auf, und ihre großzügig und entschlossen gewährte Hilfe hat ihren Preis: Sie hilft nach ihren eigenen Regeln und Überzeugungen, denen sich anzuschließen hat, wer sie in Anspruch nimmt. So meint Kerze etwa, sie müsse ganz genau wissen, wie der verschwundene Power gebellt habe. Und fordert deshalb die Besitzerin auf, dieses Bellen einmal vorzumachen. Sie könne das nicht, antwortet Hitschke. "Ich glaube schon, dass du das kannst", antwortet die gnadenlose Kerze, "denn du willst ja deinen Hund wiederhaben, oder nicht?" Gehorsam kauert sich Hitschke nieder und imitiert ihren bellenden Hund. Kerze filmt das mit dem Handy.
Kerzes Methode ist der von Simenons Maigret vergleichbar, der sich, wenn er in einem Fall ermittelt, in die Welt des Opfers begibt und dort versucht, dessen Position einzunehmen, um alles besser zu verstehen. Auch Kerze läuft bellend über die Dorfstraße, bald schließen sich ihr Kinder an, und so wie man sich als Leser erst allmählich in diesem Erzählkosmos einrichtet, manche wunderlichen Namen verdaut oder dass offenbar jeder überraschenderweise tut, was Kerze von ihm verlangt, so scheinen auch die Erwachsenen des Dorfes lange nicht recht zu wissen, wie sie das Hunde-Imitieren ihrer Kinder nehmen sollen: als Laune, als längeres kollektives Spiel zu Beginn der Sommerferien?
Doch Kerze macht ernst. So zieht die Kinderschar im zweiten Teil des Romans bellend und auf allen vieren in den Wald. Dort "wälzen sie sich im Laub und stürmen weiter Richtung Bach, halten die offenen Münder ins Wasser, und Henne, der sich ganz hineinwirft, schüttelt sich so wild, dass auch die anderen nass werden." Das Wasser scheint trinkbar, der Wald ist voller Beeren. Und Kerze formt wochenlang kratzend und knurrend aus den Kindern ein Rudel, das grausame Strafen akzeptiert und nachts eng zusammengerückt in einem alten Bombentrichter schläft.
Güntner beschreibt all das im Präsensstil und mit dem Willen, das Fremde fremd und das Unverständliche rätselhaft zu lassen. Dafür nimmt ihr Roman wechselnde Perspektiven ein, die des Mädchens Kerze vorweg, aber auch die der alten Hitschke und die eines unglücklichen Jungen, der im Dorf und im Roman nur "Hubersohn" genannt wird, weil sein Vater, der reiche und - vor seinem Schlaganfall - gewalttätige Bauer Huber, sowieso sein Dasein in grässlicher Weise dominiert. Über all dem liegt Güntners Sprache wie ein poetischer Schleier, der nichts verhüllt, aber die Dinge manchmal klarer konturiert, einfärbt oder auch zum Leuchten bringt. Als schließlich alle 25 Kinder des Dorfes, die alt genug dafür sind, Kerze in den Wald folgen, nimmt Güntner die Perspektive der zurückgelassenen Eltern ein: Die Häuser seien "leergefischt"und die Kinderzimmer "ausgetrocknet". Wer es so sieht, der fragt auch nach dem Fischer. Das Dorf findet ihn in Gestalt jener Hitschke, deren Hund von den Kindern im Wald so intensiv gesucht wird.
Sie ist die vielleicht eindrucksvollste Gestalt dieses Romans, gerade in dem, was sie über lange Jahre in einer stummen Ehe erduldet hat, und wenn sie einmal den Verfall des Dorfes um sich herum registriert, die kaputten Laternen, die Schlaglöcher, dann verschafft ihr diese Vernachlässigung des Dorfs "ein gutes Gefühl. So war sie nicht die Einzige, der das passiert."
Dass "auf dem Land vieles besser" sei, wie der Besucher aus der Stadt meint, dürfte kein Leser von "Power" mit ihm glauben. Allein wie die vielfach ausgeübte und erlittene Gewalt dieses Dorf zumindest in der Lebenszeit seiner jetzigen Bewohner geprägt hat und immer noch prägt, wird mit zunehmender Lektüre deutlich - bis zu Enthüllungen am Ende, die das Geschehene noch einmal in einem anderen, trüberen Licht erscheinen lassen. Es kommt zu einem weiteren Exzess im Finale des Buches, und der Ausbruch aus diesen Verhältnissen, der darauf für einen der Protagonisten folgt, ist nur zu verständlich.
Wer auf diese Weise - blutig geschlagen, zerlumpt, mittellos - seine Heimat verlässt, hat dafür die allerbesten Gründe. Das ist das deprimierende Resultat dieses Sommers. Und der konsequente Höhepunkt eines zu Recht für den Preis der Leipziger Buchmesse nominierten Romans.
TILMAN SPRECKELSEN
Verena Güntner: "Power". Roman.
Verlag DuMont, Köln 2020. 254 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nachrichten aus leergefischten Kinderzimmern: Verena Güntners verstörender Waldroman "Power"
Der Mann will sich anbiedern. Er habe von einer Bekannten gehört, dass sich eine Gruppe von 25 Kindern schon vor Wochen aus dem Dorf in den Wald zurückgezogen hat, nun steht er mitten unter ihnen. Er will mitmachen, sagt er, bei ihnen sein, die Stadt verlassen, in der er lebt: "Auf dem Land ist vieles besser, nehme ich an. Ursprünglicher." Sein Gegenüber, das Mädchen mit dem seltsamen Namen Kerze, lacht ihm ins Gesicht. Und schickt ihn weg. Er könne nicht bei ihnen bleiben, sagt sie, er sei schon zu groß.
Zwei Teile hat Verena Güntners neuer Roman "Power", erschienen sechs Jahre nach ihrem Romandebüt "Es bringen". Der erste Teil schildert, wie der titelgebende Hund Power seiner Besitzerin, der alten, von ihrem Mann verlassenen Dorfbewohnerin Hitschke, entläuft und wie diese wiederum die elfjährige Kerze darum bittet, ihn zu finden. Das Mädchen geht das ausgesprochen pragmatisch an, eröffnet eine Kladde für ihre sofort angestellte und alles andere überschattende Untersuchung. Sie "glaubt schon lange daran, dass sich die Welt ihrem Willen beugen wird", sagt die Erzählerin über Kerze, "es ist nur eine Frage der Zeit." Mit Rücksichten und Höflichkeit hält sie sich nicht auf, und ihre großzügig und entschlossen gewährte Hilfe hat ihren Preis: Sie hilft nach ihren eigenen Regeln und Überzeugungen, denen sich anzuschließen hat, wer sie in Anspruch nimmt. So meint Kerze etwa, sie müsse ganz genau wissen, wie der verschwundene Power gebellt habe. Und fordert deshalb die Besitzerin auf, dieses Bellen einmal vorzumachen. Sie könne das nicht, antwortet Hitschke. "Ich glaube schon, dass du das kannst", antwortet die gnadenlose Kerze, "denn du willst ja deinen Hund wiederhaben, oder nicht?" Gehorsam kauert sich Hitschke nieder und imitiert ihren bellenden Hund. Kerze filmt das mit dem Handy.
Kerzes Methode ist der von Simenons Maigret vergleichbar, der sich, wenn er in einem Fall ermittelt, in die Welt des Opfers begibt und dort versucht, dessen Position einzunehmen, um alles besser zu verstehen. Auch Kerze läuft bellend über die Dorfstraße, bald schließen sich ihr Kinder an, und so wie man sich als Leser erst allmählich in diesem Erzählkosmos einrichtet, manche wunderlichen Namen verdaut oder dass offenbar jeder überraschenderweise tut, was Kerze von ihm verlangt, so scheinen auch die Erwachsenen des Dorfes lange nicht recht zu wissen, wie sie das Hunde-Imitieren ihrer Kinder nehmen sollen: als Laune, als längeres kollektives Spiel zu Beginn der Sommerferien?
Doch Kerze macht ernst. So zieht die Kinderschar im zweiten Teil des Romans bellend und auf allen vieren in den Wald. Dort "wälzen sie sich im Laub und stürmen weiter Richtung Bach, halten die offenen Münder ins Wasser, und Henne, der sich ganz hineinwirft, schüttelt sich so wild, dass auch die anderen nass werden." Das Wasser scheint trinkbar, der Wald ist voller Beeren. Und Kerze formt wochenlang kratzend und knurrend aus den Kindern ein Rudel, das grausame Strafen akzeptiert und nachts eng zusammengerückt in einem alten Bombentrichter schläft.
Güntner beschreibt all das im Präsensstil und mit dem Willen, das Fremde fremd und das Unverständliche rätselhaft zu lassen. Dafür nimmt ihr Roman wechselnde Perspektiven ein, die des Mädchens Kerze vorweg, aber auch die der alten Hitschke und die eines unglücklichen Jungen, der im Dorf und im Roman nur "Hubersohn" genannt wird, weil sein Vater, der reiche und - vor seinem Schlaganfall - gewalttätige Bauer Huber, sowieso sein Dasein in grässlicher Weise dominiert. Über all dem liegt Güntners Sprache wie ein poetischer Schleier, der nichts verhüllt, aber die Dinge manchmal klarer konturiert, einfärbt oder auch zum Leuchten bringt. Als schließlich alle 25 Kinder des Dorfes, die alt genug dafür sind, Kerze in den Wald folgen, nimmt Güntner die Perspektive der zurückgelassenen Eltern ein: Die Häuser seien "leergefischt"und die Kinderzimmer "ausgetrocknet". Wer es so sieht, der fragt auch nach dem Fischer. Das Dorf findet ihn in Gestalt jener Hitschke, deren Hund von den Kindern im Wald so intensiv gesucht wird.
Sie ist die vielleicht eindrucksvollste Gestalt dieses Romans, gerade in dem, was sie über lange Jahre in einer stummen Ehe erduldet hat, und wenn sie einmal den Verfall des Dorfes um sich herum registriert, die kaputten Laternen, die Schlaglöcher, dann verschafft ihr diese Vernachlässigung des Dorfs "ein gutes Gefühl. So war sie nicht die Einzige, der das passiert."
Dass "auf dem Land vieles besser" sei, wie der Besucher aus der Stadt meint, dürfte kein Leser von "Power" mit ihm glauben. Allein wie die vielfach ausgeübte und erlittene Gewalt dieses Dorf zumindest in der Lebenszeit seiner jetzigen Bewohner geprägt hat und immer noch prägt, wird mit zunehmender Lektüre deutlich - bis zu Enthüllungen am Ende, die das Geschehene noch einmal in einem anderen, trüberen Licht erscheinen lassen. Es kommt zu einem weiteren Exzess im Finale des Buches, und der Ausbruch aus diesen Verhältnissen, der darauf für einen der Protagonisten folgt, ist nur zu verständlich.
Wer auf diese Weise - blutig geschlagen, zerlumpt, mittellos - seine Heimat verlässt, hat dafür die allerbesten Gründe. Das ist das deprimierende Resultat dieses Sommers. Und der konsequente Höhepunkt eines zu Recht für den Preis der Leipziger Buchmesse nominierten Romans.
TILMAN SPRECKELSEN
Verena Güntner: "Power". Roman.
Verlag DuMont, Köln 2020. 254 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Rezensent Hubert Winkels sieht das "Ende der Parabel" gekommen mit diesem Roman von Verena Güntner. Wenn ihm die Autorin von dem Mädchen Kerze erzählt, die alle Kinder des Dorfes versammelt, um Hund Power imWald zu suchen, wobei die Kinder zunehmend selbst zum Rudel werden -inklusive toben, beißen und am Anus der anderen riechen - weiß Winkels nicht recht, ob er eine moderne Variante des "Herrn der Fliegen", eine"dystopische Umkehrung" von "Emil und die Detektive" oder einen Romanüber einen "Freiheitsakt mit antizivilisatorischen Motiven" liest. Stört den Rezensenten aber auch nicht weiter: Wenn keine Interpretationsmöglichkeiten bleiben, bleibt dennoch: "gute Literatur",schließt er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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