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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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Götz Aly erinnert an den hellsichtigen Publizisten Siegfried Lichtenstaedter
Gibt es heute eine solche Figur? Einen homosexuellen Juden, der so brillant ist, dass man ihn auf dem Gymnasium drei Klassen überspringen lässt, der Orientalistik, Sprachwissenschaften und dann Jura studiert und es in der bayerischen Finanzverwaltung zum Oberregierungsrat bringt. Dem man sogar den Posten des Finanzministers anbietet, sofern er sich zum christlichen Glauben bekennt. Der als Naturschützer, Vegetarier und zeitweiser Nudist ein elegantes Single-Leben mit bohemehaften Zügen führt. Und der nebenher unter Pseudonymen mehr als vierzig politisch eingreifende Bücher und Broschüren zu drängenden Fragen der Zeit schreibt.
Der 1865 im fränkischen Baiersdorf geborene Siegfried Lichtenstaedter hat dieses Leben gelebt, und dass ihn jetzt der Historiker Götz Aly der Vergessenheit entreißt, ist eine mehr als noble Geste. Einen "Propheten der Vernichtung" nennt Aly den unfassbar hellsichtigen Analytiker, dessen Spezialgebiet "Zukunftsgeschichtsschreibung" war und der keinem Streit aus dem Weg ging. 1895 legte er sich mit dem britischen Premier William Gladstone an, der sich über das türkische Vorgehen gegenüber Armeniern und Bulgaren beklagt hatte. Warum, fragt Lichtenstaedter zurück, habe er geschwiegen, als die Bulgaren gegen die Muslime vorgingen? Und habe nicht das Empire in den Kolonien selbst vor keiner Grausamkeit zurückgeschreckt? Gladstone antwortet, immerhin, bleibt aber vage.
Schon 1898 hatte Lichtenstaedter den Genozid an der Armeniern vorhergesagt; und 1903 beschrieb er in dem Buch "Das neue Weltreich", wie sich das deutsche Volk im Oktober 1939 mit Zustimmung der Russen an die Züchtigung der slawischen Völker macht. Nur einen Monat also daneben. Der deutsche Überfall auf Polen begann am 1. September 1939. Auch den "Anschluss" Deutsch-Österreichs durch einen deutschen Reichskanzler sah Lichtenstaedter kommen, im Jahr 1940. Nur zwei Jahre daneben.
Woher diese Hellsichtigkeit? Lichtenstaedter hatte ein doppelt feines Gespür für den täglichen Faschismus - als Jude, als Homosexueller. Er war eigenwillig und auch in der Jüdischen Gemeinde nicht jedermanns Liebling - unbequem, weil von einem tiefen Empfinden für Gerechtigkeit getrieben. Und wachsam: Seit 1922 las er regelmäßig den "Völkischen Beobachter", registrierte in vielen scheinbaren Kleinigkeiten im Alltag den wachsenden Antisemitismus. Er hatte sogar eine Erklärung für ihn: Der Versailler Vertrag habe Deutschland anfällig dafür gemacht, einen Sündenbock zu suchen. Der war mit den Juden gefunden. Schon 1924 hetzte Ottmar Rutz im bayerischen Landtag über "Verdrängungsgesichtspunkte". Jeder Jude nehme einem Deutschen den Arbeitsplatz weg, die Regierung aber sei vordringlich gehalten, ihr Staatsvolk zu schützen.
Alys Band ist mit seinen moderierenden Essays ein Türöffner in die Welt Lichtenstaedters, die man nicht streng nach der Chronologie betreten muss. Vertiefen kann man die Lektüre online - die Bayerische Staatsbibliothek hat alle bislang bekannten Schriften des Autors zugänglich gemacht. Lichtenstaedters Texte sind Schriften zur Zeit, und wenn man ihnen das auch durchaus anmerkt, es bleiben ihre Diagnosestärke und ihre beklemmende Aktualität. Den Mechanismus, wie es den Rechten gelingt, ein "Wir gegen die" zu konstruieren, kennt man aus der politischen Gegenwart nur allzu gut.
1926 veröffentlichte ein gewisser Dr. Mehemed Emin Efendi das Buch "Antisemitica. Heitertes und Ernstes, Wahres und Erdichtetes". Unter Bezugnahme auf einen Artikel der völkischen Zeitschrift "Heimatland", der den türkischen Genozid an den Armeniern als Beispiel für gelungene nationale Wiedergeburt lobt, zieht der Autor - Siegfried Lichtenstaedter - seine Schlüsse, was auf die deutschen Juden zukommen werde: "Die 600 000 Juden des Deutschen Reiches und die 200 000 Juden Deutsch-Österreichs sollen totgeschlagen und ihre Güter den ,Ariern' gegeben werden. Hierzu bedarf es aber einer neuen Ethik. Diese lehrt: Die ,Fremdstämmigen' (= Fremdreligiösen), die im Vaterland leben, darf und soll man totschlagen und berauben." Es sollte nur noch sieben Jahre dauern, bis dieser Prozess in Gang kam.
Gab es keine Gedanken an Flucht, an Exil? 1936 besuchte Lichtenstaedter seine Schwester in Palästina, mit welchen Gefühlen er zurückreiste, wird man nie erfahren. Mag sein, dass er sich tatsächlich zu alt für harte Pionierarbeit fühlte, mag sein, dass er an seine Pension dachte. Noch 1941 gelingt es ihm, ein Buch zu veröffentlichen. Dann wird er Opfer einer Tyrannei, die er hatte kommen sehen. Ein Jahr später, am 6. Dezember 1942, wird er in Theresienstadt ermordet.
HANNES HINTERMEIER
Götz Aly (Hrsg.): "Siegfried Lichtenstaedter - Prophet der Vernichtung". Über Volksgeist und Judenhass.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2019.
283 S., geb., 22,- [Euro].
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