Spricht Barthes von Proust, spricht er meistens von sich selbst. Barthes hat nicht das eine, große Proust-Werk geschrieben, aber sich immer wieder mit seinem Alter Ego auseinandergesetzt. Dieser Band versammelt die wichtigsten Texte von Roland Barthes über Marcel Proust: Zeitschriftenbeiträge, Vorlesungen und Vorlesungsnotizen und eine Auswahl aus Barthes’ fast 3000 hinterlassenen Karteikarten zu Proust. Barthes legt Spuren, öffnet Ausblicke, macht, in der Trauer über den Tod seiner Mutter, Pläne, eine ihrem Andenken gewidmete Recherche, seine eigene »Vita nova«, zu schreiben – was womöglich nur sein früher Tod im März 1980 verhindert hat. Hier erstmals zugänglich gemacht ist ebenfalls die Transkription einer Radiosendung von France Culture aus den 70er Jahren, Spaziergänge mit Roland Barthes auf den Spuren von Marcel Proust in Paris.
»Ich begreife, daß das Werk von Proust, zumindest für mich, das Referenzwerk ist, die allgemeine Mathesis, das Mandala der gesamten literarischen Kosmogonie, wie es die Briefe der Mme de Sévigné für die Großmutter des Erzählers, die Ritterromane für Don Quijote waren.« (Roland Barthes)
Das Dokument einer bedeutenden literarischen Wahlverwandtschaft, ebenso erhellend für das Werk Prousts wie für das von Roland Barthes.
»Ich begreife, daß das Werk von Proust, zumindest für mich, das Referenzwerk ist, die allgemeine Mathesis, das Mandala der gesamten literarischen Kosmogonie, wie es die Briefe der Mme de Sévigné für die Großmutter des Erzählers, die Ritterromane für Don Quijote waren.« (Roland Barthes)
Das Dokument einer bedeutenden literarischen Wahlverwandtschaft, ebenso erhellend für das Werk Prousts wie für das von Roland Barthes.
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Mit viel Mitgefühlt liest der hier rezensierende Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil von der Besessenheit Roland Barthes' mit Proust. Über dreitausend Karteikarten - von denen zweihundert in Band abgedruckt sind - hat der französische Philosoph zu Proust angelegt, Vorlesungen gehalten, lange Radiofeatures gemacht, Aufsätze und Notizen geschrieben. Immer ging es Barthes dabei um das Schreiben, den Akt der Inspiration, erfahren wir. "Proust-Hypnose" nennt Ortheil das, die erst aufgebrochen wurde, als Barthes Mutter starb und ihre Fotografien Barthes auf die Spur der Bedeutung der Fotografie für Proust brachte. Am Ende führte ihn die Beschäftigung mit Proust dazu, selbst einen Roman schreiben zu wollen, erzählt Ortheil. Doch Barthes starb bei einem Unfall, bevor es dazu kam. Ortheil ist dankbar, dass ihm Herausgeber Bernard Comment Barthes Leidenschaft für Proust und das kreative Schaffen, den literarischen Prozess, mit diesem "wunderbaren Buch" erschlossen hat.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.01.2023Schreiben wie er
Das konnte nur Roland Barthes: von sich sprechen, indem er über Marcel Proust und dessen
Romane nachdachte. Und dabei herausfinden, wie man ein neues Leben beginnt
VON LOTHAR MÜLLER
Am 19. Oktober 1978 hielt Roland Barthes am Collège de France in Paris eine Vorlesung über den ersten Satz in Marcel Prousts Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“: „Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen.“ Er sprach über den Proustschen Schlaf, über das Halbwachsein, über das daraus hervorgehende Erzählprinzip der Desorganisation und Auflösung aller Chronologie. Und gab der Frage, was es bedeutet, einen Roman zu beginnen, eine entschieden persönliche Wendung. Seit längerem beschäftigte ihn die Gedankenfigur der aus einer Lebenszäsur hervorgehenden „Vita nova“. Ein solches „neues Leben“ aber könne es für einen Autor nur durch die „Entdeckung einer neuen Schreibpraxis“ geben. Diese neue Schreibpraxis war für Roland Barthes, den Theoretiker der Zeichen und Analytiker der Mythen des modernen Alltags, der Roman. Und Marcel Proust war der Autor, der ihm dabei als Modell vor Augen stand.
Der Autor und Übersetzer Bernard Comment hat Roland Barthes Aufsätze und Notizen zu Marcel Proust in einem Band versammelt. Manches davon ist auch im Deutschen längst bekannt, darunter die Vorlesung über den ersten Satz der „Recherche“ oder die „Forschungsidee“ (1971) zu einer Untersuchung über die rhetorische Figur der Inversion. Neu sind Gelegenheitsarbeiten wie ein unvollendetes Vorwort für eine Proust-Taschenbuchausgabe, die nicht zustande kam, die Materialien zu einer Proust-Vorlesung im marokkanischen Rabat 1970 und die Auswahl von gut 180 der insgesamt fast dreitausend Karteikarten, die Barthes über Jahre hinweg zu Proust anlegte.
Wer dieses Buch liest, um Aufschlussreiches über Marcel Proust und sein Werk zu erfahren, wird nicht enttäuscht. Die Studie „Proust und die Namen“ (1967) liefert eine mustergültige strukturale Analyse, die Auszüge aus der – ebenfalls bereits auf Deutsch vorliegenden – Vorlesung „Die Vorbereitung des Romans“ (1979/80) kreisen mit nahezu detektivischer Energie um die Frage, wie bei Proust das Schreiben des Romans in Gang kam und wie der Schreibprozess verlief. Dem „in Gang Kommen“, das er mit dem „Andicken“ einer Mayonnaise vergleicht, widmet Barthes einen eigenen Essay. Er markiert den Punkt, an dem die Kommentare zu Proust in sein eigenes „Vita nova“-Projekt übergehen. So lässt sich diese Textsammlung als posthumes Seitenstück zu „Roland Barthes par Roland Barthes“ (dt. „Über mich selbst“) lesen. Darin sprach Barthes von sich selbst, ohne Zugeständnisse an die Form der Autobiografie zu machen. Hier spricht er von sich selbst, indem er über das Leben und die „Recherche“ von Marcel Proust spricht.
Das Fundament dieser Identifikation war früh gelegt, im Anschluss an den Philosophen Gilles Deleuze, der 1964 in „Proust und die Zeichen“ die vorherrschende Deutung der „Suche nach der verlorenen Zeit“ als Roman der Erinnerung in Zweifel gezogen hatte. Es handele sich vielmehr um „den Bericht von einer Lehre. Genauer: von der Lehrzeit eines Schriftstellers“. Die Recherche war Deleuze zufolge „auf die Zukunft gerichtet, nicht auf die Vergangenheit.“
In einem bisher unveröffentlichten kurzen Text für die Zeitschrift Fiesta letteraria über die Modernität Prousts schreibt Barthes, „dass der Gegenstand seines Buchs das Buch selbst ist: der Erzähler will schreiben, aber vermag es nicht; als er endlich mit dem Werk beginnt, ist Prousts Buch bereits beendet: das reale Buch war nur das Scheitern des gewünschten Buchs: sich erschöpfend, hat das Fantasma das Buch seiner Erschöpfung hervorgebracht.“ Das klingt verklausuliert, ist aber, langsam gelesen, nichts anderes als die Bekräftigung der These, dass die „Recherche“ vom Schreiben (und Schreibenwollen) handelt. Sie ist die Brücke, die von Proust zu Barthes führt.
Barthes hat sie als Theoretiker der Zeichen beschritten, aber je älter er wird, desto mehr Raum nimmt in seinen Karteikarten, Aufsätzen und Vorlesungen die Akkumulation von biografischem Wissen über Proust ein. Als er 1966 den ersten Band der französischen Ausgabe von George D. Painters Proust-Biografie rezensierte, war die Sache noch klar, erschienen Werk und Leben als Parallelen, die sich nicht schneiden. „Liest man das Werk Painters, so entdeckt man nicht den Ursprung der Recherche, sondern liest ein Doppel des Romans, so als hätte Proust dasselbe Werk zweimal geschrieben: in seinem Buch und in seinem Leben.“
Der strukturalistisch inspirierte Zeichentheoretiker Barthes musste gegen den Biografismus, gegen die Rückführung der Romanfiguren auf das Personal der Salons, in denen Proust verkehrte, opponieren. Sein eigenes Interesse an der Biografie Prousts war damit aber nicht erledigt. In „Über mich selbst“ ließ er ihn am Horizont der eigenen Biografie auftauchen, die am 12. November 1915 begann: „Ich lernte laufen, Proust lebte noch und beendete die Recherche.“ In diesem Satz wird das Näheprojekt greifbar, das Barthes verfolgte. Proust war für ihn nicht „Geschichte“, sondern gegenüber seiner selbst.
Die biografische Obsession, die so entstand, prägt die hier erstmals publizierte Transkription des dreiteiligen Radiofeatures „Ein Mensch, eine Stadt“. Gemeinsam mit dem Produzenten Jean Montalbetti besucht Roland Barthes für France Culture die Orte in Paris, an denen Proust gewohnt hat, fährt nach Illiers, wo man das „Haus von Tante Léonie“ besichtigen kann, streift im dritten Teil durch die Parks und Gärten von Paris.
Überraschend ist nicht, dass man ihm die Rolle des Experten für die Biografie Prousts zugedacht hat. Überraschend ist, wie perfekt er sie erfüllt, wie nah er den Lastern des Biografismus kommt: „Jetzt gehen wir innerhalb des Gartens vielleicht entlang jener Hecke, durch die hindurch der Erzähler zum ersten Mal Gilberte erblickt.“
Irgendwann bemerkt Barthes im Dialog mit Montalbetti: „Ich glaube, es gibt einen Moment, wo man keine Lust mehr hat, über Proust zu schreiben, sondern Lust bekommt, wie Proust zu schreiben.“ Damit ist er bei sich selbst angekommen. Im Herbst 1978 wurden die Sendungen auf France Culture ausgestrahlt, am Ende des Jahres ließ er bei einem Fotografen Reproduktionen alter, verblichener Fotografien seiner Mutter anfertigen, die am 25. Oktober 1977 gestorben war. Keine dieser Fotografien zeigte er in seinem letzten zu Lebzeiten erschienenen Buch „Die Helle Kammer. Bemerkung zur Photographie“ (1980). Aber er beschrieb sie im zweiten Teil des Buches, der um die Erinnerung an die Mutter zentriert ist und das Projekt der Nähe zu Proust fortführt. Es hatte inzwischen zu einem eigentümlichen biografischen Parallelogramm geführt. Der Tod der Mutter von Proust im Jahr 1905, seine wenige Jahre später beginnende Arbeit am großen Roman stehen darin auf der einen Seite. Auf der anderen Seite stehen der Tod der Mutter von Roland Barthes, seine Erschütterung durch Prousts Schilderung des Todes der Großmutter im Roman und das Projekt der „Vita Nova“, der eigene Aufbruch zum Roman.
Die Barthes-Seite des Parallelogramms blieb Fragment. Barthes hat kein Buch über Proust geschrieben, was er zu Lebzeiten über ihn publizierte, füllt kaum fünfzig Druckseiten. Doch zeitlebens nahm die Proust-Lektüre, die er im Alter von siebzehn Jahren begonnen hatte, großen Raum in seinem Leben ein. Es war eine vorbildlich unfromme Lektüre, die immer unvollständig blieb, Abbrüche kannte und Abstoßungen, Ablehnungen ganzer Bände und Wiedergewinnungen. Seine Vorlesungen, Karteikarten und Aufsätze der letzten Lebensjahre bezeugen seinen Versuch, die Asymmetrie zwischen dem Proust-Lesen und dem Schreiben über Proust zu verringern. Am Nachmittag des 25. Februar 1980, einem Montag, wurde Roland Barthes in der Rue des Écoles von einem Lieferwagen erfasst, am 25. März 1980 erlag er im Krankenhaus Pitié-Salpêtrière seinen Verletzungen. Der Tod beendete das Projekt, „wie Proust zu schreiben“, im Anfangsstadium.
Das „in Gang Kommen“ des
Schreibens verglich er mit dem
„Andicken“ einer Mayonnaise
Überraschend, wie nah er
als Experte den Lastern des
Biografismus kommt
„Das reale Buch war nur das Scheitern des gewünschten Buchs“, schrieb Roland Barthes über das Hauptwerk Marcel Prousts, hier im Bild.
Foto: Alamy Stock/mauritius
Roland Barthes: Proust. Aufsätze und Notizen. Herausgegeben von Bernard Comment.Aus dem Französischen von Horts Brühmann und Bernd Schwibs. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 344 Seiten, 28 Euro.
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Das konnte nur Roland Barthes: von sich sprechen, indem er über Marcel Proust und dessen
Romane nachdachte. Und dabei herausfinden, wie man ein neues Leben beginnt
VON LOTHAR MÜLLER
Am 19. Oktober 1978 hielt Roland Barthes am Collège de France in Paris eine Vorlesung über den ersten Satz in Marcel Prousts Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“: „Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen.“ Er sprach über den Proustschen Schlaf, über das Halbwachsein, über das daraus hervorgehende Erzählprinzip der Desorganisation und Auflösung aller Chronologie. Und gab der Frage, was es bedeutet, einen Roman zu beginnen, eine entschieden persönliche Wendung. Seit längerem beschäftigte ihn die Gedankenfigur der aus einer Lebenszäsur hervorgehenden „Vita nova“. Ein solches „neues Leben“ aber könne es für einen Autor nur durch die „Entdeckung einer neuen Schreibpraxis“ geben. Diese neue Schreibpraxis war für Roland Barthes, den Theoretiker der Zeichen und Analytiker der Mythen des modernen Alltags, der Roman. Und Marcel Proust war der Autor, der ihm dabei als Modell vor Augen stand.
Der Autor und Übersetzer Bernard Comment hat Roland Barthes Aufsätze und Notizen zu Marcel Proust in einem Band versammelt. Manches davon ist auch im Deutschen längst bekannt, darunter die Vorlesung über den ersten Satz der „Recherche“ oder die „Forschungsidee“ (1971) zu einer Untersuchung über die rhetorische Figur der Inversion. Neu sind Gelegenheitsarbeiten wie ein unvollendetes Vorwort für eine Proust-Taschenbuchausgabe, die nicht zustande kam, die Materialien zu einer Proust-Vorlesung im marokkanischen Rabat 1970 und die Auswahl von gut 180 der insgesamt fast dreitausend Karteikarten, die Barthes über Jahre hinweg zu Proust anlegte.
Wer dieses Buch liest, um Aufschlussreiches über Marcel Proust und sein Werk zu erfahren, wird nicht enttäuscht. Die Studie „Proust und die Namen“ (1967) liefert eine mustergültige strukturale Analyse, die Auszüge aus der – ebenfalls bereits auf Deutsch vorliegenden – Vorlesung „Die Vorbereitung des Romans“ (1979/80) kreisen mit nahezu detektivischer Energie um die Frage, wie bei Proust das Schreiben des Romans in Gang kam und wie der Schreibprozess verlief. Dem „in Gang Kommen“, das er mit dem „Andicken“ einer Mayonnaise vergleicht, widmet Barthes einen eigenen Essay. Er markiert den Punkt, an dem die Kommentare zu Proust in sein eigenes „Vita nova“-Projekt übergehen. So lässt sich diese Textsammlung als posthumes Seitenstück zu „Roland Barthes par Roland Barthes“ (dt. „Über mich selbst“) lesen. Darin sprach Barthes von sich selbst, ohne Zugeständnisse an die Form der Autobiografie zu machen. Hier spricht er von sich selbst, indem er über das Leben und die „Recherche“ von Marcel Proust spricht.
Das Fundament dieser Identifikation war früh gelegt, im Anschluss an den Philosophen Gilles Deleuze, der 1964 in „Proust und die Zeichen“ die vorherrschende Deutung der „Suche nach der verlorenen Zeit“ als Roman der Erinnerung in Zweifel gezogen hatte. Es handele sich vielmehr um „den Bericht von einer Lehre. Genauer: von der Lehrzeit eines Schriftstellers“. Die Recherche war Deleuze zufolge „auf die Zukunft gerichtet, nicht auf die Vergangenheit.“
In einem bisher unveröffentlichten kurzen Text für die Zeitschrift Fiesta letteraria über die Modernität Prousts schreibt Barthes, „dass der Gegenstand seines Buchs das Buch selbst ist: der Erzähler will schreiben, aber vermag es nicht; als er endlich mit dem Werk beginnt, ist Prousts Buch bereits beendet: das reale Buch war nur das Scheitern des gewünschten Buchs: sich erschöpfend, hat das Fantasma das Buch seiner Erschöpfung hervorgebracht.“ Das klingt verklausuliert, ist aber, langsam gelesen, nichts anderes als die Bekräftigung der These, dass die „Recherche“ vom Schreiben (und Schreibenwollen) handelt. Sie ist die Brücke, die von Proust zu Barthes führt.
Barthes hat sie als Theoretiker der Zeichen beschritten, aber je älter er wird, desto mehr Raum nimmt in seinen Karteikarten, Aufsätzen und Vorlesungen die Akkumulation von biografischem Wissen über Proust ein. Als er 1966 den ersten Band der französischen Ausgabe von George D. Painters Proust-Biografie rezensierte, war die Sache noch klar, erschienen Werk und Leben als Parallelen, die sich nicht schneiden. „Liest man das Werk Painters, so entdeckt man nicht den Ursprung der Recherche, sondern liest ein Doppel des Romans, so als hätte Proust dasselbe Werk zweimal geschrieben: in seinem Buch und in seinem Leben.“
Der strukturalistisch inspirierte Zeichentheoretiker Barthes musste gegen den Biografismus, gegen die Rückführung der Romanfiguren auf das Personal der Salons, in denen Proust verkehrte, opponieren. Sein eigenes Interesse an der Biografie Prousts war damit aber nicht erledigt. In „Über mich selbst“ ließ er ihn am Horizont der eigenen Biografie auftauchen, die am 12. November 1915 begann: „Ich lernte laufen, Proust lebte noch und beendete die Recherche.“ In diesem Satz wird das Näheprojekt greifbar, das Barthes verfolgte. Proust war für ihn nicht „Geschichte“, sondern gegenüber seiner selbst.
Die biografische Obsession, die so entstand, prägt die hier erstmals publizierte Transkription des dreiteiligen Radiofeatures „Ein Mensch, eine Stadt“. Gemeinsam mit dem Produzenten Jean Montalbetti besucht Roland Barthes für France Culture die Orte in Paris, an denen Proust gewohnt hat, fährt nach Illiers, wo man das „Haus von Tante Léonie“ besichtigen kann, streift im dritten Teil durch die Parks und Gärten von Paris.
Überraschend ist nicht, dass man ihm die Rolle des Experten für die Biografie Prousts zugedacht hat. Überraschend ist, wie perfekt er sie erfüllt, wie nah er den Lastern des Biografismus kommt: „Jetzt gehen wir innerhalb des Gartens vielleicht entlang jener Hecke, durch die hindurch der Erzähler zum ersten Mal Gilberte erblickt.“
Irgendwann bemerkt Barthes im Dialog mit Montalbetti: „Ich glaube, es gibt einen Moment, wo man keine Lust mehr hat, über Proust zu schreiben, sondern Lust bekommt, wie Proust zu schreiben.“ Damit ist er bei sich selbst angekommen. Im Herbst 1978 wurden die Sendungen auf France Culture ausgestrahlt, am Ende des Jahres ließ er bei einem Fotografen Reproduktionen alter, verblichener Fotografien seiner Mutter anfertigen, die am 25. Oktober 1977 gestorben war. Keine dieser Fotografien zeigte er in seinem letzten zu Lebzeiten erschienenen Buch „Die Helle Kammer. Bemerkung zur Photographie“ (1980). Aber er beschrieb sie im zweiten Teil des Buches, der um die Erinnerung an die Mutter zentriert ist und das Projekt der Nähe zu Proust fortführt. Es hatte inzwischen zu einem eigentümlichen biografischen Parallelogramm geführt. Der Tod der Mutter von Proust im Jahr 1905, seine wenige Jahre später beginnende Arbeit am großen Roman stehen darin auf der einen Seite. Auf der anderen Seite stehen der Tod der Mutter von Roland Barthes, seine Erschütterung durch Prousts Schilderung des Todes der Großmutter im Roman und das Projekt der „Vita Nova“, der eigene Aufbruch zum Roman.
Die Barthes-Seite des Parallelogramms blieb Fragment. Barthes hat kein Buch über Proust geschrieben, was er zu Lebzeiten über ihn publizierte, füllt kaum fünfzig Druckseiten. Doch zeitlebens nahm die Proust-Lektüre, die er im Alter von siebzehn Jahren begonnen hatte, großen Raum in seinem Leben ein. Es war eine vorbildlich unfromme Lektüre, die immer unvollständig blieb, Abbrüche kannte und Abstoßungen, Ablehnungen ganzer Bände und Wiedergewinnungen. Seine Vorlesungen, Karteikarten und Aufsätze der letzten Lebensjahre bezeugen seinen Versuch, die Asymmetrie zwischen dem Proust-Lesen und dem Schreiben über Proust zu verringern. Am Nachmittag des 25. Februar 1980, einem Montag, wurde Roland Barthes in der Rue des Écoles von einem Lieferwagen erfasst, am 25. März 1980 erlag er im Krankenhaus Pitié-Salpêtrière seinen Verletzungen. Der Tod beendete das Projekt, „wie Proust zu schreiben“, im Anfangsstadium.
Das „in Gang Kommen“ des
Schreibens verglich er mit dem
„Andicken“ einer Mayonnaise
Überraschend, wie nah er
als Experte den Lastern des
Biografismus kommt
„Das reale Buch war nur das Scheitern des gewünschten Buchs“, schrieb Roland Barthes über das Hauptwerk Marcel Prousts, hier im Bild.
Foto: Alamy Stock/mauritius
Roland Barthes: Proust. Aufsätze und Notizen. Herausgegeben von Bernard Comment.Aus dem Französischen von Horts Brühmann und Bernd Schwibs. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 344 Seiten, 28 Euro.
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»Sein Pathos konnte man als Hörer seiner Vorlesungen sehr gut spüren. Als Leser seiner Schriften kann man es bis heute erfahren. ... [Seine Stimme] hat er auch in diese jetzt erschienenen Aufsätze und Notizen über Proust übertragen. Sie vermitteln wahrlich ein Gefühl, das unter die Haut geht.« Ruthard Stäblein taz. die tageszeitung 20221125