In ihr rechtes Ohr dringen noch ein paar Töne, links herrscht Stille. Seit ihrer Kindheit befindet Louise sich in einer Zwischenwelt. Im Hellen kann Louise die Lippen der Menschen lesen. Wird es dunkler oder sind Gesichter abgewandt, driftet sie ab in einen Zustand zwischen Imagination und Realität, in einen Raum der unendlichen Möglichkeiten. Dann beginnt sie, die Hörlücken mit ihrer Fantasie zu füllen, die bevölkert ist von drei fiktiven Figuren: einem Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg, einem Hund namens Zirrus sowie einer launischen Botanikerin, die Louise während der langen Monate des Nachdenkens und Zweifelns begleiten. Denn Louise steht vor einem radikalen Schritt: Ihr Gehör schwindet nach und nach, und die Ärzte raten ihr, ihr verbleibendes natürliches Gehör durch ein Cochlea-Implantat zu ersetzen. Um sich der Entscheidung zu entziehen, flüchtet sich Louise immer mehr in ihre Traumwelt, die ständig mit den großen Veränderungen in ihrem Leben kollidiert – einer beginnenden Liebesbeziehung, dem ersten Job bei der Stadtverwaltung, einer zerbrechenden Freundschaft. Doch die Zeit drängt, und Louise muss ihre Entscheidung treffen.
Quallen haben keine Ohren taucht mit kraftvoll poetischen und überraschenden Bildern ein in die Welt der Gehörlosen. Eine junge, hörbeeinträchtigte Pariserin hat sich den Fallstricken der Sprache zu stellen und erlebt die Unzulänglichkeit von Licht und Schatten. Und zugleich zeigt sich gerade in diesem Schwebezustand die Kraft der Imagination.
Quallen haben keine Ohren taucht mit kraftvoll poetischen und überraschenden Bildern ein in die Welt der Gehörlosen. Eine junge, hörbeeinträchtigte Pariserin hat sich den Fallstricken der Sprache zu stellen und erlebt die Unzulänglichkeit von Licht und Schatten. Und zugleich zeigt sich gerade in diesem Schwebezustand die Kraft der Imagination.
Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Ziemlich begeistert ist Rezensent Christoph Vormweg von Adèle Rosenfelds Debütroman, der eine junge Frau ins Zentrum stellt, die unter Hörschwäche leidet und dabei ist auch noch den letzten Rest ihres Hörsinns zu verlieren. Sie versucht das zu verbergen, lesen wir, und hat sich außerdem als Kompensation eine Fantasiewelt ausgedacht, die mit der realen bisweilen in Konflikt gerät. Eben dieses Nebeneinander von echtem Leben und Imagination macht den Reiz dieses Buchs aus, findet Vormweg, gerade auch in sprachlicher Hinsicht. Die von Nicola Denis ausgezeichnet übersetzte Prosa findet immer wieder, so der Rezensent, eigensinnige, überraschende Sprachbilder und von existenzieller Verzweiflung durchbebte Metaphern, die die innere Spannung der Protagonistin dem Leser nahebringen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.09.2023In die Stille
In Adèle Rosenfelds schönem Debütroman verliert eine Frau das Gehör. Aber was hat sich der Verlag bei der Aufmachung gedacht?
Zwei Möglichkeiten gibt es für einen Roman heute, sich gegen die Konkurrenz anderer Medien zu behaupten: Entweder er will poetisch sein oder er setzt auf die Relevanz eines gesellschaftlichen Themas. Von einem Film oder einer Serie unterscheidet sich ein Buch darin, dass er mit dem geschriebenen Wort spielen kann oder uns in das innere Erleben eines Betroffenen entführt. „Quallen haben keine Ohren“ ist ein Roman, der beides versucht. Das Debüt der 1986 geborenen Autorin Adèle Rosenfeld, aus dem Französischen übersetzt von Nicola Denis, ist ein Roman über Taubheit – und was Taubheit mit der Sprache anrichtet und mit der Psyche.
Die Erzählerin Louise ist Mitte zwanzig, als sie in einem Sommer ihr Gehör fast vollständig verliert. Damit verlässt sie das Zwischenreich, in dem sie sich bislang befand: Seit ihrer Kindheit hörte sie sehr schlecht, aber immerhin gut genug, um sich mit ihrem Hörgerät den Hörenden zuzurechnen. Und ihr Handicap zu überspielen. Nun erlebt sie an ihrem eigenen Körper einen unaufhaltsamen, unerklärlichen Niedergang. Die Ärzte wissen keine Erklärung, aber eine Lösung: Ein Cochlea-Implantat soll einen Teil ihrer Hörkraft zurückbringen, wenn auch das natürliche Gehör dafür unwiederbringlich weichen muss.
Louises Freund Thomas ist entzückt, „ein bionisches Wesen auf dem Weg in den Transhumanismus zu begleiten“, Louise selbst ist skeptischer. Es quält sie die Vorstellung, sie könne sich durch die Technologie von sich selbst entfremden. Und geht nicht auch etwas verloren, wenn man einen Verlust aufhält? Einmal stellt sie sich die Stadtgeräusche vor, die nach einer erfolgreichen Operation wieder auf sie eintrommeln würden, so laut in ihrem Kopf, „als liefe die ganze Stadtautobahn dort zusammen“. Schöner fände sie es, sie könnte hören, „wie Thomas mir von unserer neuen, schalldichten Wohnung erzählt“.
Sie beginnt ein „Klangherbarium“ anzulegen. Mit Worten versucht sie verschiedene Sounds einzufangen, um sie später, wenn sie das Implantat trägt, wieder heraufbeschwören zu können. Imaginäre Pflanzennamen denkt sie sich aus, das „Rankenscheu-Schwarzauge“ zum Beispiel, wobei sie sie nicht so nennt, sondern „miraginär“. Als gäbe es neben der Vorstellungskraft noch eine andere Fähigkeit, die ans Traumhafte grenzt. Ein Wort, das es durchaus verdient hätte, in den Duden aufgenommen zu werden.
Wie Adèle Rosenfeld in Interviews erzählt, handelt es sich um eine literarische Verarbeitung ihrer eigenen Geschichte. Die Sachkenntnis und die sehr detailliert beschriebenen Empfindungen lassen das beim Lesen auch vermuten. Wie gut Louise andere Menschen im Gespräch versteht, hängt nicht nur von deren Artikulation ab, sondern tatsächlich auch davon, ob sie sich mit ihnen wortwörtlich auf einer gemeinsamen Wellenlänge befindet. Je vertrauensvoller das Verhältnis zu einem Menschen, desto leichter fällt ihr die Kommunikation.
Aber wie bitte soll sie dieses Mysterium den gesunden Menschen erklären? Ihre eigensinnige, witzige Freundin Anna versteht sie nahezu problemlos, die aufgebrachten, verunsicherten Bürger am Schalter des Rathauses, in dem sie eine Anstellung findet, hingegen kaum. Bald schon wird sie von der Abteilung für Geburtsurkunden in ein Archiv versetzt, um einen Berg aus Sterbedaten von Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg zu digitalisieren.
In Frankreich landete das Buch auf der Shortlist des Prix Goncourt für Debütromane und erhielt den Prix Fénéon 2022. Tatsächlich ist es erstaunlich, wie gut es der Autorin gelingt, über das stumme Medium des Buches die Erfahrung von Hörverlust nachvollziehbar zu machen. Und tatsächlich führt das auch zu einer Vielzahl an poetischen Formulierungen und Bildern. Louise erscheint es, als seien Konsonanten „Spalierstangen, während die Vokale sich an den Stängeln emporranken“. An den Konsonanten macht sie die Kontur von Worten fest, mit ihnen versucht sie zu erraten, sich im wahrsten Sinn des Wortes einen Reim darauf zu machen, was die Leute sagen. Die Berechenbarkeit von Smalltalk ist dabei bezeichnend, die vielen Missverständnisse ebenfalls. Eines davon: dass Hörende ihr Lippenlesen als Flirt werten.
Und dann kommt beim Lesen irgendwann der Punkt, an dem das Prinzip klar ist. Natürlich kommt es zu einem Gang ins Naturkundemuseum, in dem auch die Sinnesorgane von Quallen exponiert sind, die, wie der Titel schon sagt, keine Ohren haben. Es gibt nichts mehr zwischen den Zeilen zu lesen, außer das zugrunde liegende Konzept, das man zum Beispiel auch vom Debütroman der Schweizerin Gianna Molinari kennt: Roman über das Leben einer Person, der ihr Leben zunehmend entgleitet. Dass sich alle Fäden zunehmend ins Ungefähre auflösen, dient dann außerdem als erzählerischer Begründungszusammenhang für fantasievoll ausgestaltete, imaginäre (oder miraginäre?) Begleiter – meist in Gestalt eines Wolfs oder Hunds (bei Molinari ein Wolf, bei Rosenfeld ein Hund). Durch den Kopf von Louise spuken außerdem ein betrunkener Soldat und eine Botanikerin, deren Haut sich zunehmend in Rinde verwandelt. Je weiter der Hörverlust fortschreitet, desto weniger Bedeutung scheint alles zu haben, und das ist leider auch das Gefühl, das dabei den Leser überkommt. Dass Quallen keine Ohren haben – ist das nun poetisch oder trivial?
Vielleicht irritiert auch das Missverhältnis zwischen Inhalt und Form. Es ist ein schöner, kleiner Roman von einer völlig unbekannten Autorin – bis auf ein Videointerview findet man im Internet kaum etwas über sie. Aber wie so oft ist daraus ein stattliches Buch gemacht worden, mit großer Schrift und vielen halbleeren Seiten – als würde sich nicht nur der monetäre, sondern auch der poetische Wert eines Buches steigern können, indem man die Seitenzahl erhöht. Vielleicht sollen Bücher auch weniger abschreckend wirken auf Leser, die genauso gut etwas anderes tun könnten als Lesen. Es führt allerdings auch dazu, dass ein eigentlich hübscher Text wie aufgedunsen wirkt, etwas verquasselt, ein bisschen quallig.
BIRTHE MÜHLHOFF
Adèle Rosenfeld:
Quallen haben keine Ohren. Roman. Aus dem Französischen von Nicola Denis. Suhrkamp, Berlin 2023.
221 Seiten, 23 Euro.
Die französische Schriftstellerin Adèle Rosenfeld.
Foto: JF PAGA
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In Adèle Rosenfelds schönem Debütroman verliert eine Frau das Gehör. Aber was hat sich der Verlag bei der Aufmachung gedacht?
Zwei Möglichkeiten gibt es für einen Roman heute, sich gegen die Konkurrenz anderer Medien zu behaupten: Entweder er will poetisch sein oder er setzt auf die Relevanz eines gesellschaftlichen Themas. Von einem Film oder einer Serie unterscheidet sich ein Buch darin, dass er mit dem geschriebenen Wort spielen kann oder uns in das innere Erleben eines Betroffenen entführt. „Quallen haben keine Ohren“ ist ein Roman, der beides versucht. Das Debüt der 1986 geborenen Autorin Adèle Rosenfeld, aus dem Französischen übersetzt von Nicola Denis, ist ein Roman über Taubheit – und was Taubheit mit der Sprache anrichtet und mit der Psyche.
Die Erzählerin Louise ist Mitte zwanzig, als sie in einem Sommer ihr Gehör fast vollständig verliert. Damit verlässt sie das Zwischenreich, in dem sie sich bislang befand: Seit ihrer Kindheit hörte sie sehr schlecht, aber immerhin gut genug, um sich mit ihrem Hörgerät den Hörenden zuzurechnen. Und ihr Handicap zu überspielen. Nun erlebt sie an ihrem eigenen Körper einen unaufhaltsamen, unerklärlichen Niedergang. Die Ärzte wissen keine Erklärung, aber eine Lösung: Ein Cochlea-Implantat soll einen Teil ihrer Hörkraft zurückbringen, wenn auch das natürliche Gehör dafür unwiederbringlich weichen muss.
Louises Freund Thomas ist entzückt, „ein bionisches Wesen auf dem Weg in den Transhumanismus zu begleiten“, Louise selbst ist skeptischer. Es quält sie die Vorstellung, sie könne sich durch die Technologie von sich selbst entfremden. Und geht nicht auch etwas verloren, wenn man einen Verlust aufhält? Einmal stellt sie sich die Stadtgeräusche vor, die nach einer erfolgreichen Operation wieder auf sie eintrommeln würden, so laut in ihrem Kopf, „als liefe die ganze Stadtautobahn dort zusammen“. Schöner fände sie es, sie könnte hören, „wie Thomas mir von unserer neuen, schalldichten Wohnung erzählt“.
Sie beginnt ein „Klangherbarium“ anzulegen. Mit Worten versucht sie verschiedene Sounds einzufangen, um sie später, wenn sie das Implantat trägt, wieder heraufbeschwören zu können. Imaginäre Pflanzennamen denkt sie sich aus, das „Rankenscheu-Schwarzauge“ zum Beispiel, wobei sie sie nicht so nennt, sondern „miraginär“. Als gäbe es neben der Vorstellungskraft noch eine andere Fähigkeit, die ans Traumhafte grenzt. Ein Wort, das es durchaus verdient hätte, in den Duden aufgenommen zu werden.
Wie Adèle Rosenfeld in Interviews erzählt, handelt es sich um eine literarische Verarbeitung ihrer eigenen Geschichte. Die Sachkenntnis und die sehr detailliert beschriebenen Empfindungen lassen das beim Lesen auch vermuten. Wie gut Louise andere Menschen im Gespräch versteht, hängt nicht nur von deren Artikulation ab, sondern tatsächlich auch davon, ob sie sich mit ihnen wortwörtlich auf einer gemeinsamen Wellenlänge befindet. Je vertrauensvoller das Verhältnis zu einem Menschen, desto leichter fällt ihr die Kommunikation.
Aber wie bitte soll sie dieses Mysterium den gesunden Menschen erklären? Ihre eigensinnige, witzige Freundin Anna versteht sie nahezu problemlos, die aufgebrachten, verunsicherten Bürger am Schalter des Rathauses, in dem sie eine Anstellung findet, hingegen kaum. Bald schon wird sie von der Abteilung für Geburtsurkunden in ein Archiv versetzt, um einen Berg aus Sterbedaten von Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg zu digitalisieren.
In Frankreich landete das Buch auf der Shortlist des Prix Goncourt für Debütromane und erhielt den Prix Fénéon 2022. Tatsächlich ist es erstaunlich, wie gut es der Autorin gelingt, über das stumme Medium des Buches die Erfahrung von Hörverlust nachvollziehbar zu machen. Und tatsächlich führt das auch zu einer Vielzahl an poetischen Formulierungen und Bildern. Louise erscheint es, als seien Konsonanten „Spalierstangen, während die Vokale sich an den Stängeln emporranken“. An den Konsonanten macht sie die Kontur von Worten fest, mit ihnen versucht sie zu erraten, sich im wahrsten Sinn des Wortes einen Reim darauf zu machen, was die Leute sagen. Die Berechenbarkeit von Smalltalk ist dabei bezeichnend, die vielen Missverständnisse ebenfalls. Eines davon: dass Hörende ihr Lippenlesen als Flirt werten.
Und dann kommt beim Lesen irgendwann der Punkt, an dem das Prinzip klar ist. Natürlich kommt es zu einem Gang ins Naturkundemuseum, in dem auch die Sinnesorgane von Quallen exponiert sind, die, wie der Titel schon sagt, keine Ohren haben. Es gibt nichts mehr zwischen den Zeilen zu lesen, außer das zugrunde liegende Konzept, das man zum Beispiel auch vom Debütroman der Schweizerin Gianna Molinari kennt: Roman über das Leben einer Person, der ihr Leben zunehmend entgleitet. Dass sich alle Fäden zunehmend ins Ungefähre auflösen, dient dann außerdem als erzählerischer Begründungszusammenhang für fantasievoll ausgestaltete, imaginäre (oder miraginäre?) Begleiter – meist in Gestalt eines Wolfs oder Hunds (bei Molinari ein Wolf, bei Rosenfeld ein Hund). Durch den Kopf von Louise spuken außerdem ein betrunkener Soldat und eine Botanikerin, deren Haut sich zunehmend in Rinde verwandelt. Je weiter der Hörverlust fortschreitet, desto weniger Bedeutung scheint alles zu haben, und das ist leider auch das Gefühl, das dabei den Leser überkommt. Dass Quallen keine Ohren haben – ist das nun poetisch oder trivial?
Vielleicht irritiert auch das Missverhältnis zwischen Inhalt und Form. Es ist ein schöner, kleiner Roman von einer völlig unbekannten Autorin – bis auf ein Videointerview findet man im Internet kaum etwas über sie. Aber wie so oft ist daraus ein stattliches Buch gemacht worden, mit großer Schrift und vielen halbleeren Seiten – als würde sich nicht nur der monetäre, sondern auch der poetische Wert eines Buches steigern können, indem man die Seitenzahl erhöht. Vielleicht sollen Bücher auch weniger abschreckend wirken auf Leser, die genauso gut etwas anderes tun könnten als Lesen. Es führt allerdings auch dazu, dass ein eigentlich hübscher Text wie aufgedunsen wirkt, etwas verquasselt, ein bisschen quallig.
BIRTHE MÜHLHOFF
Adèle Rosenfeld:
Quallen haben keine Ohren. Roman. Aus dem Französischen von Nicola Denis. Suhrkamp, Berlin 2023.
221 Seiten, 23 Euro.
Die französische Schriftstellerin Adèle Rosenfeld.
Foto: JF PAGA
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»Über all die Kapitel hinweg gelingt es der Autorin, die Leserinnen und Leser mit in Louises Unsicherheit zu ziehen. Ihre mentale Zerbrechlichkeit wird Seite um Seite greifbarer ...« Anton Beck NZZ am Sonntag 20231130