Ob als Alltagsphänomen wie der verordneten Verschleierung oder in der gewalttätigen Form des Terrorismus - fundamentalistische Strömungen im Islam sind auf dem Vormarsch. Doch wie lässt sich die weltweite Konjunktur des islamischen Extremismus jenseits kulturkämpferischer und relativistischer Muster erklären? In seiner bahnbrechenden Studie, die im englisch- und französischsprachigen Raum längst zum Standardwerk avanciert ist, interpretiert Fethi Benslama den Islamismus als Zeichen der Krise des Islam in Konfrontation mit der sündhaften Moderne : Der Leidensdruck durch Verbot von Lust führt zur Aggression gegenüber Ambivalenzen - bis hin zum Terror. Fethi Benslama füllt eine Lücke in Sigmund Freuds Werk: Er erklärt das Unbehagen in der muslimischen Kultur, analysiert die Gründungsmythen und die Glaubenspraktiken des Islam und weist auf die kritische Stellung der Frau als Quelle der Angst vor Veränderung und Begehren hin. Eine monumentale Studie und ein unentbehrlicher Beitrag in der Auseinandersetzung mit dem Islamismus sowie ein erster Schritt in Richtung seiner Therapierung.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.10.2017Auf dem Boden einer sich auflösenden Religion
Olivier Roy und Fethi Benslama entwickeln ihre Ansichten über die Ursprünge islamistischen Terrors
Der Umstand, dass junge Muslime es für die Erfüllung ihres Lebens halten, Menschen, die sie nicht kennen und die ihnen kein Leid angetan haben, mit einem Auto zu überfahren, mit Äxten zu zerhacken oder mit Sprengstoff in Stücke zu reißen, ist erklärungsbedürftig. Insbesondere wenn es sich um Jugendliche handelt, die in Europa geboren und aufgewachsen sind und keine traumatisierenden Kriegserfahrungen besitzen. Beunruhigend ist, dass die Angriffe auf Fahrgäste öffentlicher Verkehrsmittel, auf Passanten in Fußgängerzonen, auf Besucher von Musikveranstaltungen, auf Kunden von Supermärkten und in Finnland auch auf eine einen Kinderwagen schiebende Mutter explizit im Namen des Islams durchgeführt wurden. Dass die Täter ihren eigenen Tod nicht nur in Kauf nehmen, dern geradezu anstreben, verstört zusätzlich. Warum radikalisieren sich junge Muslime in der beschriebenen Form? Was treibt sie um, und was wollen sie? Die Wissenschaft hat bislang drei Erklärungsansätze vorgelegt, die nicht unbedingt kompatibel sind. Der erste behauptet, der Islam habe ein intrinsisches Gewaltproblem und müsse sich grundlegend reformieren, um potentiellen Attentätern die Legitimationsgrundlage zu nehmen. Der zweite unterscheidet zwischen Islam und Islamismus, wobei Letzterer als radikale Sonderform einer im Normalfall friedlichen Religion definiert wird. Der dritte versucht, Gründe jenseits der Religion zu identifizieren, und behauptet, der Islam werde von Extremisten lediglich als wohlfeile Maske missbraucht, hinter der sich ganz andere Motive verbergen.
Der französische Politologe Olivier Roy hat sich einen Namen als Vertreter der letzten These gemacht und stets bekundet, der Terrorismus sei keine Folge der Radikalisierung des Islams, sondern der Islamisierung der Radikalität. Er wurzele im Wesentlichen gerade in der Entfremdung der Muslime von islamischen Traditionen. In seinem neuen Buch, das im Französischen den schlichten Titel "Le djihad et la mort" trägt, in der deutschen Übersetzung durch die Verwendung eines berühmten Zitats des Al-Qaida-Führers Abu Dudschan al-Afghani aber einen deutlich dramatischeren Titel erhalten hat, führt er diesen Ansatz erwartungsgemäß weiter. Anhand der Biographien von Attentätern zeigt er, dass diese sich zu Lebzeiten wenig um die Normen ihrer Religion geschert hatten, dass sie Alkohol und Drogen konsumierten, Freundinnen hatten und kriminell wurden. Zudem sei ihre religiöse Bildung wenig fundiert gewesen. Vielmehr versuchten sie, sich in der Öffentlichkeit als Superhelden zu präsentieren und als ultimative Rächer einer erniedrigten islamischen Weltgemeinschaft aufzuspielen.
Das sozialrevolutionäre Argument der Dschihadisten sei jedoch konstruiert. Man beziehe sich nicht auf reale Missstände, sondern montiere Bilder zu einer fantastischen Geschichte. Unübersehbar, so Roy, seien Anleihen bei Computerspielen, scheine ein medienaffiner Narzissmus auf, der selbst den Tod auf der Ebene eines Spiels inszeniert. Zentral sei der Nihilismus der Terroristen, die Gewalt nicht mehr als Mittel zur Erreichung eines Zieles, sondern als ultimatives Ziel an sich verstünden. Roy spricht von Psychopathen und Todessüchtigen, die in der Ideologie des IS lediglich die passende Rahmung für ihre Aktivitäten finden. Der suizidale Massenmörder sei aber keine genuin islamistische, sondern vielmehr eine "höchst zeitgemäße" Erscheinung, meint Roy und verweist auf Amokläufer ohne ideologische Fundierung - wohl wissend, dass dieses Argument schnell zu Beliebigkeit und theoretischer Unschärfe führen kann.
Roy verortet sein Buch innerhalb einer Kontroverse. Bereits im ersten Kapitel nennt er seine wichtigsten Kritiker: den Islamwissenschaftler François Burgat, der Roy vorwirft, die politischen Ursachen des Dschihadismus zu vernachlässigen, und den Sozialwissenschaftler Gilles Kepel, der ihn beschuldigt, die gegenwärtige Radikalisierung des Islams auszublenden. Beiden kommt er nun entgegen und versucht, die Einwände in seine eigene Theorie zu integrieren, um sie im letzten Kapitel allerdings neuerlich zurückzuweisen. Der Erfolg des IS bestehe darin, so sein Fazit, dass er mit der Angst des Westens vor dem Islam spiele. Dabei gäbe es diesen gar nicht. Die Umma, die islamische Weltgemeinschaft, sei nämlich "bestenfalls ein frommes Gebilde und schlimmstenfalls eine Illusion". Wie der Linksextremismus, der untergegangen sei, weil er das internationale Proletariat nicht gefunden habe, so werde sich auch der islamische Extremismus irgendwann auflösen, prophezeit er, weil er die Umma nicht finde.
Wem diese Schlussfolgerung zu optimistisch oder zu wenig islamwissenschaftlich fundiert erscheint, dem sei zusätzlich die Lektüre des Buchs von Fethi Benslama empfohlen. Benslama ist wie Roy einer der international renommierten Experten auf dem Gebiet der Erforschung des Dschihadismus. In Deutschland ist er allerdings noch wenig bekannt, was vielleicht an seinem weniger eingängigen Schreibstil liegt. Die Bücher von Roy erschließen sich auch dem Laien ohne Mühe und lassen sich fast "nebenbei" lesen. Benslama lädt dagegen den Leser zu einer Entdeckungsreise ein und führt ihn in Sphären der Theorie, Poesie und Theologie. In " Psychoanalyse des Islam" verbindet er diese Bereiche in Form von Geschichten, die an Scheherazade in "Tausendundeiner Nacht" erinnern, der im Buch auch eine erzählerische Schlüsselrolle zukommt.
Anders als in seinem vor kurzem auch auf Deutsch erschienenen Buch "Der Übermuslim", in dem er sich wie Roy speziell mit den Hintergründen für dschihadistische Gewalt befasst, spannt Benslama jetzt einen weiten Bogen vom Islamismus, der Ideologie, die, seiner Auffassung nach, dem Dschihadismus zugrunde liegt, zum Islam. Beide stünden in einem nicht endgültig geklärten Verhältnis zueinander. "Der Islamismus ist sicher nicht der ganze Islam", schreibt er, "aber man kann ihn auch nicht als bloße Abirrung abtun." Er sei, führt er mit einem Verweis auf Hannah Arendt aus, die "islamische Version der Krise der Moderne", die "alle Merkmale einer totalitären Massenideologie aufweist".
In weiten Teilen liest sich das Buch als erhellende Studie über die missglückte Modernisierung in der islamischen Welt, die dieser von außen aufgenötigt, jedoch niemals selbständig angeeignet, geschweige denn weiterentwickelt wurde. "Man kann sagen", schreibt Benslama, "dass sich die Modernisierung ohne die dafür notwendige Kulturarbeit ereignet hat." Im Sinne Freuds versteht Benslama Kultur als vermittelnde Instanz zwischen dem Subjekt und dem Kollektiv. Das Fehlen dieser Vermittlung und das eher mimetische Nachahmen der Moderne durch die herrschenden Eliten hätten zu einem Prozess der Entsubjektivierung breiter Massen der Bevölkerung in den islamischen Ländern geführt.
Die Scham, "als Subjekt abgedankt" zu haben, habe den Boden für eine Regression bereitet, die als Sehnsucht nach dem Ursprung verstanden werden könne. Die Obsession einer reinen und vollkommenen Vergangenheit, eines goldenen Zeitalters des Islams, treibt Islamisten bekanntermaßen um, und sie steckt in der Konstruktion der Salaf, der frommen Altvordern, die Salafisten zu ultimativen Vorbildern stilisieren. Würde man Benslamas These auf die jungen Radikalen in den Pariser Vorstädten anwenden, von denen Roy spricht, dann würde verständlich, warum sie anfällig für den nihilistischen Todeskult sind, und man käme um eine Pathologisierung des Phänomens herum. Einig ist sich Benslama mit Roy darin, dass die Suche nach dem Ursprung keineswegs in die Vergangenheit, sondern in eine ungewisse Zukunft führt. Die Religion, die in Auflösung begriffen sei, werde mit Elementen der Moderne geflickt, insbesondere mit Anleihen aus der Wissenschaft. "Der Szientismus, der den religiösen Diskurs infiltriert", schreibt Benslama, "ist sehr präsent, so als ob die Religion den Gläubigen die Ordnung der alten Wahrheit nicht ausreichend garantieren könnte."
Doch Benslama geht es nicht nur um den Terror im Namen des Islams oder um die von korrupten Eliten verhinderte Aneignung der Moderne, sondern auch um die Konstituierung des weiblichen und männlichen Subjekts und ihre Beziehungen zueinander. Als Ausgangspunkt seiner Erörterungen wählt er die Revolution der Geschlechterverhältnisse in Tunesien unter Bourguiba, der mit der Verkündigung des unabhängigen Staates die politische und rechtliche Gleichstellung der Frauen verordnete. Dann löst sich Benslama jedoch von der politologischen Perspektive und beginnt sein eigentliches Vorhaben: sprachgewaltige Erkundungen profaner und religiöser Literatur der islamischen Welt, aus deren Texten er die Spuren einer als verstörend erlebten Macht der Frau herausarbeitet. Der Versuch, diese Macht einzuhegen oder gar auszulöschen, durchziehe die Geschichte des Islams genauso wie die des Islamismus.
Benslamas intellektuelle Exkursionen werden durch die Klammer der Psychoanalyse zusammengehalten. Letztendlich will er prüfen, ob sich der "Ursprung des Islam in die Sprache der Dekonstruktion Freuds übersetzen" lässt. Auch das gehört zu den überraschenden Perspektiven auf wichtige Themen der Gegenwart, die Benslama den Lesern mit diesem Buch eröffnet.
SUSANNE SCHRÖTER
Olivier Roy: "Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod". Der Dschihad und die Wurzeln des Terrors.
Aus dem Französischen von Christiane Seiler. Siedler Verlag, München 2017.
176 S., geb., 20,- [Euro].
Fethi Benslama: "Psychoanalyse des Islam".
Aus dem Französischen von Monika Mager und Michael Schmid. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2017. 352 S., geb., 30,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Olivier Roy und Fethi Benslama entwickeln ihre Ansichten über die Ursprünge islamistischen Terrors
Der Umstand, dass junge Muslime es für die Erfüllung ihres Lebens halten, Menschen, die sie nicht kennen und die ihnen kein Leid angetan haben, mit einem Auto zu überfahren, mit Äxten zu zerhacken oder mit Sprengstoff in Stücke zu reißen, ist erklärungsbedürftig. Insbesondere wenn es sich um Jugendliche handelt, die in Europa geboren und aufgewachsen sind und keine traumatisierenden Kriegserfahrungen besitzen. Beunruhigend ist, dass die Angriffe auf Fahrgäste öffentlicher Verkehrsmittel, auf Passanten in Fußgängerzonen, auf Besucher von Musikveranstaltungen, auf Kunden von Supermärkten und in Finnland auch auf eine einen Kinderwagen schiebende Mutter explizit im Namen des Islams durchgeführt wurden. Dass die Täter ihren eigenen Tod nicht nur in Kauf nehmen, dern geradezu anstreben, verstört zusätzlich. Warum radikalisieren sich junge Muslime in der beschriebenen Form? Was treibt sie um, und was wollen sie? Die Wissenschaft hat bislang drei Erklärungsansätze vorgelegt, die nicht unbedingt kompatibel sind. Der erste behauptet, der Islam habe ein intrinsisches Gewaltproblem und müsse sich grundlegend reformieren, um potentiellen Attentätern die Legitimationsgrundlage zu nehmen. Der zweite unterscheidet zwischen Islam und Islamismus, wobei Letzterer als radikale Sonderform einer im Normalfall friedlichen Religion definiert wird. Der dritte versucht, Gründe jenseits der Religion zu identifizieren, und behauptet, der Islam werde von Extremisten lediglich als wohlfeile Maske missbraucht, hinter der sich ganz andere Motive verbergen.
Der französische Politologe Olivier Roy hat sich einen Namen als Vertreter der letzten These gemacht und stets bekundet, der Terrorismus sei keine Folge der Radikalisierung des Islams, sondern der Islamisierung der Radikalität. Er wurzele im Wesentlichen gerade in der Entfremdung der Muslime von islamischen Traditionen. In seinem neuen Buch, das im Französischen den schlichten Titel "Le djihad et la mort" trägt, in der deutschen Übersetzung durch die Verwendung eines berühmten Zitats des Al-Qaida-Führers Abu Dudschan al-Afghani aber einen deutlich dramatischeren Titel erhalten hat, führt er diesen Ansatz erwartungsgemäß weiter. Anhand der Biographien von Attentätern zeigt er, dass diese sich zu Lebzeiten wenig um die Normen ihrer Religion geschert hatten, dass sie Alkohol und Drogen konsumierten, Freundinnen hatten und kriminell wurden. Zudem sei ihre religiöse Bildung wenig fundiert gewesen. Vielmehr versuchten sie, sich in der Öffentlichkeit als Superhelden zu präsentieren und als ultimative Rächer einer erniedrigten islamischen Weltgemeinschaft aufzuspielen.
Das sozialrevolutionäre Argument der Dschihadisten sei jedoch konstruiert. Man beziehe sich nicht auf reale Missstände, sondern montiere Bilder zu einer fantastischen Geschichte. Unübersehbar, so Roy, seien Anleihen bei Computerspielen, scheine ein medienaffiner Narzissmus auf, der selbst den Tod auf der Ebene eines Spiels inszeniert. Zentral sei der Nihilismus der Terroristen, die Gewalt nicht mehr als Mittel zur Erreichung eines Zieles, sondern als ultimatives Ziel an sich verstünden. Roy spricht von Psychopathen und Todessüchtigen, die in der Ideologie des IS lediglich die passende Rahmung für ihre Aktivitäten finden. Der suizidale Massenmörder sei aber keine genuin islamistische, sondern vielmehr eine "höchst zeitgemäße" Erscheinung, meint Roy und verweist auf Amokläufer ohne ideologische Fundierung - wohl wissend, dass dieses Argument schnell zu Beliebigkeit und theoretischer Unschärfe führen kann.
Roy verortet sein Buch innerhalb einer Kontroverse. Bereits im ersten Kapitel nennt er seine wichtigsten Kritiker: den Islamwissenschaftler François Burgat, der Roy vorwirft, die politischen Ursachen des Dschihadismus zu vernachlässigen, und den Sozialwissenschaftler Gilles Kepel, der ihn beschuldigt, die gegenwärtige Radikalisierung des Islams auszublenden. Beiden kommt er nun entgegen und versucht, die Einwände in seine eigene Theorie zu integrieren, um sie im letzten Kapitel allerdings neuerlich zurückzuweisen. Der Erfolg des IS bestehe darin, so sein Fazit, dass er mit der Angst des Westens vor dem Islam spiele. Dabei gäbe es diesen gar nicht. Die Umma, die islamische Weltgemeinschaft, sei nämlich "bestenfalls ein frommes Gebilde und schlimmstenfalls eine Illusion". Wie der Linksextremismus, der untergegangen sei, weil er das internationale Proletariat nicht gefunden habe, so werde sich auch der islamische Extremismus irgendwann auflösen, prophezeit er, weil er die Umma nicht finde.
Wem diese Schlussfolgerung zu optimistisch oder zu wenig islamwissenschaftlich fundiert erscheint, dem sei zusätzlich die Lektüre des Buchs von Fethi Benslama empfohlen. Benslama ist wie Roy einer der international renommierten Experten auf dem Gebiet der Erforschung des Dschihadismus. In Deutschland ist er allerdings noch wenig bekannt, was vielleicht an seinem weniger eingängigen Schreibstil liegt. Die Bücher von Roy erschließen sich auch dem Laien ohne Mühe und lassen sich fast "nebenbei" lesen. Benslama lädt dagegen den Leser zu einer Entdeckungsreise ein und führt ihn in Sphären der Theorie, Poesie und Theologie. In " Psychoanalyse des Islam" verbindet er diese Bereiche in Form von Geschichten, die an Scheherazade in "Tausendundeiner Nacht" erinnern, der im Buch auch eine erzählerische Schlüsselrolle zukommt.
Anders als in seinem vor kurzem auch auf Deutsch erschienenen Buch "Der Übermuslim", in dem er sich wie Roy speziell mit den Hintergründen für dschihadistische Gewalt befasst, spannt Benslama jetzt einen weiten Bogen vom Islamismus, der Ideologie, die, seiner Auffassung nach, dem Dschihadismus zugrunde liegt, zum Islam. Beide stünden in einem nicht endgültig geklärten Verhältnis zueinander. "Der Islamismus ist sicher nicht der ganze Islam", schreibt er, "aber man kann ihn auch nicht als bloße Abirrung abtun." Er sei, führt er mit einem Verweis auf Hannah Arendt aus, die "islamische Version der Krise der Moderne", die "alle Merkmale einer totalitären Massenideologie aufweist".
In weiten Teilen liest sich das Buch als erhellende Studie über die missglückte Modernisierung in der islamischen Welt, die dieser von außen aufgenötigt, jedoch niemals selbständig angeeignet, geschweige denn weiterentwickelt wurde. "Man kann sagen", schreibt Benslama, "dass sich die Modernisierung ohne die dafür notwendige Kulturarbeit ereignet hat." Im Sinne Freuds versteht Benslama Kultur als vermittelnde Instanz zwischen dem Subjekt und dem Kollektiv. Das Fehlen dieser Vermittlung und das eher mimetische Nachahmen der Moderne durch die herrschenden Eliten hätten zu einem Prozess der Entsubjektivierung breiter Massen der Bevölkerung in den islamischen Ländern geführt.
Die Scham, "als Subjekt abgedankt" zu haben, habe den Boden für eine Regression bereitet, die als Sehnsucht nach dem Ursprung verstanden werden könne. Die Obsession einer reinen und vollkommenen Vergangenheit, eines goldenen Zeitalters des Islams, treibt Islamisten bekanntermaßen um, und sie steckt in der Konstruktion der Salaf, der frommen Altvordern, die Salafisten zu ultimativen Vorbildern stilisieren. Würde man Benslamas These auf die jungen Radikalen in den Pariser Vorstädten anwenden, von denen Roy spricht, dann würde verständlich, warum sie anfällig für den nihilistischen Todeskult sind, und man käme um eine Pathologisierung des Phänomens herum. Einig ist sich Benslama mit Roy darin, dass die Suche nach dem Ursprung keineswegs in die Vergangenheit, sondern in eine ungewisse Zukunft führt. Die Religion, die in Auflösung begriffen sei, werde mit Elementen der Moderne geflickt, insbesondere mit Anleihen aus der Wissenschaft. "Der Szientismus, der den religiösen Diskurs infiltriert", schreibt Benslama, "ist sehr präsent, so als ob die Religion den Gläubigen die Ordnung der alten Wahrheit nicht ausreichend garantieren könnte."
Doch Benslama geht es nicht nur um den Terror im Namen des Islams oder um die von korrupten Eliten verhinderte Aneignung der Moderne, sondern auch um die Konstituierung des weiblichen und männlichen Subjekts und ihre Beziehungen zueinander. Als Ausgangspunkt seiner Erörterungen wählt er die Revolution der Geschlechterverhältnisse in Tunesien unter Bourguiba, der mit der Verkündigung des unabhängigen Staates die politische und rechtliche Gleichstellung der Frauen verordnete. Dann löst sich Benslama jedoch von der politologischen Perspektive und beginnt sein eigentliches Vorhaben: sprachgewaltige Erkundungen profaner und religiöser Literatur der islamischen Welt, aus deren Texten er die Spuren einer als verstörend erlebten Macht der Frau herausarbeitet. Der Versuch, diese Macht einzuhegen oder gar auszulöschen, durchziehe die Geschichte des Islams genauso wie die des Islamismus.
Benslamas intellektuelle Exkursionen werden durch die Klammer der Psychoanalyse zusammengehalten. Letztendlich will er prüfen, ob sich der "Ursprung des Islam in die Sprache der Dekonstruktion Freuds übersetzen" lässt. Auch das gehört zu den überraschenden Perspektiven auf wichtige Themen der Gegenwart, die Benslama den Lesern mit diesem Buch eröffnet.
SUSANNE SCHRÖTER
Olivier Roy: "Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod". Der Dschihad und die Wurzeln des Terrors.
Aus dem Französischen von Christiane Seiler. Siedler Verlag, München 2017.
176 S., geb., 20,- [Euro].
Fethi Benslama: "Psychoanalyse des Islam".
Aus dem Französischen von Monika Mager und Michael Schmid. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2017. 352 S., geb., 30,- [Euro].
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»Die psychoanalytische Begrifflichkeit und sehr anspruchsvolle Formulierungen machen die Lektüre zur Herausforderung.« - Georg Cavallar, Der Standard Georg Cavallar Der Standard 20180217