Maschinen, die für uns arbeiten, damit wir mehr Zeit für uns haben! Was einmal wie ein Traum vom Paradies klang, hat eher albtraumhafte Züge angenommen. Statt auf dem Rücken liegend den Vogelflug zu bewundern, sind wir Sklaven von Email, Twitter und Facebook geworden. Wir sehen von allem zu viel und doch nie das richtige, da zuviele Welten gleichzeitig um unsere Aufmerksamkeit konkurrieren. Diagnose: Present Shock. Douglas Rushkoff fasst in Worte, was wir alle erleben, aber kaum einordnen können. Seine kritische Bestandsaufnahme als Medientheoretiker und als Betroffener erklärt, wodurch wir den Augenblick verloren haben. Er eröffnet eine Perspektive auf das Leben im digitalen Zeitalter, die uns das gewaltige Ausmaß des Umbruchs vor Augen führt - und uns auf geradezu kathartische Art und Weise damit versöhnt. »Wir wissen zwar nicht mehr, wo es langgeht, aber wir kommen viel schneller voran.«
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Über den Stellenwert der Aufmerksamkeit in der Gegenwart und über digitale Zeitordnungen liest Bernd Stiegler im Buch des Cyperpunkers Douglas Rushkoff. Aufschlussreich findet der Rezensent Rushkoffs Erkundung der Formen sozialmedialer Präsenzen, weil der Autor mutig und rückhaltlos Thesen formuliert. Der Ton ist scharf kulturkritisch, meint Stiegler, das Material reichlich. Auch wenn Rushkoff seine Kritik mit nur wenigen bekannten Stimmen stützt - die Ungreifbarkeit des Jetzt und die mediale Herrschaft über unsere Zeit vermag der Autor dem Rezensenten eindrücklich vor Augen zu führen. Rushkoffs Vorschlag, körperliche Zeitordnungen wiederzuentdecken, scheint Stiegler einen Versuch wert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.09.2014Morgen ist auch nur heute
Ist Fortschritt noch denkbar? Im Buch „Present Shock“ rechnet der Technologiekritiker Douglas Rushkoff mit der Zukunft ab
Wenn man sich Bücher anschaut, die gerade versuchen, unsere Gegenwart zeitdiagnostisch zu behandeln, stellt man fest: Zeitdiagnose ohne Technologiekritik gibt es nicht. Dass es bei der Selbstverortung (und -vergewisserung) von Gegenwarten auch um Technologie geht, ist nicht neu. Seit der Wende zum 20. Jahrhundert bis in die Sechzigerjahre hinein funktionierten die Zeitdiagnosen genauso.
Doch etwas ist nun anders. Denn die Gegenwart, die nun zur Untersuchung ansteht, wird betrachtet als eine, die schon ein Jahrhundert lang Erfahrung mit maschineller Aufrüstung und Digitalisierung gemacht hat. Und anders als früher versteht sich unsere Gegenwart nur noch selten als von Technologie unterstützt und Richtung Zukunft befördert. Die heutige Gegenwart fühlt sich allzu oft von der Technologie überfordert, geschreddert und in Einzelteilen zerstreut. Eines der besseren Bücher, das diesem dystopischen Denken beikommen will, ist Douglas Rushkoffs „Present Shock. Wenn alles jetzt passiert“ (Aus dem Amerikanischen von Gesine Schröder und Andy Hahnemann. Orange Press, 2014, 288 Seiten, 24 Euro).
Rushkoff argumentiert anders als Evgeny Morozov. Dieser hatte im letzten Jahr mit „To Save Everything, Click Here“ den irrigen Lösungswahn durch Technik angeprangert und festgestellt, dass „das Digitale Zeitalter glaubt, alles – von Verbrechen über Umweltverschmutzung bis zum Übergewicht – in den Griff kriegen zu können, indem man es quantifiziert oder gamifziert“, also glaubt, komplexen Problemen mit Highscores, Ranglisten, Fortschrittsbalken, Belohnung durch Erfahrungspunkte und willkürlichen Normwerten begegnen zu können. Morozovs Kritik attackiert diese fatale Vereinfachungs-Metaphorik, zu der das Digitale verleitet: die Idee der Berechenbarkeit und rückstandlosen Effizienz, die sich in Nullen und Einsen auflösen lässt.
Rushkoff, dessen Buchtitel sich von Alvin Tofflers spätmodernem „Future Shock“ aus dem Jahr 1970 ableitet, beobachtet – wie Toffler selbst – dagegen die Wirkungen von Technologie auf diejenigen, die sie benutzen, beziehungsweise: die von ihr benutzt werden. Das sieht zwar bei diesen beiden Autoren gar nicht gut aus für uns – analysiert werden aber zwei völlig unterschiedliche Befunde.
Toffler beschreibt die „persönliche Wahrnehmung, dass sich viel zu viel Wandel in viel zu kurzer Zeit ereignet“, dass also unsere Gegenwart schon so sehr von Zukunft durchtränkt ist, dass wir Gegenwärtigen davon völlig überfordert seien. Rushkoff argumentiert aus der Distanz von über vierzig Jahren viel lakonischer, dass die Zukunft keine Rolle mehr spiele, weil wir sie vor lauter Gegenwart gar nicht mehr bemerken könnten.
Zukunft war ja immer der nächste Schritt, der sich plausibel aus dem letzten ableitet. Für Rushkoff gibt es dagegen nur den rasenden Stillstand einer Gegenwart, in der wir zwar vielfältige Aufgaben abarbeiten, mit deren Erledigung wir jedoch wie Stepptänzer keinen Schritt vorwärts kommen. Eigentlich ist das eine Hysterie-Diagnose: Viel Aufwand, viel Delirium ohne, dass sich daraus eine gerichtete Bewegung ergäbe.
Während also Toffler warnte, dass wir für soviel Fortschritt noch gar nicht bereit seien, stellt Rushkoff klar, dass wir Überblick, Ordnung und Glauben längst verloren hätten und es keine Fortschrittsempfindung mehr gebe, die unsere Erfahrung bündelt und ausrichtet. Denn nichts überdauert den Augenblick, unsere Aufmerksamkeit rast weiter.
Davon nimmt er nicht einmal die Wahrnehmung seines eigenen Buches aus. „Die meisten potenziellen Leser werden in der Lektüre nicht besonders weit kommen, soviel ist sicher. Sie werden einen Auszug auf boingboing.net lesen, ein Interview auf shareable.net , die Rezension in der Times . Sie werden die Hauptaussage des Textes zur Kenntnis nehmen und weiterziehen. Wieso nur schreibt man eine Oper, wenn die Leute nur Dreieinhalb-Minuten-Songs hören wollen?“
Denn, so seine Befürchtung, die Digitalisierung habe mit ihrer Diktatur des schweifenden „Jetzt“ einen Gegenwartsschock bewirkt: den Kollaps aller Kontinuen. Da wir die Technologien mit ihrer falschen Echtzeit nicht verstanden haben, ist Rushkoff nicht nur davon beunruhigt, was sie mit (und aus) uns machen, sondern auch davon, was Menschen damit einander anzutun bereit sind, wie sie also diese Technologien gegeneinander benutzen.
Rushkoffs radikale Technologiekritik wirkt wie ein negativer Reflex auf die über 100 Jahre alte Maschinen-Ideologie des amerikanischen Liberalismus, die ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts Einfluss hatte auf die US-Politik und ihre Präsidenten.
Wenn man Technologie begreift als die systematische Anwendung von Naturgesetzen auf die Natur mithilfe von Geräten und Maschinen, fällt natürlich die Nähe von Wissenschaft und Technik auf: Technologie ist angewandte Wissenschaft zur Weltveränderung. In dem Sinn hat schon Francis Bacon im Jahr 1627 seinen utopischen Roman „Nova Atlantis“ verfasst, der von einer imaginären Insel handelt, auf der Erfindergeist und Technologie gefördert werden.
Mit dem 19. Jahrhundert und der Industrialisierung geschieht das, was Reinhart Koselleck die „Verzeitlichung“ der Technik genannt hat: Geschichtsdenken und utopisches Denken vereinen sich. Utopia ist seitdem kein ferner (also räumlich entfernter) Ort mehr, sondern eine zukünftige (also in der Zeit vor uns liegende) Epoche. Dieses Verständnis von Technologie schafft erst die Vorstellung von Fortschritt.
Es ist die zwanzig Jahre alte Arbeit von John M. Jordan, die den massiven Einfluss dieser „Maschinen-Zeitalter Ideologie“, so der Titel seines einflussreichen Buches aus dem Jahr 1994, auf die amerikanische Politik und Gesellschaft ab dem 20. Jahrhundert untersucht hat. Tatsächlich ist darin ab etwa 1910 der Anspruch formuliert, Gesellschaften wie Industrien rational steuern zu können. Es entsteht dafür der Begriff „Social Engineering“, der das Maschinelle wörtlich auf das Soziale anwendet.
Charles P. Steinmetz, ein Ingenieur von General Electric, behauptete 1916 in seinem Buch „America and the New Epoch“: „Alles, was getan werden muss, ist, die Methoden der ökonomischen Effizienz von der industriellen Fabrik auf den ganzen nationalen Organismus zu übertragen.“ Louis Brandeis, Richter am Obersten Gerichtshof der USA und ein Beförderer von Reformgesetzen, sprach vom „wissenschaftlichen Management“, dessen die Gesellschaft bedürfe und glaubte, dass „Effizienz die Hoffnung für die Demokratie“ sei.
In einem 1913 erschienen Artikel im Magazin System nannte man Teddy Roosevelt wegen seiner technologisch orientierten Politik „the most efficient human machine of our time“. Denn nur die technische Intelligenz, so der Soziologe Thorstein Veblen im Jahr 1921, denke in Kategorien maximaler Effizienz – anders als die am Profit orientierten Manager und die von Wahlen abhängigen Politiker.
Der Ingenieur Frederick W. Taylor, der Namensgeber für den Taylorismus, eine Methode zur industriellen Produktivitätssteigerung, bei der jeder Fertigungsschritt exakt vermessen wird, war der Überzeugung, dass es diesen „one best way“, diesen einen besten Weg, für jede menschliche Handlung gebe. Wie Jordan nachgewiesen hat, etablierte sich während der Weltwirtschaftskrise in der amerikanischen Politik ein einflussreiches „Technocracy Movement“, eine Gruppe von Reformern, deren Impulse von den Sozialingenieuren des New Deal übernommen wurden.
Tatsächlich muss man feststellen, dass dieses Maschinenzeitalter tatsächlich gewaltige Fortschritte mit sich brachte – und das in einer Ära, die von zwei Weltkriegen geprägt war. Was also ist es, das uns heute die Informations-Technologie so ganz anders erleben lässt?
Zum einen: Gewöhnung. Es ist etwas anderes eine maschinelle Revolution im Aufbruch zu erleben, als sie seit mehr als hundert Jahren in ungezählten Entwicklungsstadien zu kennen. Technologie heute ist Alltag. Sie ist nichts Besonderes mehr. Vor hundert Jahren war sie Innovation. Zum anderen: Erfahrung. Nach mehr als hundert Jahren technologischer Entwicklung weiß man auch, was alles schief lief. Atomkraftwerke explodierten, Raumschiffe fielen vom Himmel, Umwelten wurden zerstört, Tiere ausgerottet. Und unsere Gesellschaften sind durch Technik auch nicht zu wesentlich besseren geworden.
Der gewaltigste Unterschied zwischen Maschinen- und Informationszeitalter aber ist: Geräte kann man benutzen, Information sind wir selber. Das macht Maschinen, die mit und an Information arbeiten unbehaglich. Sie sind „näher“ an uns dran als Schaufelbagger. Da sie aber noch viel schneller, viel tiefer, viel gründlicher mit Informationen umgehen können als wir, fühlen wir uns ihnen zu Recht unterlegen. Gegen Wissensmaschinen helfen keine Schutzhelme.
Und so fürchtet Rushkoff den „unfriendly takeover“ durch die digitale Apparatur: „Da Technik und Infosphäre immer komplexer werden und unsere Prozessoren immer schneller und vernetzter, entsteht irgendwann ein unabhängiges System, das einer höheren Ordnung angehört als wir selbst. Ob dieses System die Menschheit als virtuelles Programm mitlaufen lässt, ist ungewiss; aber die Codes, die dafür nötig sind, werden ihm zur Verfügung stehen.“ Wer weiß, vielleicht entpuppt sich diese höhere Digital-Ordnung ja auch als der „one best way“, von dem Taylor schwärmte. Aber das kann uns als dann überholtem Modell ja auch wieder völlig gleichgültig sein.
BERND GRAFF
Wir arbeiten rasend Aufgaben ab,
doch mit deren Erledigung
kommen wir nicht voran
Es wird ein autonomes System
entstehen, das einer höheren
Ordnung angehört als wir selbst
Douglas Rushkoff, Jahrgang 1961, unterrichtet Medientheorie an der New York University. Er studierte in Princeton. Zahlreiche seiner Veröffentlichungen zu Netzthemen und zur Cyberpunk-Bewegung sind auch auf deutsch erschienen.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Ist Fortschritt noch denkbar? Im Buch „Present Shock“ rechnet der Technologiekritiker Douglas Rushkoff mit der Zukunft ab
Wenn man sich Bücher anschaut, die gerade versuchen, unsere Gegenwart zeitdiagnostisch zu behandeln, stellt man fest: Zeitdiagnose ohne Technologiekritik gibt es nicht. Dass es bei der Selbstverortung (und -vergewisserung) von Gegenwarten auch um Technologie geht, ist nicht neu. Seit der Wende zum 20. Jahrhundert bis in die Sechzigerjahre hinein funktionierten die Zeitdiagnosen genauso.
Doch etwas ist nun anders. Denn die Gegenwart, die nun zur Untersuchung ansteht, wird betrachtet als eine, die schon ein Jahrhundert lang Erfahrung mit maschineller Aufrüstung und Digitalisierung gemacht hat. Und anders als früher versteht sich unsere Gegenwart nur noch selten als von Technologie unterstützt und Richtung Zukunft befördert. Die heutige Gegenwart fühlt sich allzu oft von der Technologie überfordert, geschreddert und in Einzelteilen zerstreut. Eines der besseren Bücher, das diesem dystopischen Denken beikommen will, ist Douglas Rushkoffs „Present Shock. Wenn alles jetzt passiert“ (Aus dem Amerikanischen von Gesine Schröder und Andy Hahnemann. Orange Press, 2014, 288 Seiten, 24 Euro).
Rushkoff argumentiert anders als Evgeny Morozov. Dieser hatte im letzten Jahr mit „To Save Everything, Click Here“ den irrigen Lösungswahn durch Technik angeprangert und festgestellt, dass „das Digitale Zeitalter glaubt, alles – von Verbrechen über Umweltverschmutzung bis zum Übergewicht – in den Griff kriegen zu können, indem man es quantifiziert oder gamifziert“, also glaubt, komplexen Problemen mit Highscores, Ranglisten, Fortschrittsbalken, Belohnung durch Erfahrungspunkte und willkürlichen Normwerten begegnen zu können. Morozovs Kritik attackiert diese fatale Vereinfachungs-Metaphorik, zu der das Digitale verleitet: die Idee der Berechenbarkeit und rückstandlosen Effizienz, die sich in Nullen und Einsen auflösen lässt.
Rushkoff, dessen Buchtitel sich von Alvin Tofflers spätmodernem „Future Shock“ aus dem Jahr 1970 ableitet, beobachtet – wie Toffler selbst – dagegen die Wirkungen von Technologie auf diejenigen, die sie benutzen, beziehungsweise: die von ihr benutzt werden. Das sieht zwar bei diesen beiden Autoren gar nicht gut aus für uns – analysiert werden aber zwei völlig unterschiedliche Befunde.
Toffler beschreibt die „persönliche Wahrnehmung, dass sich viel zu viel Wandel in viel zu kurzer Zeit ereignet“, dass also unsere Gegenwart schon so sehr von Zukunft durchtränkt ist, dass wir Gegenwärtigen davon völlig überfordert seien. Rushkoff argumentiert aus der Distanz von über vierzig Jahren viel lakonischer, dass die Zukunft keine Rolle mehr spiele, weil wir sie vor lauter Gegenwart gar nicht mehr bemerken könnten.
Zukunft war ja immer der nächste Schritt, der sich plausibel aus dem letzten ableitet. Für Rushkoff gibt es dagegen nur den rasenden Stillstand einer Gegenwart, in der wir zwar vielfältige Aufgaben abarbeiten, mit deren Erledigung wir jedoch wie Stepptänzer keinen Schritt vorwärts kommen. Eigentlich ist das eine Hysterie-Diagnose: Viel Aufwand, viel Delirium ohne, dass sich daraus eine gerichtete Bewegung ergäbe.
Während also Toffler warnte, dass wir für soviel Fortschritt noch gar nicht bereit seien, stellt Rushkoff klar, dass wir Überblick, Ordnung und Glauben längst verloren hätten und es keine Fortschrittsempfindung mehr gebe, die unsere Erfahrung bündelt und ausrichtet. Denn nichts überdauert den Augenblick, unsere Aufmerksamkeit rast weiter.
Davon nimmt er nicht einmal die Wahrnehmung seines eigenen Buches aus. „Die meisten potenziellen Leser werden in der Lektüre nicht besonders weit kommen, soviel ist sicher. Sie werden einen Auszug auf boingboing.net lesen, ein Interview auf shareable.net , die Rezension in der Times . Sie werden die Hauptaussage des Textes zur Kenntnis nehmen und weiterziehen. Wieso nur schreibt man eine Oper, wenn die Leute nur Dreieinhalb-Minuten-Songs hören wollen?“
Denn, so seine Befürchtung, die Digitalisierung habe mit ihrer Diktatur des schweifenden „Jetzt“ einen Gegenwartsschock bewirkt: den Kollaps aller Kontinuen. Da wir die Technologien mit ihrer falschen Echtzeit nicht verstanden haben, ist Rushkoff nicht nur davon beunruhigt, was sie mit (und aus) uns machen, sondern auch davon, was Menschen damit einander anzutun bereit sind, wie sie also diese Technologien gegeneinander benutzen.
Rushkoffs radikale Technologiekritik wirkt wie ein negativer Reflex auf die über 100 Jahre alte Maschinen-Ideologie des amerikanischen Liberalismus, die ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts Einfluss hatte auf die US-Politik und ihre Präsidenten.
Wenn man Technologie begreift als die systematische Anwendung von Naturgesetzen auf die Natur mithilfe von Geräten und Maschinen, fällt natürlich die Nähe von Wissenschaft und Technik auf: Technologie ist angewandte Wissenschaft zur Weltveränderung. In dem Sinn hat schon Francis Bacon im Jahr 1627 seinen utopischen Roman „Nova Atlantis“ verfasst, der von einer imaginären Insel handelt, auf der Erfindergeist und Technologie gefördert werden.
Mit dem 19. Jahrhundert und der Industrialisierung geschieht das, was Reinhart Koselleck die „Verzeitlichung“ der Technik genannt hat: Geschichtsdenken und utopisches Denken vereinen sich. Utopia ist seitdem kein ferner (also räumlich entfernter) Ort mehr, sondern eine zukünftige (also in der Zeit vor uns liegende) Epoche. Dieses Verständnis von Technologie schafft erst die Vorstellung von Fortschritt.
Es ist die zwanzig Jahre alte Arbeit von John M. Jordan, die den massiven Einfluss dieser „Maschinen-Zeitalter Ideologie“, so der Titel seines einflussreichen Buches aus dem Jahr 1994, auf die amerikanische Politik und Gesellschaft ab dem 20. Jahrhundert untersucht hat. Tatsächlich ist darin ab etwa 1910 der Anspruch formuliert, Gesellschaften wie Industrien rational steuern zu können. Es entsteht dafür der Begriff „Social Engineering“, der das Maschinelle wörtlich auf das Soziale anwendet.
Charles P. Steinmetz, ein Ingenieur von General Electric, behauptete 1916 in seinem Buch „America and the New Epoch“: „Alles, was getan werden muss, ist, die Methoden der ökonomischen Effizienz von der industriellen Fabrik auf den ganzen nationalen Organismus zu übertragen.“ Louis Brandeis, Richter am Obersten Gerichtshof der USA und ein Beförderer von Reformgesetzen, sprach vom „wissenschaftlichen Management“, dessen die Gesellschaft bedürfe und glaubte, dass „Effizienz die Hoffnung für die Demokratie“ sei.
In einem 1913 erschienen Artikel im Magazin System nannte man Teddy Roosevelt wegen seiner technologisch orientierten Politik „the most efficient human machine of our time“. Denn nur die technische Intelligenz, so der Soziologe Thorstein Veblen im Jahr 1921, denke in Kategorien maximaler Effizienz – anders als die am Profit orientierten Manager und die von Wahlen abhängigen Politiker.
Der Ingenieur Frederick W. Taylor, der Namensgeber für den Taylorismus, eine Methode zur industriellen Produktivitätssteigerung, bei der jeder Fertigungsschritt exakt vermessen wird, war der Überzeugung, dass es diesen „one best way“, diesen einen besten Weg, für jede menschliche Handlung gebe. Wie Jordan nachgewiesen hat, etablierte sich während der Weltwirtschaftskrise in der amerikanischen Politik ein einflussreiches „Technocracy Movement“, eine Gruppe von Reformern, deren Impulse von den Sozialingenieuren des New Deal übernommen wurden.
Tatsächlich muss man feststellen, dass dieses Maschinenzeitalter tatsächlich gewaltige Fortschritte mit sich brachte – und das in einer Ära, die von zwei Weltkriegen geprägt war. Was also ist es, das uns heute die Informations-Technologie so ganz anders erleben lässt?
Zum einen: Gewöhnung. Es ist etwas anderes eine maschinelle Revolution im Aufbruch zu erleben, als sie seit mehr als hundert Jahren in ungezählten Entwicklungsstadien zu kennen. Technologie heute ist Alltag. Sie ist nichts Besonderes mehr. Vor hundert Jahren war sie Innovation. Zum anderen: Erfahrung. Nach mehr als hundert Jahren technologischer Entwicklung weiß man auch, was alles schief lief. Atomkraftwerke explodierten, Raumschiffe fielen vom Himmel, Umwelten wurden zerstört, Tiere ausgerottet. Und unsere Gesellschaften sind durch Technik auch nicht zu wesentlich besseren geworden.
Der gewaltigste Unterschied zwischen Maschinen- und Informationszeitalter aber ist: Geräte kann man benutzen, Information sind wir selber. Das macht Maschinen, die mit und an Information arbeiten unbehaglich. Sie sind „näher“ an uns dran als Schaufelbagger. Da sie aber noch viel schneller, viel tiefer, viel gründlicher mit Informationen umgehen können als wir, fühlen wir uns ihnen zu Recht unterlegen. Gegen Wissensmaschinen helfen keine Schutzhelme.
Und so fürchtet Rushkoff den „unfriendly takeover“ durch die digitale Apparatur: „Da Technik und Infosphäre immer komplexer werden und unsere Prozessoren immer schneller und vernetzter, entsteht irgendwann ein unabhängiges System, das einer höheren Ordnung angehört als wir selbst. Ob dieses System die Menschheit als virtuelles Programm mitlaufen lässt, ist ungewiss; aber die Codes, die dafür nötig sind, werden ihm zur Verfügung stehen.“ Wer weiß, vielleicht entpuppt sich diese höhere Digital-Ordnung ja auch als der „one best way“, von dem Taylor schwärmte. Aber das kann uns als dann überholtem Modell ja auch wieder völlig gleichgültig sein.
BERND GRAFF
Wir arbeiten rasend Aufgaben ab,
doch mit deren Erledigung
kommen wir nicht voran
Es wird ein autonomes System
entstehen, das einer höheren
Ordnung angehört als wir selbst
Douglas Rushkoff, Jahrgang 1961, unterrichtet Medientheorie an der New York University. Er studierte in Princeton. Zahlreiche seiner Veröffentlichungen zu Netzthemen und zur Cyberpunk-Bewegung sind auch auf deutsch erschienen.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.11.2014Das schwarze Loch des Jetzt
Rushkoff und Löffler über unsere Gegenwart im Netz
Es war einmal eine Zeit, in der die Medientheorien von der Steinzeit in drei Schritten bis zur Gegenwart vordrangen, dabei die Geschichte in Begriffe brachten und sich noch dazu an einer Diagnose der Gegenwart und einer Prognose der Zukunft versuchten. Es ist gerade einmal drei Jahrzehnte her, dass die Medientheorie von Norbert Bolz über Vilém Flusser und Friedrich Kittler bis Florian Rötzer solch weite Bögen spannte, dabei die Gutenberg-Galaxis im schwarzen Loch der Computerkultur verschwinden ließ und mit phänomenologischem Gespür die Gesten der Gegenwart zu entziffern suchte.
Theoretische Orientierungspunkte gab es dabei kaum, so neu waren die Perspektiven, die sich eröffneten, und so unzureichend die Bücher, die man hätte zur Hand nehmen können. Diese märchenhaft erscheinenden Zeiten der Theorie sind vorbei. Das muss man nicht bedauern, waren doch die Bögen arg hoch gespannt und die geschichtsphilosophischen Panoramen zu breit in ihrer Anlage.
Wenn man Douglas Rushkoffs "Present Shock" und Petra Löfflers "Verteilte Aufmerksamkeit" liest, sieht man, wie sich Stile und Gegenstände, Zentren der theoretischen Aufmerksamkeit und ihre Bezugsgrößen verschoben haben. An die Stelle der großen historisch-theoretischen Geste und der weltgeschichtlichen Panoramen ist bei Rushkoff die Gegenwart getreten, das große schwarze Loch des Jetzt, das alle Geschichte zu verschlingen droht, und bei Löffler eine filigrane Rekonstruktion der historischen Entwicklung.
Rushkoff gräbt sich tief in die verschiedenen Formen der medial erzeugten Präsenzen ein, um daraus eine scharfe Kritik der Welt der Social Media abzuleiten. Löffler hingegen identifiziert bereits in der Zeit um 1800 ein Zeitalter der "verteilten Aufmerksamkeit", um dann seine historischen Verschiebungen bis hin zur Weimarer Republik in den Blick zu nehmen. Zwei Temperamente, zwei Antworten: Der eine analysiert die Gegenwart in ihrer Doppelgestalt zwischen Messianismus und Apokalypse, die andere die Aufmerksamkeit als Spielball der Wissenschaften und Medientechniken über zwei Jahrhunderte hinweg. Der eine schlägt dabei den scharfen Ton der Kulturkritik an, die andere versteckt sich zumeist hinter klassischen Positionen, um Schauplätze der Zerstreuung zu erkunden. Der eine operiert bei aller Materialfülle ungeschützt in seinen Thesen, die andere mit der Solidität tradierter Positionen, die meist der Frankfurter Schule entstammen.
Der Weg Löfflers ist diskursiv gebahnt, jener Rushkoffs dagegen wilder und ungezügelter, auch deshalb, weil er kaum auf bekannte Positionen zurückgreift. Und wenn er es tut, geschieht das fast etwas verschämt, so etwa, wenn er die Chrono- und Soziobiologie bemüht, um deutlich zu machen, dass das Zeitmanagement des Menschen anderen Ordnungen gehorcht als jenen, die der Computer uns vorgibt. Das Überleben des Menschen verdanke sich, so resümiert er, der Organisation seiner Umwelt und seiner Existenz auf verschiedenen Zeitebenen, die vom Einzelnen bis zur Gattung reichen und in uns ihre Spuren hinterlassen haben. Wir sind eben doch keine Mensch-Maschinen.
Doch was ist nun die Gegenwart, um die sich beide Studien drehen? Der ehemalige Cyberpunk-Autor Rushkoff hat seinen apokalyptischen Ton nicht aufgegeben und sieht eine Zeit anbrechen, in der das Leben einem Computerprogramm folgt, das die Zeit vorgibt und den Menschen neu synchronisiert. Multitasking und Aufmerksamkeitsdefizitsyndrome (welch ein Wort!) regieren, und die Gegenwart ist so plural, dass sie ungreifbar geworden ist. Die digitale Zeit des Netzes ist, so räsoniert er, das große schwarze Loch, das Lebenszeit in virtuellen Präsentismus verwandelt. Der Messianismus der digitalen Jetztzeit wird zur Apokalypse des Menschen, dessen Körper doch andere Zeitordnungen kennt und lebt. Sie wiederzuentdecken ist demnach die Aufgabe. Das ist die Botschaft seines Buches.
Petra Löffler enthält sich dagegen aller kulturdiagnostischer Befunde und unterfüttert die Frage der Aufmerksamkeit mit einer Genealogie. Medienwird zur Wahrnehmungsgeschichte. Sie konzentriert sich auf wissenschaftliche, filmtheoretische und psycho-physische Diskurse, studiert Texte und frühe Filme, Rezensionen und Experimente. In der Gegenwart kommt ihre Studie nicht recht an. Mit Benjamin und Kracauer erreicht man vor allem die historische Tiefenschärfe der Zwischenkriegszeit. Diese erkundet Löfflers Arbeit mit einer Fülle von Beispielen.
Auf der einen Seite eine vergangenheitsvergessene Dauerpräsenz, auf der anderen eine geschichtsträchtige Vielgestalt der medial modellierten Aufmerksamkeit: Rushkoff und Löffler bieten zwei Perspektiven auf die Aufmerksamkeit als Phänomen der Gegenwart, die eigentümlich komplementär sind und erst zusammengenommen ihre analytische wie diagnostische Schärfe gewinnen. Auf einem Auge sind beide blind. Mit dem zweiten würden sie besser sehen.
BERND STIEGLER.
Petra Löffler: "Verteilte Aufmerksamkeit". Eine Mediengeschichte der Zerstreuung.
Diaphanes Verlag, Zürich/Berlin 2014. 368 S., br., 29,95 [Euro].
Douglas Rushkoff: "Present Shock". Wenn alles jetzt passiert. Aus dem Englischen von Gesine Schröder und Andy Hahnemann.
Orange Press, Freiburg 2014. 288 S., br., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Rushkoff und Löffler über unsere Gegenwart im Netz
Es war einmal eine Zeit, in der die Medientheorien von der Steinzeit in drei Schritten bis zur Gegenwart vordrangen, dabei die Geschichte in Begriffe brachten und sich noch dazu an einer Diagnose der Gegenwart und einer Prognose der Zukunft versuchten. Es ist gerade einmal drei Jahrzehnte her, dass die Medientheorie von Norbert Bolz über Vilém Flusser und Friedrich Kittler bis Florian Rötzer solch weite Bögen spannte, dabei die Gutenberg-Galaxis im schwarzen Loch der Computerkultur verschwinden ließ und mit phänomenologischem Gespür die Gesten der Gegenwart zu entziffern suchte.
Theoretische Orientierungspunkte gab es dabei kaum, so neu waren die Perspektiven, die sich eröffneten, und so unzureichend die Bücher, die man hätte zur Hand nehmen können. Diese märchenhaft erscheinenden Zeiten der Theorie sind vorbei. Das muss man nicht bedauern, waren doch die Bögen arg hoch gespannt und die geschichtsphilosophischen Panoramen zu breit in ihrer Anlage.
Wenn man Douglas Rushkoffs "Present Shock" und Petra Löfflers "Verteilte Aufmerksamkeit" liest, sieht man, wie sich Stile und Gegenstände, Zentren der theoretischen Aufmerksamkeit und ihre Bezugsgrößen verschoben haben. An die Stelle der großen historisch-theoretischen Geste und der weltgeschichtlichen Panoramen ist bei Rushkoff die Gegenwart getreten, das große schwarze Loch des Jetzt, das alle Geschichte zu verschlingen droht, und bei Löffler eine filigrane Rekonstruktion der historischen Entwicklung.
Rushkoff gräbt sich tief in die verschiedenen Formen der medial erzeugten Präsenzen ein, um daraus eine scharfe Kritik der Welt der Social Media abzuleiten. Löffler hingegen identifiziert bereits in der Zeit um 1800 ein Zeitalter der "verteilten Aufmerksamkeit", um dann seine historischen Verschiebungen bis hin zur Weimarer Republik in den Blick zu nehmen. Zwei Temperamente, zwei Antworten: Der eine analysiert die Gegenwart in ihrer Doppelgestalt zwischen Messianismus und Apokalypse, die andere die Aufmerksamkeit als Spielball der Wissenschaften und Medientechniken über zwei Jahrhunderte hinweg. Der eine schlägt dabei den scharfen Ton der Kulturkritik an, die andere versteckt sich zumeist hinter klassischen Positionen, um Schauplätze der Zerstreuung zu erkunden. Der eine operiert bei aller Materialfülle ungeschützt in seinen Thesen, die andere mit der Solidität tradierter Positionen, die meist der Frankfurter Schule entstammen.
Der Weg Löfflers ist diskursiv gebahnt, jener Rushkoffs dagegen wilder und ungezügelter, auch deshalb, weil er kaum auf bekannte Positionen zurückgreift. Und wenn er es tut, geschieht das fast etwas verschämt, so etwa, wenn er die Chrono- und Soziobiologie bemüht, um deutlich zu machen, dass das Zeitmanagement des Menschen anderen Ordnungen gehorcht als jenen, die der Computer uns vorgibt. Das Überleben des Menschen verdanke sich, so resümiert er, der Organisation seiner Umwelt und seiner Existenz auf verschiedenen Zeitebenen, die vom Einzelnen bis zur Gattung reichen und in uns ihre Spuren hinterlassen haben. Wir sind eben doch keine Mensch-Maschinen.
Doch was ist nun die Gegenwart, um die sich beide Studien drehen? Der ehemalige Cyberpunk-Autor Rushkoff hat seinen apokalyptischen Ton nicht aufgegeben und sieht eine Zeit anbrechen, in der das Leben einem Computerprogramm folgt, das die Zeit vorgibt und den Menschen neu synchronisiert. Multitasking und Aufmerksamkeitsdefizitsyndrome (welch ein Wort!) regieren, und die Gegenwart ist so plural, dass sie ungreifbar geworden ist. Die digitale Zeit des Netzes ist, so räsoniert er, das große schwarze Loch, das Lebenszeit in virtuellen Präsentismus verwandelt. Der Messianismus der digitalen Jetztzeit wird zur Apokalypse des Menschen, dessen Körper doch andere Zeitordnungen kennt und lebt. Sie wiederzuentdecken ist demnach die Aufgabe. Das ist die Botschaft seines Buches.
Petra Löffler enthält sich dagegen aller kulturdiagnostischer Befunde und unterfüttert die Frage der Aufmerksamkeit mit einer Genealogie. Medienwird zur Wahrnehmungsgeschichte. Sie konzentriert sich auf wissenschaftliche, filmtheoretische und psycho-physische Diskurse, studiert Texte und frühe Filme, Rezensionen und Experimente. In der Gegenwart kommt ihre Studie nicht recht an. Mit Benjamin und Kracauer erreicht man vor allem die historische Tiefenschärfe der Zwischenkriegszeit. Diese erkundet Löfflers Arbeit mit einer Fülle von Beispielen.
Auf der einen Seite eine vergangenheitsvergessene Dauerpräsenz, auf der anderen eine geschichtsträchtige Vielgestalt der medial modellierten Aufmerksamkeit: Rushkoff und Löffler bieten zwei Perspektiven auf die Aufmerksamkeit als Phänomen der Gegenwart, die eigentümlich komplementär sind und erst zusammengenommen ihre analytische wie diagnostische Schärfe gewinnen. Auf einem Auge sind beide blind. Mit dem zweiten würden sie besser sehen.
BERND STIEGLER.
Petra Löffler: "Verteilte Aufmerksamkeit". Eine Mediengeschichte der Zerstreuung.
Diaphanes Verlag, Zürich/Berlin 2014. 368 S., br., 29,95 [Euro].
Douglas Rushkoff: "Present Shock". Wenn alles jetzt passiert. Aus dem Englischen von Gesine Schröder und Andy Hahnemann.
Orange Press, Freiburg 2014. 288 S., br., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
'Das richtige Buch zur rechten Zeit.' (Spiegel Online)