Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Vom vielfältigen und eigenwilligen Gebrauch der Menschenrechte im 20. Jahrhundert
An Quellensammlungen zur Dokumentation der Geschichte der Menschenrechte besteht an sich kein Mangel. Die aus einem Forschungsprojekt des Arbeitskreises "Menschenrechte im 20. Jahrhundert", dem vor allem Historiker und einige Juristen angehören, hervorgegangenen zwei Sammelbände verfolgen aber ein besonderes Erkenntnisinteresse: Sie verstehen sich als "Versuch, die Vieldeutigkeit und Widersprüchlichkeit, aber auch die besondere Rolle von Menschenrechten im 20. Jahrhundert erkennbar zu machen". Zu diesem Zweck werden in einem Band dreizehn einschlägige, teils geläufige, teils weniger bekannte Texte präsentiert und kommentiert, die in ihrer Genese, ihrem Inhalt und ihrer Wirkungsgeschichte einen Schlüssel zum Verständnis der Geschichte der Menschenrechte im 20. Jahrhundert bieten sollen. Der komplementär dazu angelegte zweite Band enthält lebensgeschichtliche Interviews, die in biographischer Konkretion verdeutlichen sollen, warum und wie sich Politiker, Juristen und Aktivisten aus unterschiedlichen Weltregionen zu unterschiedlichen Zeitpunkten auf Menschenrechte beriefen, was sie darunter verstanden und unter welchen politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen dies geschah.
Die Auswahl der vorgestellten Dokumente ist allerdings auch dann nicht ohne weiteres nachvollziehbar, wenn man berücksichtigt, dass sich der Band ausdrücklich nicht als "Kanon" mit dem Anspruch versteht, die wichtigsten Beiträge zur Weiterentwicklung des Menschenrechtskonzepts zu präsentieren, und auch die Wirkmächtigkeit eines Dokuments kein primäres Auswahlkriterium sein sollte. Um als Schlüsseldokument gelten zu können, muss es aber doch für das Verständnis oder die praktische Anwendung von Menschenrechten Relevanz besitzen. Das aber gilt nur für einige, nicht für alle hier aufgeführten und historisch eingeordneten Dokumente. Die Erklärung der Französischen Liga für Menschenrechte von 1936 lässt sich ebenso wie das "Statement of Essential Human Rights" von 1944 als Wegmarke der Entwicklung eines zunehmend internationalisierten und insbesondere in sozialer Hinsicht weiter ausgeformten Menschenrechtsverständnisses im 20. Jahrhundert deuten, zumal beide Dokumente die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 in gewissem Umfang beeinflusst haben. Die Entschließung der ersten Tagung der deutschen Völkerrechtslehrer von 1947 ist zwar ein interessantes zeitgeschichtliches Dokument, weil sie den Versuch darstellt, den Anschluss an die internationale menschenrechtliche Entwicklung herzustellen und zugleich die Menschenrechte für die Deutschen zu reklamieren und in ihrer Schutzwirkung gegen die Alliierten in Stellung zu bringen; sie entfaltete aber keine nachhaltige Wirkung. Das war bei dem 1961 im "Observer" erschienenen Artikel "The Forgotten Prisoners" von Peter Benenson, dem Gründungsvater von Amnesty International, definitiv anders, wenngleich der menschenrechtliche Bezug hier anfänglich nur schwach ausgeprägt war.
Warum die beiden UN-Menschenrechtspakte von 1966, 1976 in Kraft getreten, in die Sammlung Eingang gefunden haben, ist vor dem Hintergrund des auf die politischen und ideologischen Antriebskräfte fokussierten Ansatzes nicht verständlich, waren es doch weit weniger diese Verträge als der berühmte Korb 3 der KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975, der die Menschenrechtsentwicklung bis zur weltpolitischen Wende 1989/90 maßgeblich beeinflusst hat, insbesondere zur Bildung zahlreicher Helsinki-Gruppen in den Staaten des Ostblocks führte. Statt des wenig aussagekräftigen Briefs Moskauer Dissidenten an Amnesty International von 1973 hätte daher das Gründungsdokument der "Öffentlichen Gruppe zur Förderung der Beschlüsse von Helsinki", der Moskauer Helsinki-Gruppe, von 1976 aufgenommen werden sollen.
Während Jimmy Carters Rede zur amerikanischen Außenpolitik von 1976 paradigmatisch als Beispiel für den Versuch gelten kann, den Schutz der Menschenrechte als außenpolitisches Ziel zu verankern, muss der Versuch, ein Kollektivrecht auf Entwicklung zu etablieren, als gescheitert angesehen werden.
Die im Kontext der Produktion amerikanischer Firmen in und ihrer Handelsbeziehungen mit Südafrika unter seinem Apartheid-Regime entwickelten "Sullivan Principles" von 1977 sind unbestreitbar ein Schlüsseltext für die Etablierung neuer Formen menschenrechtlicher Verantwortungszuschreibung an Unternehmen. Dagegen behandeln die UN-Resolution über menschenrechtliche Aspekte der Familienplanung von 1968, in der die staatliche Kontrolle der Bevölkerungsentwicklung in problematischer Weise menschenrechtlich legitimiert wird, und die Erklärung eines Ausschusses des Europaparlaments über Prostitution und Menschenrechte, die als bereichsspezifischer Konkretisierungsversuch gedeutet werden kann, doch sehr spezielle Themen, die allenfalls Belege für neu erschlossene Anwendungsfelder und damit die Diversität des Menschenrechtsdiskurses sind.
Die Erklärung der Generalversammlung von 1998 über das Recht und die Pflicht von Einzelpersonen und Gruppen, die allgemein anerkannten Menschenrechte und Grundfreiheiten zu fördern und zu schützen, soll die menschenrechtlichen Aktivitäten von Individuen und NGOs absichern, indem solches Engagement selbst in den Rang eines Menschenrechts erhoben wird. Die Menschenrechtsentwicklung im 20. Jahrhundert hat sie nicht (mehr) geprägt.
Das schließlich noch in die Sammlung aufgenommene "Weißbuch Menschenrechte in China" von 1991 stellt den propagandistischen Versuch der Volksrepublik dar, nach dem Tiananmen-Massaker von 1989 menschenrechtlich aus der Defensive zu kommen, indem das eigene, soziale und wirtschaftliche Rechte in den Vordergrund stellende Verständnis der Menschenrechte dargelegt und mit einer Fortschrittsgeschichte verbunden wird. Neue inhaltliche Aspekte weist das Dokument nicht auf.
Die Bilanz des Dokumentenbands fällt daher gemischt aus: Einige Dokumente wären mangels wirklicher Relevanz verzichtbar gewesen, andere wichtige fehlen. So vermisst man unter den Schlüsseltexten die Erklärung über die Religionsfreiheit ("Dignitatis humanae"), die vom Zweiten Vatikanischen Konzil formuliert und am 7. Dezember 1965 von Papst Paul VI. promulgiert wurde. Über die eminente Bedeutung dieser Anerkennung der Religionsfreiheit als Menschenrecht durch die katholische Kirche kann kein Zweifel bestehen. Auch die für die Entwicklung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wichtige Rolle internationaler Gerichte bei der Fortschreibung von Menschenrechten bleibt völlig ausgeblendet; sie hätte an einzelnen Urteilen beispielhaft festgemacht werden können.
Die lebensgeschichtlichen Interviews belegen noch einmal die Vieldeutigkeit und semantische Offenheit des menschenrechtlichen Diskurses, die es erlaubt, daran in den unterschiedlichsten Konstellation anzuknüpfen und mit "den" Menschenrechten jedes politisches Engagement zu begründen.
Insgesamt zeichnet die Dokumentation, vielleicht unbeabsichtigt, das Bild einer Menschenrechtshypertrophie. Mit Kollektivinteressen verwoben, sind die Menschenrechte zum Anker der Sehnsucht nach einer gerechten Weltordnung geworden.
CHRISTIAN HILLGRUBER.
Daniel Stahl (Hrsg.): "Quellen zur Geschichte der Menschenrechte". Lebensgeschichtliche Interviews. Band 1.
Wallstein Verlag, Göttingen 2021. 548 S., geb., 46,- [Euro].
Daniel Stahl (Hrsg.): "Quellen zur Geschichte der Menschenrechte". Kommentierte Schlüsseltexte. Band 2.
Wallstein Verlag, Göttingen 2021. 398 S., geb., 46,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main