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Andrew Abbott, einer der wichtigsten Sozialtheoretiker der Gegenwart, unterzieht Texte von Karl Marx und Max Weber einer kritischen Re-Lektüre - mit überraschenden Einsichten. Marx sieht die Gegenwart, so Abbotts Lesart, nur durch Kräfte der Vergangenheit bestimmt. Wollen wir die Gegenwart verstehen, brauchen wir jedoch beides. Vergangenes und Zukünftiges ist im konkreten Handeln miteinander verwoben. Weber hingegen begreife Wissenschaft als vergangenheitsorientiert und Politik als zukunftsbezogen, trenne beides jedoch zu sehr voneinander. Abbott spricht dagegen von "dichten Gegenwarten", in…mehr

Produktbeschreibung
Andrew Abbott, einer der wichtigsten Sozialtheoretiker der Gegenwart, unterzieht Texte von Karl Marx und Max Weber einer kritischen Re-Lektüre - mit überraschenden Einsichten. Marx sieht die Gegenwart, so Abbotts Lesart, nur durch Kräfte der Vergangenheit bestimmt. Wollen wir die Gegenwart verstehen, brauchen wir jedoch beides. Vergangenes und Zukünftiges ist im konkreten Handeln miteinander verwoben. Weber hingegen begreife Wissenschaft als vergangenheitsorientiert und Politik als zukunftsbezogen, trenne beides jedoch zu sehr voneinander. Abbott spricht dagegen von "dichten Gegenwarten", in denen sich Vergangenheiten und Zukunftsentwürfe verknüpfen. Sie können gleichsam historisch erklärt werden (Wissenschaft) und bilden die Basis für schöpferische Gestaltungen (Politik). Die viel gerühmte und ebenso umstrittene Werturteilsfreiheit der Sozialwissenschaften ist in dieser Perspektive ein Mythos.

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Autorenporträt
Andrew Abbott ist Gustavus F. and Ann M. Swift Distinguished Service Professor im Department of Sociology an der University of Chicago. Er ist Editor des American Journal of Sociology und forscht vor allem zu den Methoden des (sozialwissenschaftlichen) Entdeckens, zu Heuristiken, zur Zukunft des Wissens sowie zur Wissens- und Sozialtheorie.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.03.2020

Dicht aber sei die Gegenwart
Der Prozess ist ihm alles: Der amerikanische Sozialtheoretiker Andrew Abbott feilt an seinen Leitideen

Andrew Abbott ist ein origineller Kopf. Einen Eindruck davon vermittelt seine kleine Schrift zum prozessualen Denken, dem Lieblingsthema des Chicagoer Sozialtheoretikers in jüngster Zeit. Zuvor hat er sich als Berufs- und Wissenssoziologe einen Namen gemacht, Geistreiches über eine Soziologie des Überflusses als Gegenstück zu einer Ökonomie der Knappheit oder eine Handreichung zu Lesestudien zwischen Bibliothek und Internet formuliert. In den Spalten dieser Zeitung wurde er als "einer der klügsten Sozialwissenschaftler der Gegenwart" bezeichnet.

Nun präsentiert das Hamburger Institut für Sozialforschung in seinem Hausverlag zwei Vorträge, die Abbott 2018 in Berlin und Göttingen hielt. Das mag schon der Struktur nach wie eine Hommage an Max Webers Redenpaar über "Wissenschaft als Beruf" und "Politik als Beruf" erscheinen, mit dem Abbott sich im zweiten seiner Texte auseinanderzusetzen verspricht. Am Beginn steht allerdings mit Karl Marx ein anderer Halbgott der Ideengeschichte. Der Untertitel "Reflexionen über Marx und Weber" ist dabei eine Mogelpackung. Das weiß Abbott selbst, der gesteht, weder Experte in dem einen noch dem anderen Falle zu sein.

Wer eine textgestützte Neuinterpretation von Marxschen Thesen erwartet, wird denn auch enttäuscht. Marx dient Abbott lediglich als eine emblematische, wenn nicht schematische Figur, um seiner Kritik am vergangenheitsgebundenen Historizismus Gesicht und Namen zu geben. Vergleichbares gilt für Alfred Marshall, einen der Urväter der modernen Wirtschaftswissenschaft, um sich an den zukunftsfixierten Denkweisen der Ökonomik abzuarbeiten. Gleichsam am ideenhistorischen Katzentisch sitzen noch Karl Popper, Leo Strauss und Thomas Hobbes.

Abbott bezweifelt sowohl einen dialektisch-materialistischen Determinismus durch die Vergangenheit à la Marx als auch eine durch adäquate Wahlhandlungen forcierte Antizipation der Zukunft à la Marshall. Im Mittelpunkt seines Prozessualismus steht die Dimension einer Zeit oder Temporalität, die ganz in der Gegenwart aufgeht. Dabei lehnt Abbott weder eine Historizität ohne Kontinuitätszwang noch die Möglichkeit zur Zukunftsgestaltung ab. Das zeigt auch seine Sicht auf Webers "Berufe", die er in seiner Gegenwartsschmelze vereint, um aus ihnen das Plädoyer für eine notwendigerweise stets gleich empirische wie normative Gesellschaftsdeutung und -gestaltung zu formen. Von Webers Postulat der Werturteilsfreiheit aus dem Jahr 1917 bleibt nicht viel übrig, meint Abbott, sobald es mit den Vorstellungen politischer Schöpfungskraft vom Januar 1919 in einer turbulenten Gegenwart aus Weltkriegsende und Revolution amalgamiert werde.

Die Kodierung von Traditionen wie Träumen finde stets in Gegenwarten variierender Dichte statt, die durch Ereignisketten und "flows" unterschiedlicher Reichweite oder "Lokalität" gekennzeichnet seien. Sympathisch ist, wie Abbott Mikro-Makro-Verhältnisse in Frage stellt, das Individuum und konkretes Handeln gegenüber - vermeintlich - festen sozialen Strukturen und mächtigen abstrakten Kräften wie Ordnungen aufwertet. Dieses soziale Denken eines Panta rhei wirkt so fluide, dass es ohne prozessualistisches Schwimmabzeichen höchst wagemutig erscheint, tiefer darin einzutauchen. Es droht die Gefahr, im Strudel einer neuen Weltformel zu versinken, der gelegentlich nicht einmal ihr Autor selbst Herr zu werden scheint.

Der mag in solch milde formulierter Skepsis vielleicht nicht viel mehr als den einigermaßen gedankenarmen Wunsch nach Stringenz und das Resultat einer allzu narrativen Leseweise erkennen, vor der er schon vor Jahren eindringlich warnte. Was die Weiterentwicklung des prozessualen Denkens betrifft, so ist es in jedem Fall voraussetzungsreich und dürfte klassisch geschulte Geistes- und Sozialwissenschaftler, die sich nach wie vor auf ihren Weber oder Marx als impulsgebendes Bildungserlebnis freuen dürften, überfordern. Ungeachtet so mancher Seitenhiebe auf eine in Big Data und Algorithmen verliebte Forschung schwebt Abbott eine "neue Generation von Wissenschaftlern vor, die gleichzeitig materielle und rechentechnische Expertinnen" sein sollten. Ihnen werde die Ausarbeitung des "prozessualen Paradigmas" obliegen. Falsche Bescheidenheit ist des Autors Sache also nicht, er erwartet von seinem Gedankenanstoß so etwas wie die Fortschreibung der "Matrix"-Filmtrilogie im soziologischen Raum.

Der unkonventionelle Charakter und Thesen, von denen man nicht weiß, ob man sie ernst nehmen oder belächeln soll, faszinieren irgendwie an Abbotts Traktat. Freihändig balanciert er über das selbstgesponnene Ideennetz hinweg und kümmert sich nicht viel um spezifische Konstellationen und Quellenbelege, die gerade Historiker lieben, sosehr ihnen Theorien mittlerweile ebenfalls ans Herz gewachsen sind. Für die Geschichtswissenschaft erscheint Abbotts Schrift, die nach einer Versöhnung von Vergangenheit und Zukunft in einer "dichten Gegenwart" trachtet, daher kaum anschlussfähig. Von der politischen Theorie bleibt seine gesellschaftstheoretische Skizze ebenfalls weit entfernt, weil sie Begriffe wie Macht, Staat oder Gewalt komplett ausblendet. All diese interdisziplinären Anknüpfungspunkte bot dagegen der von Abbott vollständig ignorierte Norbert Elias mit seiner Prozesssoziologie. Ihr nachzueifern wäre freilich nicht originell, und eigensinnig bleibt Andrew Abbott. Das muss man ihm zugutehalten.

ALEXANDER GALLUS.

Andrew Abbott: "Prozessuales Denken". Reflexionen über Marx und Weber.

Aus dem Englischen von Michael Adrian. Hamburger Edition, Hamburg 2019. 112 S., geb., 18,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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