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Ein Roman von 1962, der genau im richtigen Augenblick erstmals auf Deutsch erscheint: "Psalm 44" von Danilo Kis
In Danilo Kis' Frühwerk "Psalm 44" aus dem Jahr 1962, das nun erstmals in deutscher Übersetzung vorliegt, wird die Geschichte der Jüdin Maria erzählt, die 1944 mit ihrem gerade einmal sieben Wochen alten Sohn Jan die Flucht aus dem Lager Birkenau wagt, um Jakob, den Vater des Kindes, zu finden. Die Geschichte dieser Flucht wird immer wieder von Rückblenden durchbrochen und fügt sich gerade deshalb bruchstückhaft wie ein großes Gedächtnisgemälde zusammen, das der Verfasser selbst wohl am ehesten mit einem Palimpsest in Beziehung gebracht hätte. Hier schon wird Kis' literarische Methode sichtbar, die in seinen späteren Arbeiten ihre singuläre Strahlkraft gefunden hat, aber bereits in "Psalm 44" kraftvoll auf sich aufmerksam macht.
1935 kam der Schriftsteller in Subotica zur Welt, einer mehrsprachigen Stadt in der von vielen Völkern und Religionen geprägten Vojvodina. Paris, das ihm 1989 zum Sterbeort wurde und zuvor unfreiwilliger Zufluchtsort war, scheint keinem psychologisch belanglosen Zufall geschuldet zu sein, denn hierhin rettete Kis sich vor den diffamierenden Angriffen nationalistischer wie antisemitischer Kleingeister aller Couleur, denen er, ein autonomer Mensch mit eigener Denkfarbe, der die beiden menschenverachtenden Lagersysteme des zwanzigsten Jahrhunderts als einer der ersten europäischen Intellektuellen zugleich im Blick hatte, stets als Provokation erschienen war. "Sobald eine Gemeinschaft dich annimmt, stelle dich in Frage", hatte er einmal geschrieben und damit seinen geistigen Lebensort jenseits aller Sicherheiten als unabhängig denkender Solitär benannt. Es passt zu seiner Originalität, dass am Anfang seines Schreibens eine Frau als Erzählerin steht, die Überlebende, Zeugin und Erinnernde in einem ist.
Nicht zufällig wählt Kis hierfür in seinem bewegenden Kurzroman "Psalm 44" Maria als das alles Verbindende, was die Gewalt seines Jahrhunderts zu trennen versucht hat. Die Mutter eines Kleinkindes ist Hüterin des Gedächtnisses. Sie, die Jüdin ist, weil andere sie zu dieser Anderen machen, erinnert sich auf der Flucht an eine Begebenheit aus ihrer Kindheit mit einem Mädchen, das ihr brüsk zu verstehen gab, alle Juden seien an der Kreuzigung Christi beteiligt gewesen, denn ein jeder hätte "wenigstens einen Nagel gereicht". Das Erlebnis dieser Urszene christlicher Schuldphantasie, die den Antisemitismus über die Zeiten hinweg genährt hat, rüttelt Maria auf, aber anders als die dabei anwesende Mutter will das Kind darüber zu Hause alles dem Vater erzählen, es will sprechen.
Später, als diese Erinnerung Teil ihres Befreiungsversuchs aus dem Lager wird und die Flucht zu gelingen scheint, trifft sie auf einem Hof eine Frau, die sie bei sich aufnimmt und bei ihr arbeiten lässt. Bei dieser ersten Begegnung lamentiert die Hofbesitzerin lautstark über die schlechten Zeiten, an denen die Juden schuld seien, sie hätten alles kaputtgemacht, und ihr Mann habe immer gesagt, sie seien auch verantwortlich für den Krieg. Prompt sagt Maria, ja, jeder von denen habe wenigstens einen Nagel gereicht, woraufhin sie von der Frau für eine Protestantin gehalten wird. Diese plötzliche Eingebung, jenen Satz aus ihrer Kindheit zu wiederholen, rettet Maria endgültig das Leben; sie darf auf dem Hof bleiben, weil sie als Jüdin intuitiv versteht, dass ihr nur so ein neuer Anfang möglich ist.
Kis selbst hat sich über sein Frühwerk kritisch geäußert und es zeitweise als zu lyrisch verworfen, es habe ihm an der Würze namens Ironie gefehlt. Er, der Sohn einer montenegrinischen Christin und eines ungarischen Juden, der in Auschwitz ums Leben kam, hat das Thema der Schoa nie wieder auf eine so ungeschützte Weise wie hier aufgegriffen. Doch zeitlebens hat er das zu gestalten versucht, was er Marias Vater, einem Trinker, in den Mund gelegt hat, als er diesen über das Massaker von Novi Sad sprechen und also an jene "kalten Tage" erinnern ließ, an denen dort Juden massenweise ins Eis der Donau gestoßen oder reihenweise am Ufer erschossen wurden. Dieser Vater kann immer noch sagen, dass sein Gott "nur eine Inkarnation der Gerechtigkeit und Menschenliebe und Güte ist; und der Hoffnung". Vielleicht kann er deshalb seiner Tochter etwas Entscheidendes beibringen, das leider bis heute Gültigkeit hat. Nicht der zum "Anderen", also zum Fremden Gemachte sorgt für den Unterschied zwischen den Menschen, sondern der, der den Unterschied benennt: "und das genügt schon, dass du Leid erfährst".
Ohne es selbst vielleicht in dieser Tragweite schon 1962 gesehen zu haben, hat Kis nicht nur ein Werk über das Leiden der Juden unter nationalsozialistischer Verfolgung und die Lager der Nazis geschrieben, sondern auch eine Art europäischen Rückkehrer-Mythos verfasst. Denn alle, die überlebt haben und wie Maria mit ihrem kleinen Kind zu den Tätern zurückgekehrt sind, haben das bewiesen, was Hannah Arendt einst mit dem Anfang und dem Geborensein in Verbindung gebracht hat: "Wir können etwas beginnen, weil wir Anfänge und Anfänger sind." Dieses Neue haben die europäischen Juden in einem pionierhaften Anfang nach dem Zweiten Weltkrieg gewagt, und Kis war ihr literarischer Zeuge erster Stunde.
Der Hass sei ein Atavismus der Horde, die menschliche Intoleranz gehe allen ethnischen, rassistischen und nationalen Entitäten voraus, so heißt es einmal in "Psalm 44". Dieses Momentum der Intoleranz ist es, das Kis in seinem Schreiben nie aus den Augen verloren hat. Sein melodisches und tiefgründig klares, fast tänzerisches Serbokroatisch (es ist ganz wunderbar, dass der Verlag diese Ursprungssprache so benannt hat) wurde von der Übersetzerin Katharina Wolf-Grieshaber in ein musikalisches und genaues Deutsch übertragen, das nicht nur rhythmisch, sondern auch geistig das Original würdigt, eine Arbeit, die kostbar und beeindruckend ist. Vielleicht mussten all diese Jahrzehnte vorbeigehen, damit dieses Buch, mit seinen großen Ambitionen, gerade jetzt dem deutschen Leser zugänglich ist, in einer Epoche, in der die menschliche Intoleranz, wie Kis sie hier beschrieben hat, wieder versucht, die Wurzeln der Schönheit und also die menschliche Ganzheit vergessen zu machen. Nur die Verletzlichen können von der Härte dieses Unterfangens berichten. Nur die Verletzlichen haben ein Gedächtnis. Die Intoleranten hingegen arbeiten daran, die Erinnerung abzuschaffen.
MARICA BODROZIC
Danilo Kis: "Psalm 44". Roman.
Aus dem Serbokroatischen von Katharina Wolf-Grieshaber. Hanser Verlag, München 2019. 135 S., geb., 20,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
"Seine Erzählhaltung ist getragen von schriftstellerischer Furchtlosigkeit und moralischem Empfinden gegenüber der Sprache und gegenüber dem Menschen - ungeachtet seiner Nationalität oder gesellschaftlichen Stellung." Carsten Hueck, Deutschlandfunk Kultur, 26.10.19
"Es sind messerscharfe Analysen ..., die 'Psalm 44' heute zu einem erschreckend aktuellen Buch machen." Bernd Noack, Bayern 2 Diwan, 29.09.19
"Danilo Kis schreibt unpathetisch, schreibt sehr einfach; aber nervös flackern die Worte, zucken die langen Sätze wie die Nerven in einem Körper, der die Macht menschlicher Niedertracht in jeder Faser spürt, sie aber nicht begreift, einfach nichts begreift." Alexander Solloch, NDR Kultur, 08.11.19
"Empathisch war Kis immer, ironisch wurde er erst später, derart realistisch wie in 'Psalm 44' war er danach nie mehr." Peter Pisa, Kurier, 07.12.19