Vor 50 Jahren wurde in Deutschland eine Psychiatriereform eingeleitet, die das gesamte Versorgungssystem grundlegend humanisierte und vom Anstalts-Paradigma zur heutigen gemeindenahen, stärker bedürfnisorientierten Psychiatrie führte. Erster und bekanntester "Meilenstein" dieses Paradigmenwechsels
war die "Psychiatrie-Enquete" 1975.
Der Autor, Christian Reumschüssel-Wienert, stellt sich diesem…mehrVor 50 Jahren wurde in Deutschland eine Psychiatriereform eingeleitet, die das gesamte Versorgungssystem grundlegend humanisierte und vom Anstalts-Paradigma zur heutigen gemeindenahen, stärker bedürfnisorientierten Psychiatrie führte. Erster und bekanntester "Meilenstein" dieses Paradigmenwechsels war die "Psychiatrie-Enquete" 1975.
Der Autor, Christian Reumschüssel-Wienert, stellt sich diesem Thema, indem er am Beispiel der „Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie“ – DGSP eine lebendige Psychiatriegeschichte beschreibt. Dabei wird ausgehend von den soziokulturellen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen eines jeden Jahrzehnts von der Nachkriegszeit mit den Folgen der nationalsozialistischen Verstrickungen, vor allem den 1970er Jahren bis Ende 2019 erzählt. Der Autor beschreitet hiermit neue Wege. Er bettet die Geschichte der Sozialpsychiatrie mit ihren vielfältigen und kontroversen Diskussionen sowie die Entwicklung der DGSP in die sozialökonomische, kulturelle und sozialpsychologisch bedeutsame Entwicklung der Bundesrepublik ein.
Eine besondere Rolle spielen sozial- und gesundheitspolitische Entwicklungen. Hieraus ergeben sich einige Erkenntnisse, die bisher der „Selbstbeobachtung“ der Sozialpsychiatrie durch die Akteure selbst verborgen geblieben sind: Die Psychiatriereform war (und ist) nicht eine Reform, die den Intentionen ihrer Protagonist*innen folgte, sondern sie folgt und reflektiert ganz wesentlich gesellschaftlichen Entwicklungen sowie sozial- und gesundheitspolitischen Vorgaben (Pfade), die in erster Linie nicht auf die Psychiatrie zugeschnitten waren. Die Sozialpsychiatrie reflektiert in diesem Sinne nachholend gesellschaftliche Modernisierungsschübe.
Darüber hinaus: Die wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschichte der Sozialpsychiatrie bzw. Psychiatriereform in Deutschland in historischer Literatur und Lehrbüchern endet in den allermeisten Fällen in den 1980er Jahren mit dem Beginn des sog. „großen Modellprogramm“ der damaligen Bundesregierung. Die vorliegende Studie geht weit darüber hinaus und reicht bis zum Ende des Jahres 2019. Das bedeutet, dass bedeutsame Modernisierungsschübe wie zum Beispiel der sog. „personenzentrierte Ansatz“ der Aktion Psychisch Kranke oder auch die UN-Behindertenrechtskonvention sowie das „Bundesteilhabegesetz“, die wesentliche „Paradigmenwechsel“ initiierten, aufgenommen und reflektiert wurden.
Weiterhin werden zum Teil eher „medizinisch“ orientierte sozialpsychiatrischen Entwicklungen und Diskussionen verbunden mit behinderungspolitisch relevanten Prozessen, um so zu einer bisherig vernachlässigten „integrierten“ Sichtweise zu gelangen, die die medizinisch-klinischen Entwicklungen in der Versorgung psychisch kranker Menschen im Zusammenhang mit außerklinischen Entwicklungen in der Versorgung von seelisch behinderten Menschen betrachtet. Es gibt bisher keine historische Untersuchung der Zusammenhänge der Psychiatriereform von ihren Anfängen in den 1960er Jahre über die die vielen - teils erfolglosen, teils erfolgreichen - Versuche, struktureller Verbesserungen bis hin zum differenzierten Versorgungssystem der Gegenwart.
Der Autor ist Soziologe und seit Ende der 70er Jahre aktiv an der psychiatriepolitischen Diskussion und der Versorgungsrealität beteiligt. Trotz des wissenschaftlichen Anspruchs bietet das Manuskript eine Fülle "erlebter Geschichte" und verbindet Reflexionen mit durchaus pointiert zugespitzten Positionen. Es ist daher weit über die Psychiatriehistorie hinaus eine lebendige Erzählung und eine Fundgrube für alle, die aus der bewegten Geschichte des Fachs Ihre Schlüsse für die Zukunft ziehen möchten.
Ein wichtiges, lesenswertes Buch.