Dieter Thomäs großes Buch verhilft einem in Vergessenheit geratenen Störenfried zu einem Comeback: dem puer robustus, dem kräftigen Knaben, der sich nicht an die Regeln hält, der aneckt, aufbegehrt und auch mal zuschlägt. Jahrhundertelang hat er die Gemüter erhitzt. Hobbes und Rousseau, Schiller und Diderot, Marx, Freud, Carl Schmitt und viele andere sahen in ihm eine Schlüsselfigur, an der sich ein Zentralproblem der politischen Philosophie entscheidet: das Verhältnis von Ordnung und Störung. Auch heute tummeln sich an den gesellschaftlichen Rändern –aber auch zunehmend in den Zentren der Macht, wie Thomä im Nachwort zu dieser Ausgabe am Beispiel Donald Trumps zeigt – Trittbrettfahrer und Quertreiber, Eigenbrötler und Rebellen, und hinter ihnen allen steckt der puer robustus. Höchste Zeit, ihn wiederzuentdecken!
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Mit großem Interesse hat Rezensent Adam Soboczynski Dieter Thomäs Philosophie des Störenfrieds gelesen, den er hier in allen Facetten kennenlernt. Auf siebenhundert Seiten arbeitet sich der Philosoph durch die Geschichte der politischen Theorie und der Literatur, sammelt Bemerkungen über den Außenseiter und klärt nicht nur über den puer robustus etwa bei Hobbes, Rousseau, Diderot, Marx oder Freud auf, sondern wirft auch einen Blick auf politisch aktuelle Störenfriede, informiert der Kritiker. So erfährt er in Thomäs kluger Kategorisierung, dass zwischen dem egozentrischen, dem exzentrischen und dem nomozentrischen Rebellen zu unterscheiden sei, wobei letzterer als "progressive Figur" der Demokratie erscheint. Dass der Autor allerdings selbst als Störenfried seines Essays auftritt, indem er immer wieder über sich spricht, findet der Rezensent ärgerlich.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.11.2016Angriff der Schwellenwesen
Langer Anlauf zu einer Zeitdiagnose: Dieter Thomä erzählt eine Abenteuergeschichte über Störenfriede der gesellschaftlichen Ordnung.
Sie nerven. Das ist das offensichtlichste Kennzeichen von Zeitgenossen, die der in St. Gallen lehrende Philosoph Dieter Thomä ins Zentrum einer, wie er selbst betont, philosophischen Abenteuergeschichte stellt. Sie nerven zu Hause, bei der Arbeit, in der Öffentlichkeit. Störenfriede sind allgegenwärtig. Und manchmal schaffen sie es sogar ins Weiße Haus: Donald Trump ist für Thomä in einer Nebenbemerkung ein Nachfahre von Napoleon III., den Marx dereinst den "Chef des Lumpenproletariats" genannt hat. Der Anführer also jener Erniedrigten, mit denen selbst für Marx kein Staat zu machen war, die jede Ordnung stören, weil sie nichts zu verlieren haben.
Ob diese Nebenbemerkung zu einer belastbaren These verdichtet werden kann, sei dahingestellt, aber sie führt ins Zentrum von Thomäs Überlegungen, die sich der Frage widmen, wie mit Störenfrieden überhaupt ein Staat zu machen ist. Es geht hier also darum, wie politische Ordnungen etabliert, legitimiert, kritisiert und verändert werden können. Kritik und Veränderung bilden für Thomä das Kerngeschäft des Störenfrieds, den er in vier Typen auffächert: den egozentrischen, allein auf sein Eigeninteresse zentrierten, den exzentrischen, der auf alle Regeln, ja sogar auf sein Eigeninteresse pfeift, den nomozentrischen, der eine bestehende Ordnung im Hinblick auf zukünftige Regeln bekämpft, sowie den Sonderfall massenhafter Störenfriede, die sich selbst aufgeben, um einer Ideologie zu folgen.
So allgegenwärtig Störenfriede sind, so wenig bekannt ist die konkrete philosophische Figur, auf deren Spuren sich Thomä heftet: der puer robustus. Seinen ersten großen Auftritt hat dieser im siebzehnten Jahrhundert bei Thomas Hobbes. Ein kraftvoller Bursche, dessen natürliche Stärke ihn machtvoll seinem Eigeninteresse folgen lässt, und der, so wie Hobbes ihn entwirft, gewaltbereit und böse ist. Eigentlich müsste er, wenn er erwachsen wird, seine pubertäre Macht abtreten, sich gesellschaftsvertragsgemäß in die Ordnung fügen und ein guter Untertan in einem befriedeten allmächtigen Staatsgebilde werden. Der puer robustus jedoch vertraut seiner eigenen Stärke und pfeift auf den Staat. Für Hobbes sind diese Störer aber selbst nur Gestörte: Narren, Epileptiker, Tollwütige oder pathologische Quertreiber.
Die Existenz des puer robustus verweist für Thomä auf einen Mangel der Hobbesschen Ordnungsvorstellung: weil das Individuum seine Macht dem Staat abtreten muss, ist es selbst kein machtvoller Akteur mehr, sondern wird zum bloßen Zuschauer. Zu Partizipation kann es um des lieben Friedens willen nicht kommen, die Ordnung grenzt aus, dichtet sich ab, steht still. - Ein Motiv, das Thomä bis in die Gegenwart verfolgt und kritisiert. Denn Ordnungen brauchen Störenfriede, um immer neue gesellschaftliche Herausforderungen meistern zu können.
Weil zur Logik einer Abenteuergeschichte eine Dramaturgie aus großen Aufgaben und kleinen Niederlagen, irrwitzigen Coups und unglaublichen Verwandlungen gehört, lässt Thomä seinen Helden kreuz und quer durch die politische Ideengeschichte bis in die Gegenwart geistern. Bei Rousseau, dem Antipoden von Hobbes, wandelt er sich zum "guten Wilden". Er greift "in eine zerrüttete Welt ein, er tritt als Botschafter einer neuen Ordnung auf". Mal ist er Rameaus Neffe und erscheint bei Diderot als exzentrischer Störer, ins Werden einer neuen Gesellschaft verliebt. Dann wieder bekommt sein rebellischer Furor in Gestalt von Franz und Karl Moor oder Wilhelm Tell die große Bühne der Schillerschen Dramen, oder er darf als Glöckner von Notre Dame in Victor Hugos Roman zum guten Revolutionär werden, der von der Gesellschaft zugerichtet wird.
Richard Wagner lässt dann die Sphäre der Ökonomie, das Gold, als wesentliche Wirkkraft in sein Leben treten, und bei Alexis de Tocqueville wird der puer robustus gleich aus dem Geist des Kapitalismus wiedergeboren und soll "in der comfort zone der Wohlstandsgesellschaft" gezähmt werden. Aber es bedarf natürlich nur der "Gelegenheit zu einem schnellen schmutzigen Geschäft", um seine Energie zum Regelbruch zu aktivieren. Von dort aus ist es für diesen Kerl nur ein kleiner Schritt, um sich bei Marx und Engels in ein proletarisches Kollektivsubjekt zu verwandeln. Und selbstverständlich begleitet Thomä ihn auch - unter anderem mit Carl Schmitt oder Max Horkheimer - durch die Wirren des zwanzigsten Jahrhunderts bis hin zum chinesischen Kommunismus. Dass er die theoretische Fixierung auf die starken Burschen geschlechtergerecht aufbricht, ist selbstverständlich.
Thomä konzentriert seinen Blick darauf, wie Ordnung, Störung, Moral und Geschichte sich zueinander verhalten. So entsteht unter der Hand eine etwas andere Geschichte der politischen Philosophie. Sie verdankt sich einer robusten anthropologischen These: "Der Dreh- und Angelpunkt der politischen Philosophie", so Thomä, "ist weder das Individuum noch die Institutionen, sondern der Mensch als Schwellenwesen. Er bewegt sich dort, wo Zugehörigkeiten und Abweichungen verhandelt werden." Der Störenfried ist stets an solchen Schwellen zu finden. Den Blick auf diese Perspektive gelenkt zu haben ist der entscheidende systematische Vorzug dieses von Material überquellenden Buchs.
Zudem gelingt es Thomä, diese wahrhaft abenteuerliche Geschichte spannend zu erzählen. Selbst wenn er bisweilen der Obsession erliegt, seinen Helden allüberall zu erkennen. Dass etwa Sigmund Freud als Theoretiker des Störenfrieds auftaucht, weil er auch einmal vom "kleinen Wilden" gesprochen hat, und sich Thomä deshalb in die Tiefen des Ödipuskomplexes und der Freudschen Kulturtheorie vertieft, ist selbst für den an überraschende Wendungen gewöhnten Leser von Abenteuergeschichten zu viel, zumal die politische Dimension ohnehin erst über die frühe Freud-Rezeption eingeholt wird.
Anders als für philosophische Werke stellt sich für eine Abenteuergeschichte normalerweise nicht die Frage, ob diese auch wahr ist. Tatsächlich scheint Thomä diesen Geltungsanspruch geistreich zu unterlaufen, indem er seine subjektive Perspektive in die Darstellung einwebt, kommentiert, zuspitzt, Vorlieben und Abneigungen kenntlich macht. Statt einer klassischen Abhandlung legt er im Grunde einen großen Essay vor, in dem sich Erkenntnis und Interesse durchdringen.
Thomäs historischen Erkundungsgänge werden angetrieben von der zeitdiagnostischen Verve eines kritischen Intellektuellen. Angesichts beispielsweise der Flüchtlingskrise setzt er nicht auf die Verteidigung der Ordnung, die Selbstbehauptung des Staats, sondern auf die Verteidigung der Demokratie, die für ihn in der Aushandlung an den Rändern der Gesellschaft besteht. Autoren wie Sloterdijk, Safranski oder Udo di Fabio redeten einen Staatsnotstand herbei, "um Menschen in Not abzuweisen".
Die Demokratie gilt es aber auch zu verteidigen, weil politische Ordnung und kapitalistisches Wirtschaften heutzutage zu einem Vergesellschaftungshybrid verschmolzen sind und Exklusionsmechanismen zu einem Anschwellen der Ränder der Gesellschaft geführt haben. Weil ökonomische Exklusion politische nach sich zieht, sieht Thomä die demokratische Teilhabe deformiert. Die gewalttätigen Ausschreitungen der letzten Jahre in Paris, London oder Los Angeles zeigen, dass auf diese Weise randalierende Störenfriede produziert werden, bei denen nicht mehr kenntlich ist, wogegen oder wofür sie sind. Thomäs Ziel ist es, "die Störung vor der Zerstörung" zu bewahren und die Bedeutung zu klären, die Störenfriede in lokalen und globalen Zusammenhängen heute für die Gesellschaft haben.
Die Aufgabe, die bei Dieter Thomä aus dem Bild einer mit Störungen produktiv umgehenden Demokratie erwächst, ist im Blick auf die Flüchtlingskrise gewaltig: Integration wäre erst dann gelungen, wenn sie auch zu politischer Partizipation führt. Ob "wir" auch das "schaffen" können, bleibt offen. Denn die Störenfriede sind zahlreich. Und allgegenwärtig.
THORSTEN JANTSCHEK.
Dieter Thomä: "Puer Robustus". Eine Philosophie des Störenfrieds.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 716 S., geb., 35,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Langer Anlauf zu einer Zeitdiagnose: Dieter Thomä erzählt eine Abenteuergeschichte über Störenfriede der gesellschaftlichen Ordnung.
Sie nerven. Das ist das offensichtlichste Kennzeichen von Zeitgenossen, die der in St. Gallen lehrende Philosoph Dieter Thomä ins Zentrum einer, wie er selbst betont, philosophischen Abenteuergeschichte stellt. Sie nerven zu Hause, bei der Arbeit, in der Öffentlichkeit. Störenfriede sind allgegenwärtig. Und manchmal schaffen sie es sogar ins Weiße Haus: Donald Trump ist für Thomä in einer Nebenbemerkung ein Nachfahre von Napoleon III., den Marx dereinst den "Chef des Lumpenproletariats" genannt hat. Der Anführer also jener Erniedrigten, mit denen selbst für Marx kein Staat zu machen war, die jede Ordnung stören, weil sie nichts zu verlieren haben.
Ob diese Nebenbemerkung zu einer belastbaren These verdichtet werden kann, sei dahingestellt, aber sie führt ins Zentrum von Thomäs Überlegungen, die sich der Frage widmen, wie mit Störenfrieden überhaupt ein Staat zu machen ist. Es geht hier also darum, wie politische Ordnungen etabliert, legitimiert, kritisiert und verändert werden können. Kritik und Veränderung bilden für Thomä das Kerngeschäft des Störenfrieds, den er in vier Typen auffächert: den egozentrischen, allein auf sein Eigeninteresse zentrierten, den exzentrischen, der auf alle Regeln, ja sogar auf sein Eigeninteresse pfeift, den nomozentrischen, der eine bestehende Ordnung im Hinblick auf zukünftige Regeln bekämpft, sowie den Sonderfall massenhafter Störenfriede, die sich selbst aufgeben, um einer Ideologie zu folgen.
So allgegenwärtig Störenfriede sind, so wenig bekannt ist die konkrete philosophische Figur, auf deren Spuren sich Thomä heftet: der puer robustus. Seinen ersten großen Auftritt hat dieser im siebzehnten Jahrhundert bei Thomas Hobbes. Ein kraftvoller Bursche, dessen natürliche Stärke ihn machtvoll seinem Eigeninteresse folgen lässt, und der, so wie Hobbes ihn entwirft, gewaltbereit und böse ist. Eigentlich müsste er, wenn er erwachsen wird, seine pubertäre Macht abtreten, sich gesellschaftsvertragsgemäß in die Ordnung fügen und ein guter Untertan in einem befriedeten allmächtigen Staatsgebilde werden. Der puer robustus jedoch vertraut seiner eigenen Stärke und pfeift auf den Staat. Für Hobbes sind diese Störer aber selbst nur Gestörte: Narren, Epileptiker, Tollwütige oder pathologische Quertreiber.
Die Existenz des puer robustus verweist für Thomä auf einen Mangel der Hobbesschen Ordnungsvorstellung: weil das Individuum seine Macht dem Staat abtreten muss, ist es selbst kein machtvoller Akteur mehr, sondern wird zum bloßen Zuschauer. Zu Partizipation kann es um des lieben Friedens willen nicht kommen, die Ordnung grenzt aus, dichtet sich ab, steht still. - Ein Motiv, das Thomä bis in die Gegenwart verfolgt und kritisiert. Denn Ordnungen brauchen Störenfriede, um immer neue gesellschaftliche Herausforderungen meistern zu können.
Weil zur Logik einer Abenteuergeschichte eine Dramaturgie aus großen Aufgaben und kleinen Niederlagen, irrwitzigen Coups und unglaublichen Verwandlungen gehört, lässt Thomä seinen Helden kreuz und quer durch die politische Ideengeschichte bis in die Gegenwart geistern. Bei Rousseau, dem Antipoden von Hobbes, wandelt er sich zum "guten Wilden". Er greift "in eine zerrüttete Welt ein, er tritt als Botschafter einer neuen Ordnung auf". Mal ist er Rameaus Neffe und erscheint bei Diderot als exzentrischer Störer, ins Werden einer neuen Gesellschaft verliebt. Dann wieder bekommt sein rebellischer Furor in Gestalt von Franz und Karl Moor oder Wilhelm Tell die große Bühne der Schillerschen Dramen, oder er darf als Glöckner von Notre Dame in Victor Hugos Roman zum guten Revolutionär werden, der von der Gesellschaft zugerichtet wird.
Richard Wagner lässt dann die Sphäre der Ökonomie, das Gold, als wesentliche Wirkkraft in sein Leben treten, und bei Alexis de Tocqueville wird der puer robustus gleich aus dem Geist des Kapitalismus wiedergeboren und soll "in der comfort zone der Wohlstandsgesellschaft" gezähmt werden. Aber es bedarf natürlich nur der "Gelegenheit zu einem schnellen schmutzigen Geschäft", um seine Energie zum Regelbruch zu aktivieren. Von dort aus ist es für diesen Kerl nur ein kleiner Schritt, um sich bei Marx und Engels in ein proletarisches Kollektivsubjekt zu verwandeln. Und selbstverständlich begleitet Thomä ihn auch - unter anderem mit Carl Schmitt oder Max Horkheimer - durch die Wirren des zwanzigsten Jahrhunderts bis hin zum chinesischen Kommunismus. Dass er die theoretische Fixierung auf die starken Burschen geschlechtergerecht aufbricht, ist selbstverständlich.
Thomä konzentriert seinen Blick darauf, wie Ordnung, Störung, Moral und Geschichte sich zueinander verhalten. So entsteht unter der Hand eine etwas andere Geschichte der politischen Philosophie. Sie verdankt sich einer robusten anthropologischen These: "Der Dreh- und Angelpunkt der politischen Philosophie", so Thomä, "ist weder das Individuum noch die Institutionen, sondern der Mensch als Schwellenwesen. Er bewegt sich dort, wo Zugehörigkeiten und Abweichungen verhandelt werden." Der Störenfried ist stets an solchen Schwellen zu finden. Den Blick auf diese Perspektive gelenkt zu haben ist der entscheidende systematische Vorzug dieses von Material überquellenden Buchs.
Zudem gelingt es Thomä, diese wahrhaft abenteuerliche Geschichte spannend zu erzählen. Selbst wenn er bisweilen der Obsession erliegt, seinen Helden allüberall zu erkennen. Dass etwa Sigmund Freud als Theoretiker des Störenfrieds auftaucht, weil er auch einmal vom "kleinen Wilden" gesprochen hat, und sich Thomä deshalb in die Tiefen des Ödipuskomplexes und der Freudschen Kulturtheorie vertieft, ist selbst für den an überraschende Wendungen gewöhnten Leser von Abenteuergeschichten zu viel, zumal die politische Dimension ohnehin erst über die frühe Freud-Rezeption eingeholt wird.
Anders als für philosophische Werke stellt sich für eine Abenteuergeschichte normalerweise nicht die Frage, ob diese auch wahr ist. Tatsächlich scheint Thomä diesen Geltungsanspruch geistreich zu unterlaufen, indem er seine subjektive Perspektive in die Darstellung einwebt, kommentiert, zuspitzt, Vorlieben und Abneigungen kenntlich macht. Statt einer klassischen Abhandlung legt er im Grunde einen großen Essay vor, in dem sich Erkenntnis und Interesse durchdringen.
Thomäs historischen Erkundungsgänge werden angetrieben von der zeitdiagnostischen Verve eines kritischen Intellektuellen. Angesichts beispielsweise der Flüchtlingskrise setzt er nicht auf die Verteidigung der Ordnung, die Selbstbehauptung des Staats, sondern auf die Verteidigung der Demokratie, die für ihn in der Aushandlung an den Rändern der Gesellschaft besteht. Autoren wie Sloterdijk, Safranski oder Udo di Fabio redeten einen Staatsnotstand herbei, "um Menschen in Not abzuweisen".
Die Demokratie gilt es aber auch zu verteidigen, weil politische Ordnung und kapitalistisches Wirtschaften heutzutage zu einem Vergesellschaftungshybrid verschmolzen sind und Exklusionsmechanismen zu einem Anschwellen der Ränder der Gesellschaft geführt haben. Weil ökonomische Exklusion politische nach sich zieht, sieht Thomä die demokratische Teilhabe deformiert. Die gewalttätigen Ausschreitungen der letzten Jahre in Paris, London oder Los Angeles zeigen, dass auf diese Weise randalierende Störenfriede produziert werden, bei denen nicht mehr kenntlich ist, wogegen oder wofür sie sind. Thomäs Ziel ist es, "die Störung vor der Zerstörung" zu bewahren und die Bedeutung zu klären, die Störenfriede in lokalen und globalen Zusammenhängen heute für die Gesellschaft haben.
Die Aufgabe, die bei Dieter Thomä aus dem Bild einer mit Störungen produktiv umgehenden Demokratie erwächst, ist im Blick auf die Flüchtlingskrise gewaltig: Integration wäre erst dann gelungen, wenn sie auch zu politischer Partizipation führt. Ob "wir" auch das "schaffen" können, bleibt offen. Denn die Störenfriede sind zahlreich. Und allgegenwärtig.
THORSTEN JANTSCHEK.
Dieter Thomä: "Puer Robustus". Eine Philosophie des Störenfrieds.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 716 S., geb., 35,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Dieter Thomäs Puer Robustus ist ein großer Wurf.« Arno Widmann Frankfurter Rundschau 20170204