Sommer 1820: Alexander Puschkin, auf dem Weg in die Verbannung, verliert beim euphorischen Bad im wilden Dnjepr bei Zaporoschje, einem langweiligen ukrainischen Nest, seinen wertvollen Türkisring und bekommt starkes Fieber. Neun Monate später gebärt die Wirtin des ihn beherbergenden Gasthauses ein Kind. 31. Dezember 1976, Zaporoschje: Die Familie Katz feiert in großer Runde Silvester, selbst die über Hemingway promovierende Alka hat den langen Weg aus Moskau auf sich genommen. Doch sie ist mal wieder enerviert ob der provinziellen Rückständigkeit ihrer Verwandten, einzig der schöne Schwarzmarktkaufmann Mark aus Odessa scheint sich abzuheben vom familiären Pöbel. Schließlich nutzt Möchtegernpoet Josik, Ehemann von Alkas Cousine Rita, die Gelegenheit, Mark seine große Entdeckung zu verkünden: Die Familie stammt vom berühmten russischen Dichter Alexander Puschkin ab!
buecher-magazin.deSvetlana Lavochkinas aberwitziger Parforceritt durch die russische Geschichte beginnt im Sommer 1820 und endet im Sommer 1989. Zentrum der weitverzweigten Familiengeschichte Knoblauch/Winter/Katz ist das ukrainische Zaporoschje (kurz Zap), ein Provinznest am Dnjepr gelegen. Mit einem Bad des berühmten Dichters Puschkin in diesem wilden Strom nimmt alles seinen Anfang, denn von der schönen Jüdin Knoblauch wird der fiebernde Dichter gesund gepflegt. Neun Monate später kommt ein Sohn zur Welt. Mit einem großen Zeitsprung landen wir in den 1970er-Jahren der Sowjetunion auf dem Neujahrsfest der Familie Winter in Zap. Hier lernen wir sie alle kennen, die snobistische Alka Katz aus Moskau, die an ihrer Doktorarbeit über Hemingway den Verstand verliert, den Schwerenöter Mark Knoblauch, der mit seiner Fake-Levis-Fabrik in Odessa das Geld verdient, um ins Gelobte Land eben dieser Jeansmarke zu verschwinden. Den lebensuntüchtigen Möchtegern-Dichter Josik Winter und seine schöne Frau Rita, die Siegerin in dem Passionsfruchtisierungs-Wettbewerb des zwielichtigen Frauenarztes Arifón Esaw-Yantz. Lavochkinas satirischer Familienroman ist angelegt wie eine herrliche Seifenoper mit irrwitzigen Wendungen und köstlichen Hieben unter die Gürtellinie des korrupten Sowjetsystems. (ts)
© BÜCHERmagazin, Tina Schraml (ts)
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.02.2020Ein Taucheranzug gegen die Welt
Svetlana Lavochkina zieht in ihrem Roman "Puschkins Erben" die Breschnew-Zeit durch den Kakao.
Wenn schon, denn schon. Wenn Puschkin 1820 auf der Reise nach Odessa schon als "künftiger Mozart der russischen Poesie" eingeführt wird, dann, voilà, bitte ebenso überspannt und exaltiert wie der Protagonist in Milos Formans Film "Amadeus". Der russische Salieri - wenn man so will -, Nikolai Karamsin, hat indes weniger Probleme mit dem eigenen Geniedefizit und schickt sich genügsam in die Rolle des Mentors und Förderers des künftigen Nationalliteraten: Er setzt sich dafür ein, dass die Verbannung des Dichters nach Sibirien in einen Aufenthalt an der Schwarzmeerküste umgewandelt wird.
Bei einem Aufenthalt in Saporoschje - heute Saporischschja und im Text aufgrund der englischen Vorlage etwas unglücklich als Zaporoschje wiedergegeben - erkrankt der Dichter. Der innigen Pflege seiner jüdischen Wirtin ist nicht nur die Genesung, sondern wohl auch ein Erbe zu verdanken.
Rund einhundertfünfzig Jahre später verfällt der Russischlehrer Josik Winter der fixen Idee, ein Nachfahre des verehrten Poeten zu sein. Immerhin hat er ein Schriftstück gefunden, bei dem es sich um eine Originalhandschrift handeln könnte. Doch während er sein genealogisches Glück mehr oder weniger geheim hält, posaunt die in Moskau lebende Cousine seiner Frau, Alka Katz, lauthals heraus, was sie sich in zunehmendem Wahn zusammenfabuliert hat: Hemingway ist nicht nur ihr Dissertationsthema, sondern auch ihr Vater.
Svetlana Lavochkina, eine Ukrainerin, die heute in Leipzig lebt und auf Englisch schreibt, spürt in ihrem Roman "Puschkins Erben" der Atmosphäre während der Breschnew-Zeit nach. Schauplatz ist eben Saporoschje, gelegen am Dnepr, eine Fahrt mit dem Nachtzug von Moskau und quasi einen Katzensprung von Odessa entfernt. Jüdische, russische und ukrainische Menschen, Kosaken und Zigeuner leben hier zusammen, einträchtig schon, aber mit allerlei verbalen Katzbalgereien, die auch im Flirt oder der Anmache derb sind. Da kann eine Russin in die Silvesterfeier einer jüdischen Familie platzen und erklären: ",So trinken wir ehrlichen Russen', sagte Swetka, ihr Glas hochhaltend, ,in einem Zug. Nicht wie ihr Juden mit euren Tricks. Ihr trinkt, ohne betrunken zu werden. Ich wette, ihr gießt euch den Wodka in die Ärmel, nicht wahr, Josik?'" Eine Stimmung, wie vielleicht eingefangen von Repin in seinem Gemälde der Saporoger Kosaken, die dem türkischen Sultan schreiben. Deftig und zotig. Bei Schmerzen oder Nebenwirkungen lese man daher die Seite des Impressums - "Die Verwendung einiger Begriffe im Text spiegelt nicht die Haltung des Verlages wider" - oder begebe sich direkt zur Buchhandlung des Vertrauens.
Nach einer kurzen Phase des Tauwetters leitet Breschnew die triste Ödnis der Stagnation und Gerontokratie ein. Visuell ist er bis heute präsent, als Mann, der mal mit einem ostdeutschen Politiker den sozialistischen Bruderkuss tauscht, mal mit einem westdeutschen in Brauenkonkurrenz treten könnte. Doch sonst? Der "aktive Wortschatz der Schaffnerin beinhaltete ,bitte' und ,selbstverständlich'" - aber nur weil sie in der ersten Klasse der Bahn eingesetzt wurde. Niemand ist in dieser Zeit besonders zimperlich. Die Mitglieder der jüdischen Familien Winter, Knoblauch und Katz wären so schrecklich gern mondän und promiskuitiv, aber am Ende landen immer wieder alle in einer höchst überschaubaren Zahl von Betten. Ein Reigen, wie er piefiger kaum sein könnte. Um angesichts der Tristesse nicht eine "komplexe subkutane Abfolge von Stimmungen" zu durchleiden, gibt es ein paar probate Mittel: in einen "wirklichkeitsabweisenden Taucheranzug" zu schlüpfen, sich die Realität durch etliche Botschaftsangehörige, die an jeder Ecke beharrlich auf das begehrte Stelldichein warten, schönzureden oder am Ende auszuwandern, nach Israel oder Amerika.
Lavochkina zieht die Nomenklatura der damaligen Zeit treffsicher durch den Kakao - Schuhfabriksdirektorentöchterchen Alka aus Moskau hält Kapern für zapplige Fische und Anchovis für Beeren aus dem Mittelmeerraum - und fängt die Atmosphäre mit ihrer Defizitwirtschaft und dem dauerhaften Schielen nach dem Westen bei gleichzeitiger offizieller Arroganz gegenüber dem Kapitalismus mit viel Phantasie ein. Das ist gute Unterhaltung. Gelegentlich gerät ihr ein Dialog etwas hölzern, gelegentlich gestattet sie sich eine Zote zu viel, am Ende entwirft sie unter dem Grau jedoch ein farbenreiches Bild. Antisemitismus, Frauenverachtung, das große Schweigen über die Stalin-Zeit und die Herabsetzung der Provinz - all das fängt sie ein. Und am Ende zeigt sich, dass dieser Roman sämtlichen derben Zoten zum Trotz sehr ernsthaft auch von geplatzten Träumen und Lebensentwürfen spricht und dass unter der rohen Oberfläche etwas Zartes liegt.
CHRISTIANE PÖHLMANN
Svetlana Lavochkina: "Puschkins Erben". Roman. Aus dem Englischen von
Diana Feuerbach. Verlag Voland & Quist,
Berlin / Dresden / Leipzig 2019. 368 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Svetlana Lavochkina zieht in ihrem Roman "Puschkins Erben" die Breschnew-Zeit durch den Kakao.
Wenn schon, denn schon. Wenn Puschkin 1820 auf der Reise nach Odessa schon als "künftiger Mozart der russischen Poesie" eingeführt wird, dann, voilà, bitte ebenso überspannt und exaltiert wie der Protagonist in Milos Formans Film "Amadeus". Der russische Salieri - wenn man so will -, Nikolai Karamsin, hat indes weniger Probleme mit dem eigenen Geniedefizit und schickt sich genügsam in die Rolle des Mentors und Förderers des künftigen Nationalliteraten: Er setzt sich dafür ein, dass die Verbannung des Dichters nach Sibirien in einen Aufenthalt an der Schwarzmeerküste umgewandelt wird.
Bei einem Aufenthalt in Saporoschje - heute Saporischschja und im Text aufgrund der englischen Vorlage etwas unglücklich als Zaporoschje wiedergegeben - erkrankt der Dichter. Der innigen Pflege seiner jüdischen Wirtin ist nicht nur die Genesung, sondern wohl auch ein Erbe zu verdanken.
Rund einhundertfünfzig Jahre später verfällt der Russischlehrer Josik Winter der fixen Idee, ein Nachfahre des verehrten Poeten zu sein. Immerhin hat er ein Schriftstück gefunden, bei dem es sich um eine Originalhandschrift handeln könnte. Doch während er sein genealogisches Glück mehr oder weniger geheim hält, posaunt die in Moskau lebende Cousine seiner Frau, Alka Katz, lauthals heraus, was sie sich in zunehmendem Wahn zusammenfabuliert hat: Hemingway ist nicht nur ihr Dissertationsthema, sondern auch ihr Vater.
Svetlana Lavochkina, eine Ukrainerin, die heute in Leipzig lebt und auf Englisch schreibt, spürt in ihrem Roman "Puschkins Erben" der Atmosphäre während der Breschnew-Zeit nach. Schauplatz ist eben Saporoschje, gelegen am Dnepr, eine Fahrt mit dem Nachtzug von Moskau und quasi einen Katzensprung von Odessa entfernt. Jüdische, russische und ukrainische Menschen, Kosaken und Zigeuner leben hier zusammen, einträchtig schon, aber mit allerlei verbalen Katzbalgereien, die auch im Flirt oder der Anmache derb sind. Da kann eine Russin in die Silvesterfeier einer jüdischen Familie platzen und erklären: ",So trinken wir ehrlichen Russen', sagte Swetka, ihr Glas hochhaltend, ,in einem Zug. Nicht wie ihr Juden mit euren Tricks. Ihr trinkt, ohne betrunken zu werden. Ich wette, ihr gießt euch den Wodka in die Ärmel, nicht wahr, Josik?'" Eine Stimmung, wie vielleicht eingefangen von Repin in seinem Gemälde der Saporoger Kosaken, die dem türkischen Sultan schreiben. Deftig und zotig. Bei Schmerzen oder Nebenwirkungen lese man daher die Seite des Impressums - "Die Verwendung einiger Begriffe im Text spiegelt nicht die Haltung des Verlages wider" - oder begebe sich direkt zur Buchhandlung des Vertrauens.
Nach einer kurzen Phase des Tauwetters leitet Breschnew die triste Ödnis der Stagnation und Gerontokratie ein. Visuell ist er bis heute präsent, als Mann, der mal mit einem ostdeutschen Politiker den sozialistischen Bruderkuss tauscht, mal mit einem westdeutschen in Brauenkonkurrenz treten könnte. Doch sonst? Der "aktive Wortschatz der Schaffnerin beinhaltete ,bitte' und ,selbstverständlich'" - aber nur weil sie in der ersten Klasse der Bahn eingesetzt wurde. Niemand ist in dieser Zeit besonders zimperlich. Die Mitglieder der jüdischen Familien Winter, Knoblauch und Katz wären so schrecklich gern mondän und promiskuitiv, aber am Ende landen immer wieder alle in einer höchst überschaubaren Zahl von Betten. Ein Reigen, wie er piefiger kaum sein könnte. Um angesichts der Tristesse nicht eine "komplexe subkutane Abfolge von Stimmungen" zu durchleiden, gibt es ein paar probate Mittel: in einen "wirklichkeitsabweisenden Taucheranzug" zu schlüpfen, sich die Realität durch etliche Botschaftsangehörige, die an jeder Ecke beharrlich auf das begehrte Stelldichein warten, schönzureden oder am Ende auszuwandern, nach Israel oder Amerika.
Lavochkina zieht die Nomenklatura der damaligen Zeit treffsicher durch den Kakao - Schuhfabriksdirektorentöchterchen Alka aus Moskau hält Kapern für zapplige Fische und Anchovis für Beeren aus dem Mittelmeerraum - und fängt die Atmosphäre mit ihrer Defizitwirtschaft und dem dauerhaften Schielen nach dem Westen bei gleichzeitiger offizieller Arroganz gegenüber dem Kapitalismus mit viel Phantasie ein. Das ist gute Unterhaltung. Gelegentlich gerät ihr ein Dialog etwas hölzern, gelegentlich gestattet sie sich eine Zote zu viel, am Ende entwirft sie unter dem Grau jedoch ein farbenreiches Bild. Antisemitismus, Frauenverachtung, das große Schweigen über die Stalin-Zeit und die Herabsetzung der Provinz - all das fängt sie ein. Und am Ende zeigt sich, dass dieser Roman sämtlichen derben Zoten zum Trotz sehr ernsthaft auch von geplatzten Träumen und Lebensentwürfen spricht und dass unter der rohen Oberfläche etwas Zartes liegt.
CHRISTIANE PÖHLMANN
Svetlana Lavochkina: "Puschkins Erben". Roman. Aus dem Englischen von
Diana Feuerbach. Verlag Voland & Quist,
Berlin / Dresden / Leipzig 2019. 368 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"... herrlich sprachverliebt [...] Ein rasantes Denkmal für die alte Sowjetunion von einer erstaunlich jungen Autorin." Meike Schnitzler, Brigitte "Ein hinreißender Roman." Niels Beintker, Bayern 2 Diwan "Mit viel Wortwitz verwebt Svetlana Lavochkina in ihrem Debütroman wahre historische Ereignisse mit der Geschichte einer erfundenen Familie, die einem beim Lesen immer mehr ans Herz wächst." Yvonne Adamek, flow "Wodka, Westjeans und Geheimsalons [...] Bitterkomisch." Claudia Wahjudi, Westdeutsche Allgemeine Zeitung "... nicht nur ein burlesker Familienroman, sondern auch eine humorvolle und zutiefst tragische Parodie ganz im Stil der russischen Satire." Ralf Julke, Leipziger Internet Zeitung "Svetlana Lavochkina schlägt immer neue Volten beim Ritt über die Abgründe zwischen Realität und Wahn. [...] Ihr Roman ist ein großes höllisches Gelächter." Karin Großmann, Sächsische Zeitung