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Der Weltgeist weilt im Silicon Valley: Hans Ulrich Gumbrecht gibt Auskunft über die Provinz und das eigene Leben
Es beginnt mit der Enge des Tals und endet mit der Apotheose des nordkalifornischen Lichts. "Ohne großen Lokalpatriotismus aufgewachsen, habe ich fast das ganze Leben in Provinzstädten verbracht, mit den üblichen Einbrüchen von Sehnsucht nach einer Metropole", schreibt Hans Ulrich Gumbrecht, der bis 2018 Komparatistik an der Stanford University lehrte. Schon sein 2012 erschienenes Buch "Nach 1945" ließ sich als eine Art Autobiographie lesen, die zugleich Skizze einer Mentalitätsgeschichte der frühen Bundesrepublik aus der Sicht der Nachkriegsgeneration war.
Jetzt hat Gumbrecht ein Buch vorgelegt, das über weite Strecken wie die Fortsetzung und Vertiefung dieser Skizze wirkt. Davon zeugt etwa die Schilderung des Erdkundelehrers (wir befinden uns an einem Würzburger Gymnasium), der sich in dunklen Andeutungen über "das Kultusministerium und die Sieger" und deren verordnete Geschichtsauffassung ergeht, was Gumbrecht wie folgt kommentiert: ". . . mit dem Nachhall von Treue zum Nationalsozialismus war unsere Generation noch allemal konfrontiert." Das Gegenbild ist der Französischlehrer, dem es "um das verkörperte Dasein der anderen Alltagskultur" ging und der von so manchen Schülern bewundert wurde, "weil er die Enge des Tals zerbrach - so dass ihn niemand ersetzen konnte, als er auf einer Busreise nach Dijon den plötzlichen Herztod starb".
"Provinz" ist der Titel von Gumbrechts Essay, der Begriff "Provinz" ist dabei doppelt zu verstehen, zum einen meint er Orte der Dumpfheit und Enge, zum anderen Orte kultureller und intellektueller Verdichtung. Ohne den Gegenpol einer Metropole gibt es keine Provinz, denn es braucht die Hauptstadt, damit in angemessener geographischer Nähe die Möglichkeit "der Entfaltung, ja der Explosion von Intelligenz" bestehen kann. Oxbridge, Salamanca, Bologna/Padua, Coimbra, Lund und Aarhus sind die Beispiele, die Gumbrecht anführt. Ein deutsches Äquivalent zu diesen Orten gebe es nicht, "sondern nur eine offene Reihe von Universitätsstädten ohne Muster der räumlichen Verteilung".
Es fallen die Namen Göttingen, Marburg, Heidelberg, Tübingen, nach 1960 Bielefeld, Konstanz, Bochum, auch Siegen: Stationen auf dem Weg des Wissenschaftlers Gumbrecht. Dass bei ihnen der Gegensatz zur Hauptstadt keine prägende Rolle spielt, liegt unter anderem daran, dass diese deutsche Hauptstadt ihre Funktion nur mit einer Unterbrechung von immerhin viereinhalb Jahrzehnten wahrnehmen konnte und Berlin heute, wie Gumbrecht formuliert, "unbeirrt, unnachgiebig und beflissen weiter auf die Inszenierung seiner Vergangenheit setzt".
Die Musealisierung der klassischen Metropolen betrifft allerdings nicht Berlin allein, sondern auch Städte wie Paris, Rom oder Madrid. Sie hängt zusammen mit einem neuen Typus der "Riesenstadt außerhalb Europas, welche die Metropolen des literarischen Realismus zu Museen gemacht hat". Für die Riesenstadt "gibt es keine Provinz als Gegenüber oder Ergänzung, kein markantes Anderes und vor allem kein Ende", heißt es mit Blick auf São Paulo.
Weil die elektronische Kommunikation uns jederzeit "allgegenwärtig" macht, verliere der Raum seine konkrete Bedeutung und werde "aus unserem Leben eliminiert". Deshalb führt Gumbrecht seine Leser im letzten Kapitel in die "suburbane Erlösung: Silicon Valley" und stellt im Anschluss an Hegel die Frage, an welchem Ort sich gegenwärtig der Weltgeist wohl aufhalte. Die Antwort liefert er gleich selbst: "Hegel . . . würde auf Silicon Valley und seine Programmierer setzen."
Am Ende stellt sich Gumbrecht die Frage, warum die Vor- und Nachdenker einer Technologie, die die Bedeutung des Raums "drastisch herabsetzt", im Silicon Valley bleiben, obwohl die Arbeit für Google oder Facebook überall auf der Welt geleistet werden könnte. Er zählt einige mögliche Erklärungen auf, von der Nähe des Pazifiks bis zu gastronomischer Spitzenklasse. "Was aber den Unterschied ausmacht, von dem die Kraft der Aufmerksamkeit und des Denkens kommt, weiß ich schon seit dem ersten nordkalifornischen Tag meines Lebens im Frühjahr 1980. Es ist das Licht."
Gumbrechts Essay ist im Grunde eine Autobiographie, die gleichwohl viel mehr enthält als Informationen zum Werdegang des Autors: eine Betrachtung des europäischen Romans zwischen 1830 und 1900 mit Blick auf das Bild, welches er von der Provinz zeichnet, eine Hommage an das Ruhrgebiet, eine amüsante Charakteristik des sogenannten "Rollkoffer-Berliners", eine Analyse von Spitzweg als dem idyllischen Lieblingsmaler der Deutschen, eine Apologie Heideggers als großem Denker. Der Essay endet nicht mit dem kalifornischen Licht, sondern mit der beiläufigen Äußerung eines Stanford-Kollegen - "I think we peaked" - und der sich daran anschließenden Frage, was nach der suburbanen Erlösung noch kommen könnte. Antwort offen. JOCHEN SCHIMMANG
Hans Ulrich Gumbrecht: "Provinz".
Von Orten des Denkens und der Leidenschaft.
Zu Klampen Verlag, Springe 2021. 224 S., geb., 22,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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