Der Sprössling ganzer Generationen bedeutender jüdischer Gelehrter aus Osteuropa und selbst ein Rabbiner, war Jacob Taubes (1923-1987) ein bedeutender Vertreter des Judentums in der Nachkriegszeit. Sein Weg führte ihn von seiner Geburtsstadt Wien über Zürich nach Israel, von dort nach New York und West-Berlin. Taubes war ein intellektueller Impresario, dessen Leben die Konflikte zwischen jüdischem Glauben und Christentum, aber auch den Theorien der Moderne, vor allem der Kritischen Theorie widerspiegelt. So entfaltet die Erzählung der vielen Leben dieses Professors der Apokalypse, dieses Anwalts der Utopie, seiner theoretischen Entwürfe und politischen Stellungnahmen zugleich ein ganzes Panorama der Nachkriegszeit mit Theodor W. Adorno, Gershom Scholem, Jürgen Habermas, Peter Szondi, Herbert Marcuse, Susan Taubes, Carl Schmitt, Martin Buber und vielen anderen als seinen Fürsprechern wie Gegnern.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Peter Schäfer begegnet in Jerry Z. Mullers Biografie über den streitbaren jüdischen Religionsphilosophen Jacob Taubes Einsichten, Abgründen, Klatsch und Tratsch. Taubes als Judaist wider Willen, als Scharlatan, der Bücher durch Handauflegen verinnerlichte, und als komplexes, widersprüchliches Genie - so zeichnet Muller ihn laut Schäfer mitunter äußerst plastisch. Ein geduldig, mit sparsamem Humor entfaltetes Lebenspanorama, das in der Darstellung der postumen Neubewertung von Taubes' Lebenswerk gipfelt, meint Schäfer.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.12.2022Lebenslauf eines Stimmenimitators
Mit der Wahrheit stand er in lockerem Kontakt: Jerry Z. Muller schreibt eine stattliche Biographie des Religionsphilosophen Jacob Taubes.
Über den Religionsphilosophen Jacob Taubes sind Zeit seines Lebens von denen, die ihn kannten, scharfe Urteile gefällt worden. Die vorliegende Biographie zählt sie alle auf, sie berichtet von einem dubiosen Leben. Schon an dem hochbegabten Spross einer jüdischen Rabbiner- und Gelehrtenfamilie, der 1923 in Wien geboren wurde und dessen Eltern 1936 nach Zürich umzogen, nahmen die Zeitgenossen fragwürdige Züge wahr. Er galt als arrogant und quirlig, ideenreich und quecksilbrig, faul und prahlerisch, "brillant, pervers, dämonisch, manipulativ", wie es an einer Stelle heißt. Er verbreite "prätentiösen Unsinn" (Joseph Agassi), neige zu "philosophischen Ludereien" (Gershom Scholem), sei von "schamlosem Ehrgeiz" (Leo Strauss) getrieben. Einerseits war Taubes belesen und kannte immer alles, wusste zu allem etwas zu sagen, andererseits hielt er auch spontan Reden über Philosophen, die man eigens für ihn erfunden hatte, um ihn mit seinem prätendierten Alleskennertum hereinzulegen.
Mit der Wahrheit stand Taubes in lockerem Kontakt. Er bluffte gern und gab fremde Gedanken oft als die eigenen aus. Von dem einzigen Buch, das er mit dreiundzwanzig geschrieben hatte, hat er später behauptet, existiere eine Langversion, die aber nie aufgetaucht ist. So wenig, wie es die beiden Bücher gab, die er in einem Bewerbungsschreiben 1954 als "im Erscheinen" ankündigte. In New York hält er in dieser Zeit Vorträge, die auf Texten beruhen, die andere in Jerusalem geschrieben haben. Er spricht von einem 150-seitigen Manuskript über die Politische Theologie des Maimonides, das aber nie jemand gesehen hat. Je älter er wurde, desto jünger machte er sich in Lebensläufen, um das Wunderkind zu konservieren. Im privaten Umgang war er ein Indiskretin. Für das eigene Fortkommen war er zu jeder Niedertracht bereit. Später, als er Professor in Berlin war, bekam er dort den Spitznamen "Jakob der Lügner". Der Gräzist Jean Bollack nannte ihn aufgrund seiner Erfahrungen mit dem hochschulpolitischen Intriganten Taubes "die Inkarnation des Bösen".
Welches ideengeschichtliche Interesse verdient eine solche Person? Jerry Z. Muller, Historiker aus Washington, schreibt immerhin fast achthundert Seiten über sie und hat dafür zwanzig Jahre lang eine große Zahl von Zeitzeugen und Archiven befragt. Akribisch folgt er Taubes auf dessen Weg von Zürich nach New York, Jerusalem, Cambridge Mass. und schließlich Berlin, schildert Hunderte von Begegnungen, zahlreiche Affären und die Gedanken noch jedes Aufsatzes von Taubes.
Sie handeln fast alle von der Lage der Religion in der modernen Welt. Seit zweitausend Jahren muss insbesondere das Christentum umgedeutet werden: weil nicht eingetreten ist, was vorhergesagt wurde, und weil historische Forschung samt naturwissenschaftlicher Erkenntnis die überlieferten Texte und Wundermärchen alt aussehen lassen. Taubes schwebte demgegenüber eine interdisziplinäre Religionswissenschaft vor, die das Feuer der Religion auch unter den Umständen des gestorbenen Gottes bewahren sollte. Seine Devisen waren dabei: Weltablehnung, Bruch der Gesetze, Erlösung durch Sünde. Es interessierten ihn die sich ständig erneuernden Versuche, mittels religiöser Argumente und Praktiken der Versuchung zu widerstehen, sich in der Welt einzurichten.
Seiner eigenen hemmungslosen Lebensführung diente das nebenbei als Lizenz. Erlaubt ist, was mir gefällt, war sein Motto, begleitet von Selbstanklage und Verzweiflung. Bitter zu lesen ist die Geschichte von Taubes Ehen, deren erste nach der Trennung in den Suizid seiner Frau mündet. Einer Kollegin drohte er: "Ich habe schon zwei Frauen in den Selbstmord getrieben. Du bist die dritte." Werke jedoch entsprangen weder dieser Diabolik noch seinen Gedanken. Taubes war als Lehrer beliebt, als Anreger geschätzt, als Telefonverzeichnis des Geistes bewundert, als Forscher war er ein Komplettausfall.
Denn zu eigenen Studien drang er nie durch, er war ein Stimmenimitator. Früh bricht er in die Vereinigten Staaten auf, studiert und unterrichtet in New York, selbst in Zürich zum Rabbiner ausgebildet, eine Weile am Jüdischen Theologischen Seminar. Schreibt aber fast nichts und vernachlässigt seine Studien, zieht intellektuelle Treffen, Gespräche und die Suche nach erotischen Beziehungen vor. Muller schreibt von Taubes' "Interesse für alles außer der gerade vor ihm liegenden Fragestellung". Er wird zum Kopf eines Kreises jüdischer Intelligenz um die Zeitschrift "Commentary", aus dem später Impulse zum sogenannten Neokonservatismus hervorgehen würden: Irving Kristol, Gertrud Himmelfarb, Nathan Glazer und Daniel Bell. Mit ihnen liest Taubes Maimonides und diskutiert über die Schöpfung aus dem Nichts samt ihrer politischen Implikationen. Dass er seine Ideen dazu ein paar Wochen zuvor von Leo Strauss erhalten hatte, erwähnt Taubes nicht.
Seine Biographie führt insofern weniger in einen gedanklichen Kosmos ein als in das Paradox von Wirksamkeit ohne Publikation. Taubes war der Knotenpunkt eines weit geknüpften Netzwerkes, und zwar einer, der Welten miteinander verband, die sonst wenig miteinander zu schaffen hatten. Mit dem rechtsradikalen Ideengeschichtler Armin Mohler war er ebenso befreundet wie mit dem Marxisten Lucien Goldmann und dem Altphilologen Jean Bollack. Seine eigenen Ideen diskutierte er mit dem Jesuiten Hans Urs von Balthasar wie mit dem kommunistischen Literaturtheoretiker George Lukács, dem jüdischen Philosophen Martin Buber und dem Historiker der jüdischen Mystik Gershom Scholem. So kam es, dass Taubes früh das intellektuelle Gras wachsen hörte und ihm stets der letzte Schrei der philosophischen und ideenhistorischen Debatte zugetragen wurde. Ob es sich um die Negative Theologie handelte, bei deren Champion Karl Barth Taubes studiert hatte, oder um die Psychoanalyse, um die religionssoziologischen Schriften von Max Weber oder die Arbeiten von Leo Strauss, Taubes spielte alle Melodien sofort auswendig. Bekannte sprechen von seiner dazu passenden Fähigkeit, Bücher in hohem Tempo durchzumustern und umstandslos in ihren Hauptthesen wiedergeben zu können. Und von seinem Desinteresse an den Details einer Argumentation oder historischen Untersuchung. Was ihn beschäftigte, waren die extremen Positionen, der Rest war für die Langweiler.
Für die Langweiler war auch das Bücherschreiben. Taubes legte nur ein einziges vor, seine Dissertation "Abendländische Eschatologie" von 1947. Sie liefert ein unglaublich belesenes Potpourri dessen, was in Europa zwischen Paulus und Ernst Bloch über die letzten Dinge und den Versuch gedacht worden ist, das Reich Gottes auf Erden zu errichten. Aus den Werken von Karl Löwith, Hans Jonas und Bloch gewinnt Taubes seinen Gedankengang, aus Worten Martin Heideggers seine Satzmelodie und auch einzelne Formulierungen. Das Buch besteht aus Zitaten mit und ohne Anführungszeichen. Heute könnte man von Sampling als Methode sprechen.
Der Vorwurf, nichts Eigenständiges, sondern vor allem Lesefrüchte und "Kritiken" vorzutragen, wird Taubes begleiten. In seinen Jugendbriefen kündigt er an, die Grundlagen einer neuen, überkonfessionellen Theologie legen zu wollen. Ein Buch "Der Aufstand der Materie, 1847-1947" sollte den Übergang vom Patriarchat zum Matriarchat vorbereiten. Es entstand so wenig wie dasjenige über den Widerstand gegen das Gesetz der Väter von Paulus bis Kafka. Auch das ein Lebensmotiv: die Frage nach der Verpflichtung durch den Glauben. In seinen letzten Berliner Seminaren legte er den Teilnehmern die Lektüre von Albrecht Dihles damals gerade erschienener Studie über "Die Vorstellung vom Willen in der Antike" ans Herz, mit der Unterscheidung zwischen einem Guten, das auf Einsicht, und einem Guten, das auf Willensunterwerfung beruht. Taubes selbst hielt es umgekehrt mit dem Ungehorsam, freute sich diabolisch über die Studentenproteste von 1968 und mischte in Berlin, wohin er 1966 berufen worden war, kräftig mit. Nicht zuletzt durch Intrigen. Hans Blumenberg sprach von einem "pflichtgemäßen Pensum an Attacke", das Taubes ableiste, "zugunsten irgendeiner abstrakten List der Vernunft"; das Wohlgefühl politisch revolutionärer Gesten kam hinzu.
Es folgen Depressionen, Manien und Therapien. Nach und nach hatte Taubes allen sozialen Kredit in seiner Umgebung aufgebraucht. Als Taubes 1987 starb, fand sich in der Gruppe "Poetik und Hermeneutik" zunächst niemand, der einen Nachruf schreiben wollte. In den letzten Jahren hatte er bei abnehmender Lebenskraft seine Versuche verstärkt, für die "Politische Theologie" von Carl Schmitt zu werben und den Apostel Paulus als einen der ersten politischen Theologen darzustellen, der das Judentum universalisiert habe. Doch auch das blieben Anregungen aus einer Welt, die nur aus Büchern zu bestehen schien.
Aus Büchern und Gesprächen über Bücher. Jerry Z. Muller lässt kaum eine Personenkonstellation aus, in der sich Taubes bewegte. Nur den Namen des Berliner Religionswissenschaftlers Klaus Heinrich, mit dem Taubes zuerst koaliert hatte, dann verfeindet war, sucht man im Register vergebens. So halten wir in dieser Biographie ein riesiges Adressbuch in Händen, ohne genau zu wissen, wozu wir, jenseits der Erinnerung an eine Figur unserer Jugend, darin etwas nachschlagen sollten. JÜRGEN KAUBE
Jerry Z. Muller: "Professor der Apokalypse". Die vielen Leben des Jacob Taubes.
Aus dem Englischen von Ursula Kömen. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 927 S., geb., 58,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mit der Wahrheit stand er in lockerem Kontakt: Jerry Z. Muller schreibt eine stattliche Biographie des Religionsphilosophen Jacob Taubes.
Über den Religionsphilosophen Jacob Taubes sind Zeit seines Lebens von denen, die ihn kannten, scharfe Urteile gefällt worden. Die vorliegende Biographie zählt sie alle auf, sie berichtet von einem dubiosen Leben. Schon an dem hochbegabten Spross einer jüdischen Rabbiner- und Gelehrtenfamilie, der 1923 in Wien geboren wurde und dessen Eltern 1936 nach Zürich umzogen, nahmen die Zeitgenossen fragwürdige Züge wahr. Er galt als arrogant und quirlig, ideenreich und quecksilbrig, faul und prahlerisch, "brillant, pervers, dämonisch, manipulativ", wie es an einer Stelle heißt. Er verbreite "prätentiösen Unsinn" (Joseph Agassi), neige zu "philosophischen Ludereien" (Gershom Scholem), sei von "schamlosem Ehrgeiz" (Leo Strauss) getrieben. Einerseits war Taubes belesen und kannte immer alles, wusste zu allem etwas zu sagen, andererseits hielt er auch spontan Reden über Philosophen, die man eigens für ihn erfunden hatte, um ihn mit seinem prätendierten Alleskennertum hereinzulegen.
Mit der Wahrheit stand Taubes in lockerem Kontakt. Er bluffte gern und gab fremde Gedanken oft als die eigenen aus. Von dem einzigen Buch, das er mit dreiundzwanzig geschrieben hatte, hat er später behauptet, existiere eine Langversion, die aber nie aufgetaucht ist. So wenig, wie es die beiden Bücher gab, die er in einem Bewerbungsschreiben 1954 als "im Erscheinen" ankündigte. In New York hält er in dieser Zeit Vorträge, die auf Texten beruhen, die andere in Jerusalem geschrieben haben. Er spricht von einem 150-seitigen Manuskript über die Politische Theologie des Maimonides, das aber nie jemand gesehen hat. Je älter er wurde, desto jünger machte er sich in Lebensläufen, um das Wunderkind zu konservieren. Im privaten Umgang war er ein Indiskretin. Für das eigene Fortkommen war er zu jeder Niedertracht bereit. Später, als er Professor in Berlin war, bekam er dort den Spitznamen "Jakob der Lügner". Der Gräzist Jean Bollack nannte ihn aufgrund seiner Erfahrungen mit dem hochschulpolitischen Intriganten Taubes "die Inkarnation des Bösen".
Welches ideengeschichtliche Interesse verdient eine solche Person? Jerry Z. Muller, Historiker aus Washington, schreibt immerhin fast achthundert Seiten über sie und hat dafür zwanzig Jahre lang eine große Zahl von Zeitzeugen und Archiven befragt. Akribisch folgt er Taubes auf dessen Weg von Zürich nach New York, Jerusalem, Cambridge Mass. und schließlich Berlin, schildert Hunderte von Begegnungen, zahlreiche Affären und die Gedanken noch jedes Aufsatzes von Taubes.
Sie handeln fast alle von der Lage der Religion in der modernen Welt. Seit zweitausend Jahren muss insbesondere das Christentum umgedeutet werden: weil nicht eingetreten ist, was vorhergesagt wurde, und weil historische Forschung samt naturwissenschaftlicher Erkenntnis die überlieferten Texte und Wundermärchen alt aussehen lassen. Taubes schwebte demgegenüber eine interdisziplinäre Religionswissenschaft vor, die das Feuer der Religion auch unter den Umständen des gestorbenen Gottes bewahren sollte. Seine Devisen waren dabei: Weltablehnung, Bruch der Gesetze, Erlösung durch Sünde. Es interessierten ihn die sich ständig erneuernden Versuche, mittels religiöser Argumente und Praktiken der Versuchung zu widerstehen, sich in der Welt einzurichten.
Seiner eigenen hemmungslosen Lebensführung diente das nebenbei als Lizenz. Erlaubt ist, was mir gefällt, war sein Motto, begleitet von Selbstanklage und Verzweiflung. Bitter zu lesen ist die Geschichte von Taubes Ehen, deren erste nach der Trennung in den Suizid seiner Frau mündet. Einer Kollegin drohte er: "Ich habe schon zwei Frauen in den Selbstmord getrieben. Du bist die dritte." Werke jedoch entsprangen weder dieser Diabolik noch seinen Gedanken. Taubes war als Lehrer beliebt, als Anreger geschätzt, als Telefonverzeichnis des Geistes bewundert, als Forscher war er ein Komplettausfall.
Denn zu eigenen Studien drang er nie durch, er war ein Stimmenimitator. Früh bricht er in die Vereinigten Staaten auf, studiert und unterrichtet in New York, selbst in Zürich zum Rabbiner ausgebildet, eine Weile am Jüdischen Theologischen Seminar. Schreibt aber fast nichts und vernachlässigt seine Studien, zieht intellektuelle Treffen, Gespräche und die Suche nach erotischen Beziehungen vor. Muller schreibt von Taubes' "Interesse für alles außer der gerade vor ihm liegenden Fragestellung". Er wird zum Kopf eines Kreises jüdischer Intelligenz um die Zeitschrift "Commentary", aus dem später Impulse zum sogenannten Neokonservatismus hervorgehen würden: Irving Kristol, Gertrud Himmelfarb, Nathan Glazer und Daniel Bell. Mit ihnen liest Taubes Maimonides und diskutiert über die Schöpfung aus dem Nichts samt ihrer politischen Implikationen. Dass er seine Ideen dazu ein paar Wochen zuvor von Leo Strauss erhalten hatte, erwähnt Taubes nicht.
Seine Biographie führt insofern weniger in einen gedanklichen Kosmos ein als in das Paradox von Wirksamkeit ohne Publikation. Taubes war der Knotenpunkt eines weit geknüpften Netzwerkes, und zwar einer, der Welten miteinander verband, die sonst wenig miteinander zu schaffen hatten. Mit dem rechtsradikalen Ideengeschichtler Armin Mohler war er ebenso befreundet wie mit dem Marxisten Lucien Goldmann und dem Altphilologen Jean Bollack. Seine eigenen Ideen diskutierte er mit dem Jesuiten Hans Urs von Balthasar wie mit dem kommunistischen Literaturtheoretiker George Lukács, dem jüdischen Philosophen Martin Buber und dem Historiker der jüdischen Mystik Gershom Scholem. So kam es, dass Taubes früh das intellektuelle Gras wachsen hörte und ihm stets der letzte Schrei der philosophischen und ideenhistorischen Debatte zugetragen wurde. Ob es sich um die Negative Theologie handelte, bei deren Champion Karl Barth Taubes studiert hatte, oder um die Psychoanalyse, um die religionssoziologischen Schriften von Max Weber oder die Arbeiten von Leo Strauss, Taubes spielte alle Melodien sofort auswendig. Bekannte sprechen von seiner dazu passenden Fähigkeit, Bücher in hohem Tempo durchzumustern und umstandslos in ihren Hauptthesen wiedergeben zu können. Und von seinem Desinteresse an den Details einer Argumentation oder historischen Untersuchung. Was ihn beschäftigte, waren die extremen Positionen, der Rest war für die Langweiler.
Für die Langweiler war auch das Bücherschreiben. Taubes legte nur ein einziges vor, seine Dissertation "Abendländische Eschatologie" von 1947. Sie liefert ein unglaublich belesenes Potpourri dessen, was in Europa zwischen Paulus und Ernst Bloch über die letzten Dinge und den Versuch gedacht worden ist, das Reich Gottes auf Erden zu errichten. Aus den Werken von Karl Löwith, Hans Jonas und Bloch gewinnt Taubes seinen Gedankengang, aus Worten Martin Heideggers seine Satzmelodie und auch einzelne Formulierungen. Das Buch besteht aus Zitaten mit und ohne Anführungszeichen. Heute könnte man von Sampling als Methode sprechen.
Der Vorwurf, nichts Eigenständiges, sondern vor allem Lesefrüchte und "Kritiken" vorzutragen, wird Taubes begleiten. In seinen Jugendbriefen kündigt er an, die Grundlagen einer neuen, überkonfessionellen Theologie legen zu wollen. Ein Buch "Der Aufstand der Materie, 1847-1947" sollte den Übergang vom Patriarchat zum Matriarchat vorbereiten. Es entstand so wenig wie dasjenige über den Widerstand gegen das Gesetz der Väter von Paulus bis Kafka. Auch das ein Lebensmotiv: die Frage nach der Verpflichtung durch den Glauben. In seinen letzten Berliner Seminaren legte er den Teilnehmern die Lektüre von Albrecht Dihles damals gerade erschienener Studie über "Die Vorstellung vom Willen in der Antike" ans Herz, mit der Unterscheidung zwischen einem Guten, das auf Einsicht, und einem Guten, das auf Willensunterwerfung beruht. Taubes selbst hielt es umgekehrt mit dem Ungehorsam, freute sich diabolisch über die Studentenproteste von 1968 und mischte in Berlin, wohin er 1966 berufen worden war, kräftig mit. Nicht zuletzt durch Intrigen. Hans Blumenberg sprach von einem "pflichtgemäßen Pensum an Attacke", das Taubes ableiste, "zugunsten irgendeiner abstrakten List der Vernunft"; das Wohlgefühl politisch revolutionärer Gesten kam hinzu.
Es folgen Depressionen, Manien und Therapien. Nach und nach hatte Taubes allen sozialen Kredit in seiner Umgebung aufgebraucht. Als Taubes 1987 starb, fand sich in der Gruppe "Poetik und Hermeneutik" zunächst niemand, der einen Nachruf schreiben wollte. In den letzten Jahren hatte er bei abnehmender Lebenskraft seine Versuche verstärkt, für die "Politische Theologie" von Carl Schmitt zu werben und den Apostel Paulus als einen der ersten politischen Theologen darzustellen, der das Judentum universalisiert habe. Doch auch das blieben Anregungen aus einer Welt, die nur aus Büchern zu bestehen schien.
Aus Büchern und Gesprächen über Bücher. Jerry Z. Muller lässt kaum eine Personenkonstellation aus, in der sich Taubes bewegte. Nur den Namen des Berliner Religionswissenschaftlers Klaus Heinrich, mit dem Taubes zuerst koaliert hatte, dann verfeindet war, sucht man im Register vergebens. So halten wir in dieser Biographie ein riesiges Adressbuch in Händen, ohne genau zu wissen, wozu wir, jenseits der Erinnerung an eine Figur unserer Jugend, darin etwas nachschlagen sollten. JÜRGEN KAUBE
Jerry Z. Muller: "Professor der Apokalypse". Die vielen Leben des Jacob Taubes.
Aus dem Englischen von Ursula Kömen. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 927 S., geb., 58,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.02.2023Ungewöhnliche Fähigkeiten
Jerry Z. Mullers große Biografie des Judaisten und sagenumwobenen intellektuellen Spielers Jacob Taubes
Dieses Buch ist ebenso monströs wie sein Gegenstand, das Leben des jüdischen Religionsphilosophen Jacob Taubes. Auf nahezu 900 Seiten breitet der emeritierte Historiker der Catholic University in Washington, Jerry Z. Muller, dieses Leben vor uns aus, als Sammlung von allen nur denkbaren Sehenswürdigkeiten, Einsichten, Kuriositäten, Abgründen, und ja, Klatsch. Geboren 1923 in Wien und gestorben 1987 in Berlin spiegelt Taubes wie kaum ein anderer zeitgenössischer Denker die Breite des intellektuellen Lebens im 20. Jahrhundert wider, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern ebenso auch in den USA, Israel und Frankreich. Alles, was in diesem Ausschnitt des Jahrhunderts Rang und Namen hatte, kam auf die eine oder andere Weise in seinen Orbit oder besser, wurde durch seinen Charme in ihn hineingezogen.
Taubes wurde in eine hoch angesehene osteuropäisch-jüdische Familie hineingeboren. Aus dem väterlichen Zweig der Familie stammten mehrere berühmte Talmudgelehrte, der mütterliche Zweig der Familie gehörte dagegen zu einer Dynastie von chassidischen Wundertätern, die den direkten Weg zu ihrem Gott dem mühsamen und exzessiven Talmudstudium vorzogen. Muller schwärmt geradezu von dieser Kombination als der idealen Basis für die gelungene Ehe der Eltern und für die exzellente jüdische Bildung des Sohnes. Hier wüsste man gerne mehr, denn Talmudgelehrsamkeit und Chassidismus reagierten oft genug wie Feuer und Wasser aufeinander, und man fragt sich, ob das von Muller gezeichnete Bild nicht eher einem naiven Ideal des osteuropäischen Judentums folgt und ob nicht in dieser angeblichen Idylle einer der Gründe für Taubes’ innere Zerrissenheit liegt. Ein orthodoxer Talmudgelehrter war er jedenfalls nicht, ihn faszinierte alles, was häretisch und gegen das überkommene Gesetz war.
Warum verdient Taubes eine Biografie? Sicher zuallererst, weil er 1961 von der Columbia University in New York an die Freie Universität Berlin auf den ersten Lehrstuhl für Judaistik an einer deutschen Universität berufen wurde. Die Einrichtung dieses Lehrstuhls und seine gezielte Besetzung mit einem jüdischen Gelehrten war ein wichtiges Signal, in dessen Folge zahlreiche weitere Lehrstühle für Judaistik oder Jüdische Studien entstanden, die die Wissenschaft vom Judentum wieder nach Deutschland zurückholten und endlich auch an der Universität etablierten.
Als Inhaber des ersten deutschen Lehrstuhls für Judaistik war Taubes eine eklatante Fehlbesetzung. Ihn interessierte nichts weniger, als die Kenntnis der jüdischen Religion, Kultur und Geschichte an eine jüngere Generation weiterzugeben, ja nicht einmal eine wissenschaftlich-akademische Beschäftigung mit dem Judentum interessierte ihn. Judentum wurde für ihn gelernt und gelebt, nicht akademisch vermittelt. Man kann sogar bezweifeln, dass er es für an Nichtjuden vermittelbar hielt. Muller schildert sehr plastisch, wie man Taubes manchmal am späten Freitagabend im – von ihm ungeliebten, samt seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern geradezu gehassten – Berliner Institut für Judaistik mutterseelenallein den Talmud in irgendeinem traditionellen Singsang rezitieren hörte.
Wissenschaftlich interessierten ihn vor allem die Philosophie und disziplinübergreifende Themen, und in der Praxis am allermeisten die Besetzungen von Lehrstühlen in seinem Sinne im Institut für Philosophie (dem er kooptiert war) und fakultätsinterne Ränke und Intrigen, in denen er ein Meister war – ganz zu schweigen von der Studentenrevolte der späten Sechziger, in der die FU als Institution und er als ihr überregional bekannter Herold sich hervortaten. Seine 1947 veröffentlichte Dissertation „Abendländische Eschatologie“ war das einzige Buch, das Taubes zu Lebzeiten publizierte. Als ich 1983 den Ruf auf seine Nachfolge erhielt, hieß es dort: Taubes? Das ist doch dieser Agitator der Studentenunruhen an der FU? Aber Judaistik?
Von ganz verschiedenen Seiten hört man immer wieder, dass Taubes in seinem tiefsten Wesen eigentlich ein Scharlatan war. Muller bringt viele Belege dafür und erzählt alle die einschlägigen Geschichten, von denen die meisten bekannt sind. Besonders eindrücklich ist die Geschichte von den Kollegen, die auf einer Tagung in der Kaffeepause beschlossen, Taubes öffentlich zu blamieren. Sie unterhielten sich angeregt über einen von ihnen erfundenen, angeblich zu Unrecht fast vergessenen mittelalterlichen Gelehrten und seine wahre Bedeutung. Taubes hörte einige Zeit angeregt zu, um dann schließlich einzustimmen und seine eigenen Lesefrüchte zur Rehabilitierung dieses Gelehrten beizutragen. Dass ihn dies nicht in ein besonders günstiges Licht stellte, als seine Kollegen ihn aufklärten, störte ihn nicht im Geringsten. Er tat so, als sei das Ganze ein Spiel gewesen, das er natürlich von Anfang an durchschaut hatte. War er deswegen ein Scharlatan?
Muller lässt sich mit Recht auf eine so zugespitzte Frage nicht ein und betont immer wieder die positive, oft genug genialische Seite an Taubes’ Wesen. An dem Bonmot, dass er Bücher durch Handauflegen lesen konnte, stimmt eben doch, dass er die ganz ungewöhnliche Fähigkeit besaß, die Kernaussagen eines Buches oder eines Aufsatzes in kürzester Zeit zu erfassen und allgemein verständlich wiederzugeben. Damit hatte er sich einen Fundus angeeignet, auf dessen Basis er sehr schnell neue Trends der von ihm bevorzugten Wissenschaften erfassen und neue Talente entdecken konnte. Dies ist sicher auch einer der Gründe für die ihm oft vorgeworfene Arroganz. An gedanklicher Schnelligkeit und der Breite – nicht so sehr Tiefe – des intuitiv erfassten Wissens konnten es wenige mit ihm aufnehmen. Die Kehrseite davon war, dass er es nie lange bei einem Gegenstand aushielt und eben auch keine Bücher sowie nur wenige Aufsätze zustande brachte, denen man das mangelnde Sitzfleisch ihres Autors schnell anmerkte. Er hüpfte lieber wie ein Schmetterling von einer Blüte zur anderen, in der Hoffnung, dort besseren Nektar zu finden. Im Übrigen war seine Arroganz die Kehrseite seines Charmes, mit dem es ihm immer wieder gelang, seine Umgebung – nicht zuletzt seine Studenten – zu beeindrucken. Taubes war alles andere als bloß ein „Stimmenimitator“, wie Jürgen Kaube in der FAZ schreibt, er war ein Menschenfänger – von dem offenbar auch Kaube als Student angetan war.
Aber war Taubes auch „böse“, wie oft gesagt wird? Auch hier werden zahlreiche Geschichten kolportiert, die bekannteste davon die Affäre um den Scholem-Schüler Joseph Weiss, in der Taubes das Vertrauen Scholems in einer Weise missbrauchte, die diesen zwang, den Kontakt mit Taubes abzubrechen und ihn als Doktorand vor die Tür zu setzen. Das Verhältnis zwischen Scholem und Taubes blieb bis zum Tod Scholems 1982 nachhaltig beschädigt. Ich selbst bin Taubes nur selten persönlich begegnet. Meine Berufung als sein Nachfolger scheint er nicht hintertrieben, sondern eher unterstützt zu haben. Jedenfalls soll er auf die Frage des zuständigen Senators, was er von der Berufung eines Christen, noch dazu eines Katholiken, auf den Berliner judaistischen Lehrstuhl halte, den Ausspruch getan haben: „Ein Mathematiker muss kein Dreieck sein!“
Es versteht sich fast von selbst, dass dieses Bonmot, mit dem er sich schmückte, nicht von ihm stammt. Eine der wenigen Erinnerungen an ihn ist mein erster und einziger Besuch in seiner Wohnung, wo er mich unmittelbar nach der Begrüßung zum Wohnzimmerfenster führte, auf dessen Fenstersims ein Foto stand, und ohne jeden weiteren Kommentar sagte: „Das ist meine verstorbene Frau, sie hat Selbstmord begangen.“ Ich weiß noch sehr genau, wie ich sofort begriff, dass er das nur gesagt hatte, um zu sehen, wie ich darauf reagieren würde. Dass er ein Frauenheld war, ist wohlbekannt – und wird bei Muller in mehr Einzelheiten ausgebreitet, als man wirklich wissen möchte –, aber dass er seiner Kollegin Marianne Awerbuch androhte: „Ich habe schon zwei Frauen in den Selbstmord getrieben. Du bist die dritte“, las ich jetzt zum ersten Mal.
Taubes war eine ungemein komplexe, widersprüchliche, zwiespältige und sicher auch tragische Persönlichkeit, die die Spannungen in sich selbst nicht aushalten konnte und immer wieder von einem Extrem ins andere getrieben wurde. Gestorben ist er am Ende an Krebs. Muller entfaltet das Panorama dieses Lebens mit unendlicher Geduld, Freundlichkeit, seltenen Seitenhieben, wenig Humor, wohltemperierter Ausgewogenheit, und schafft dennoch ein Panorama, das seinesgleichen sucht.
Besonders gelungen ist der Schlussteil über das „Nachleben von Jacob Taubes“, in dem Muller die schon unmittelbar nach Taubes’ Tod einsetzende Neubewertung seiner Lebensleistung schildert. Hier erscheinen nun, welch Ironie der Geschichte, plötzlich vier „neue“ Bücher von ihm – von seinen Epigonen Aufgewärmtes und neu Zusammengestelltes sowie, als einziges wirklich neu, die von Aleida und Jan Assmann besorgte „Politische Theologie des Paulus“, Vorträge, die der von seiner Krankheit gezeichnete Taubes kurz vor seinem Tod in Heidelberg hielt. Er hätte seine Freude daran gehabt.
PETER SCHÄFER
An dem Bonmot, dass er Bücher
durch Handauflegen lesen
konnte, war nicht alles falsch
Jerry Z. Muller:
Professor der Apokalypse. Die vielen Leben des Jacob Taubes. Aus dem
englischen von Ursula Kömen. Jüdischer Verlag, Berlin 2022. 927 Seiten,
58 Euro.
Jacob Taubes faszinierte alles, was gegen das überkommene Gesetz war.
Foto: ZFL
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Jerry Z. Mullers große Biografie des Judaisten und sagenumwobenen intellektuellen Spielers Jacob Taubes
Dieses Buch ist ebenso monströs wie sein Gegenstand, das Leben des jüdischen Religionsphilosophen Jacob Taubes. Auf nahezu 900 Seiten breitet der emeritierte Historiker der Catholic University in Washington, Jerry Z. Muller, dieses Leben vor uns aus, als Sammlung von allen nur denkbaren Sehenswürdigkeiten, Einsichten, Kuriositäten, Abgründen, und ja, Klatsch. Geboren 1923 in Wien und gestorben 1987 in Berlin spiegelt Taubes wie kaum ein anderer zeitgenössischer Denker die Breite des intellektuellen Lebens im 20. Jahrhundert wider, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern ebenso auch in den USA, Israel und Frankreich. Alles, was in diesem Ausschnitt des Jahrhunderts Rang und Namen hatte, kam auf die eine oder andere Weise in seinen Orbit oder besser, wurde durch seinen Charme in ihn hineingezogen.
Taubes wurde in eine hoch angesehene osteuropäisch-jüdische Familie hineingeboren. Aus dem väterlichen Zweig der Familie stammten mehrere berühmte Talmudgelehrte, der mütterliche Zweig der Familie gehörte dagegen zu einer Dynastie von chassidischen Wundertätern, die den direkten Weg zu ihrem Gott dem mühsamen und exzessiven Talmudstudium vorzogen. Muller schwärmt geradezu von dieser Kombination als der idealen Basis für die gelungene Ehe der Eltern und für die exzellente jüdische Bildung des Sohnes. Hier wüsste man gerne mehr, denn Talmudgelehrsamkeit und Chassidismus reagierten oft genug wie Feuer und Wasser aufeinander, und man fragt sich, ob das von Muller gezeichnete Bild nicht eher einem naiven Ideal des osteuropäischen Judentums folgt und ob nicht in dieser angeblichen Idylle einer der Gründe für Taubes’ innere Zerrissenheit liegt. Ein orthodoxer Talmudgelehrter war er jedenfalls nicht, ihn faszinierte alles, was häretisch und gegen das überkommene Gesetz war.
Warum verdient Taubes eine Biografie? Sicher zuallererst, weil er 1961 von der Columbia University in New York an die Freie Universität Berlin auf den ersten Lehrstuhl für Judaistik an einer deutschen Universität berufen wurde. Die Einrichtung dieses Lehrstuhls und seine gezielte Besetzung mit einem jüdischen Gelehrten war ein wichtiges Signal, in dessen Folge zahlreiche weitere Lehrstühle für Judaistik oder Jüdische Studien entstanden, die die Wissenschaft vom Judentum wieder nach Deutschland zurückholten und endlich auch an der Universität etablierten.
Als Inhaber des ersten deutschen Lehrstuhls für Judaistik war Taubes eine eklatante Fehlbesetzung. Ihn interessierte nichts weniger, als die Kenntnis der jüdischen Religion, Kultur und Geschichte an eine jüngere Generation weiterzugeben, ja nicht einmal eine wissenschaftlich-akademische Beschäftigung mit dem Judentum interessierte ihn. Judentum wurde für ihn gelernt und gelebt, nicht akademisch vermittelt. Man kann sogar bezweifeln, dass er es für an Nichtjuden vermittelbar hielt. Muller schildert sehr plastisch, wie man Taubes manchmal am späten Freitagabend im – von ihm ungeliebten, samt seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern geradezu gehassten – Berliner Institut für Judaistik mutterseelenallein den Talmud in irgendeinem traditionellen Singsang rezitieren hörte.
Wissenschaftlich interessierten ihn vor allem die Philosophie und disziplinübergreifende Themen, und in der Praxis am allermeisten die Besetzungen von Lehrstühlen in seinem Sinne im Institut für Philosophie (dem er kooptiert war) und fakultätsinterne Ränke und Intrigen, in denen er ein Meister war – ganz zu schweigen von der Studentenrevolte der späten Sechziger, in der die FU als Institution und er als ihr überregional bekannter Herold sich hervortaten. Seine 1947 veröffentlichte Dissertation „Abendländische Eschatologie“ war das einzige Buch, das Taubes zu Lebzeiten publizierte. Als ich 1983 den Ruf auf seine Nachfolge erhielt, hieß es dort: Taubes? Das ist doch dieser Agitator der Studentenunruhen an der FU? Aber Judaistik?
Von ganz verschiedenen Seiten hört man immer wieder, dass Taubes in seinem tiefsten Wesen eigentlich ein Scharlatan war. Muller bringt viele Belege dafür und erzählt alle die einschlägigen Geschichten, von denen die meisten bekannt sind. Besonders eindrücklich ist die Geschichte von den Kollegen, die auf einer Tagung in der Kaffeepause beschlossen, Taubes öffentlich zu blamieren. Sie unterhielten sich angeregt über einen von ihnen erfundenen, angeblich zu Unrecht fast vergessenen mittelalterlichen Gelehrten und seine wahre Bedeutung. Taubes hörte einige Zeit angeregt zu, um dann schließlich einzustimmen und seine eigenen Lesefrüchte zur Rehabilitierung dieses Gelehrten beizutragen. Dass ihn dies nicht in ein besonders günstiges Licht stellte, als seine Kollegen ihn aufklärten, störte ihn nicht im Geringsten. Er tat so, als sei das Ganze ein Spiel gewesen, das er natürlich von Anfang an durchschaut hatte. War er deswegen ein Scharlatan?
Muller lässt sich mit Recht auf eine so zugespitzte Frage nicht ein und betont immer wieder die positive, oft genug genialische Seite an Taubes’ Wesen. An dem Bonmot, dass er Bücher durch Handauflegen lesen konnte, stimmt eben doch, dass er die ganz ungewöhnliche Fähigkeit besaß, die Kernaussagen eines Buches oder eines Aufsatzes in kürzester Zeit zu erfassen und allgemein verständlich wiederzugeben. Damit hatte er sich einen Fundus angeeignet, auf dessen Basis er sehr schnell neue Trends der von ihm bevorzugten Wissenschaften erfassen und neue Talente entdecken konnte. Dies ist sicher auch einer der Gründe für die ihm oft vorgeworfene Arroganz. An gedanklicher Schnelligkeit und der Breite – nicht so sehr Tiefe – des intuitiv erfassten Wissens konnten es wenige mit ihm aufnehmen. Die Kehrseite davon war, dass er es nie lange bei einem Gegenstand aushielt und eben auch keine Bücher sowie nur wenige Aufsätze zustande brachte, denen man das mangelnde Sitzfleisch ihres Autors schnell anmerkte. Er hüpfte lieber wie ein Schmetterling von einer Blüte zur anderen, in der Hoffnung, dort besseren Nektar zu finden. Im Übrigen war seine Arroganz die Kehrseite seines Charmes, mit dem es ihm immer wieder gelang, seine Umgebung – nicht zuletzt seine Studenten – zu beeindrucken. Taubes war alles andere als bloß ein „Stimmenimitator“, wie Jürgen Kaube in der FAZ schreibt, er war ein Menschenfänger – von dem offenbar auch Kaube als Student angetan war.
Aber war Taubes auch „böse“, wie oft gesagt wird? Auch hier werden zahlreiche Geschichten kolportiert, die bekannteste davon die Affäre um den Scholem-Schüler Joseph Weiss, in der Taubes das Vertrauen Scholems in einer Weise missbrauchte, die diesen zwang, den Kontakt mit Taubes abzubrechen und ihn als Doktorand vor die Tür zu setzen. Das Verhältnis zwischen Scholem und Taubes blieb bis zum Tod Scholems 1982 nachhaltig beschädigt. Ich selbst bin Taubes nur selten persönlich begegnet. Meine Berufung als sein Nachfolger scheint er nicht hintertrieben, sondern eher unterstützt zu haben. Jedenfalls soll er auf die Frage des zuständigen Senators, was er von der Berufung eines Christen, noch dazu eines Katholiken, auf den Berliner judaistischen Lehrstuhl halte, den Ausspruch getan haben: „Ein Mathematiker muss kein Dreieck sein!“
Es versteht sich fast von selbst, dass dieses Bonmot, mit dem er sich schmückte, nicht von ihm stammt. Eine der wenigen Erinnerungen an ihn ist mein erster und einziger Besuch in seiner Wohnung, wo er mich unmittelbar nach der Begrüßung zum Wohnzimmerfenster führte, auf dessen Fenstersims ein Foto stand, und ohne jeden weiteren Kommentar sagte: „Das ist meine verstorbene Frau, sie hat Selbstmord begangen.“ Ich weiß noch sehr genau, wie ich sofort begriff, dass er das nur gesagt hatte, um zu sehen, wie ich darauf reagieren würde. Dass er ein Frauenheld war, ist wohlbekannt – und wird bei Muller in mehr Einzelheiten ausgebreitet, als man wirklich wissen möchte –, aber dass er seiner Kollegin Marianne Awerbuch androhte: „Ich habe schon zwei Frauen in den Selbstmord getrieben. Du bist die dritte“, las ich jetzt zum ersten Mal.
Taubes war eine ungemein komplexe, widersprüchliche, zwiespältige und sicher auch tragische Persönlichkeit, die die Spannungen in sich selbst nicht aushalten konnte und immer wieder von einem Extrem ins andere getrieben wurde. Gestorben ist er am Ende an Krebs. Muller entfaltet das Panorama dieses Lebens mit unendlicher Geduld, Freundlichkeit, seltenen Seitenhieben, wenig Humor, wohltemperierter Ausgewogenheit, und schafft dennoch ein Panorama, das seinesgleichen sucht.
Besonders gelungen ist der Schlussteil über das „Nachleben von Jacob Taubes“, in dem Muller die schon unmittelbar nach Taubes’ Tod einsetzende Neubewertung seiner Lebensleistung schildert. Hier erscheinen nun, welch Ironie der Geschichte, plötzlich vier „neue“ Bücher von ihm – von seinen Epigonen Aufgewärmtes und neu Zusammengestelltes sowie, als einziges wirklich neu, die von Aleida und Jan Assmann besorgte „Politische Theologie des Paulus“, Vorträge, die der von seiner Krankheit gezeichnete Taubes kurz vor seinem Tod in Heidelberg hielt. Er hätte seine Freude daran gehabt.
PETER SCHÄFER
An dem Bonmot, dass er Bücher
durch Handauflegen lesen
konnte, war nicht alles falsch
Jerry Z. Muller:
Professor der Apokalypse. Die vielen Leben des Jacob Taubes. Aus dem
englischen von Ursula Kömen. Jüdischer Verlag, Berlin 2022. 927 Seiten,
58 Euro.
Jacob Taubes faszinierte alles, was gegen das überkommene Gesetz war.
Foto: ZFL
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»In Mullers monumentaler Darstellung fasziniert vor allem das Bild eines manischen Weltgeistes, der nicht von Rationalität, sondern von der Sucht nach Überschreitung aller Konventionen und Normen angetrieben wird.« Caspar Battegay NZZ am Sonntag 20230404