Yuko Tsushima gewann in ihrer Heimat zahlreiche Preise, ihr Werk wurde in zwölf Sprachen übersetzt. Mit ›Räume des Lichts‹ wird sie nun endlich auch hierzulande wiederentdeckt. Der 1979 erstmals erschienene Roman ist ein zeitloses Meisterwerküber Liebe, Mutterschaft und den Kampf um die Kontrolle über das eigene Leben. Es ist die einzige Wohnung, die sie finden kann: die letzte Etage eines Bürogebäudes mit lichtdurchfluteten Räumen. Nachdem ihr Mann sein Leben allein weiterführen und sie mit ihrer zweijährigen Tochter nicht in den Haushalt der Mutter zurückkehren will, zieht sie kurzerhand dort ein. Während sie ein Matratzenlager baut, wirft das Mädchen Spielzeuge aus dem Fenster. Während sie zu verhindern versucht, dass ein Netz vor den Fenstern angebracht wird, plagen ihre Tochter Albträume. Während sie ihr Kind in den Armen hält, wünscht sie sich, ebenfalls von jemandem in den Arm genommen zu werden. Immer wiederverliert sie die Bodenhaftung, wenn ihr Chef keine weiterenKrankheitstage zulässt, wenn ihr Noch-Ehemann von einer Scheidung nichts wissen will, wenn ihre Wut sie in die Bar treibt,während ihre Tochter in der Wohnung schläft. Aber dann sind da auch die Dachterrasse, die sich nach einem Wasserschaden in einen Pool verwandelt, das Volksfest mit Feuerwerk und Zuckerwatte, das Licht um sie herum – und der tiefe Wunsch, ihr Leben Stück für Stück neu zusammenzusetzen.
»Bemerkenswerte Literatur!« The New Yorker 20221102
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Steffen Gnam ist begeistert von der anhaltenden Strahlkraft von Yuko Tsushimas im Original 1979 erschienenen Roman. Die japanische Autorin erzählt hier in starker autobiografischer Prägung, so Gnam, vom schmerzlichen Emanzipationsprozess einer alleinerziehenden Mutter im Jahr von der Trennung bis zur Scheidung von ihrem Ehemann. Wie sozialkritisch "listig" und psychologisch feinsinnig Tsushima dabei die neue Lebenssituation ihrer Protagonistin zwischen patriarchalen Machtstrukturen und konservativen Belehrungen ausmisst und dabei davon erzählt, wie die Protagonistin die Beziehung zu ihrer dreijährigen Tochter abseits einer normativen Mutterrolle neu definiert, findet der Kritiker packend. Ein "tiefenscharfes" Stück feministischer Literatur, schwärmt Gnam, das sich an Jun'ichirō Tanizaki und Virginia Woolf orientiert und außerdem die "janusköpfige Moderne" in den Blick nimmt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.07.2023Wehmut und Wut
Yuko Tsushimas Scheidungsroman
"Wird meine Erschöpfung, wenn ich ihm irgendwann das erwachsene Kind übergebe, nur noch als ein Andenken übrig bleiben?" Die japanische Autorin Yuko Tsushima (1947 bis 2016) beleuchtet in ihrem feministisch grundierten, von listiger Sozialkritik geprägten Werk mit Vorliebe Alleinerziehende, Außenseiter, Randständige und Schattenexistenzen in ihrem von patriarchalen und kapitalistischen Irrlichtern geprägten Land.
Tsushimas Frühwerk wie auch der vorliegende, in Japan 1979 erschienene Roman ist stark autobiographisch gefärbt. Es verhandelt Topoi wie die fehlende Vaterfigur - ihr Vater, der berühmte Schriftsteller Osamu Dazai, beging Selbstmord, als sie ein Jahr alt war -, den Tod ihres geistig behinderten Bruders 1960 und ihre Scheidung 1976. Im Spätwerk erweitert sich die Sicht auf die planetarisch Unterprivilegierten und Unterdrückten infolge von Krieg, Kolonialismus oder Machenschaften der Industrie oder Atomwirtschaft.
"Räume des Lichts" ist die Rekonstruktion des ersten Jahres einer jungen Ich-Erzählerin als alleinerziehende Mutter von der Trennung bis zum Vollzug der Scheidung und das Psychogramm eines Scheidungskinds in zwölf Episoden. Der Roman zeichnet das Gefühlschaos und Emanzipationsprozesse beim Kampf um das Sorgerecht für die dreijährigen Tochter nach, zwischen Wehmut und Wut, Hoffnung auf Wiederannäherung und Desillusionierung ob des chauvinistischen Verhaltens des Noch-Ehemanns. Als literarische Einflüsse lassen sich Jun'ichiro Tanizakis "Lob des Schattens" oder "Ein Zimmer für sich allein" von Virginia Woolf ausmachen. Wie bei Woolf gereicht ein neues Habitat - in diesem Fall eine lichtdurchflutete Wohnung in der obersten Etage eines Bürohauses - zum Symbol der Emanzipation und Frauenbefreiung.
Als der Ehemann die Tochter zum Entsetzen der Protagonistin unangekündigt vom Kindergarten für einen Ausflug abholt, wird sie von den konservativ-moralinsauren Erzieherinnen belehrt, dass es das Schlimmste sei, wenn Kinder sich in einer "ungeklärten Situation" befänden. Notorisches Zuspätkommen bei der Abgabe der Tochter im Kindergarten und bei der Arbeit, vernachlässigte Mutterpflicht und Kneipenbesuche, während die Tochter schläft, bei andererseits intensivem gemeinsamen Erleben kleiner Freuden bezeugen kreatives Austarieren sozialer Rollen und tradierter Codes der Weiblichkeit.
Im schmerzlichen Emanzipationsprozess erkennt die Heldin die Unmöglichkeit einer Rückkehr zum Status quo ante. Tiefenscharf skizziert Tsushima die Gemengelage ihrer Erzählerin zwischen Ausgrenzung und Demütigungen, schlechtem Gewissen und Vertrauen auf einen Neubeginn. Erbe Tanizakis ist das Spiel mit Schattierungen des Lichts als Ausdruck einer janusköpfigen Moderne - die Schönheit des roten Lichts, das sie vom Hausdach aus bewunderte, rührt von der Explosion einer Chemiefabrik - und von im Sinnvakuum des Wirtschaftsprimats verlorenen Existenzen: "Die Klagen der einzelnen Schatten schwebten wie fahler Rauch im Raum", heißt es in einer Traumsequenz.
Zuletzt ist es die Heldin selbst, die die Termine bei der Schlichtungsstelle ("Ein Ort, an dem ich nicht sein sollte, und ein Ich, das hier nicht sein sollte") vereinbart, die Scheidung vorantreibt und die Initiative übernimmt. Sie erkennt, dass auch eine Mutter, die mit ihrer Tochter durch Pfützen springt und auf Normen pfeift, eine gute Mutter sein kann. Die Tochter wiederum beginnt, auch ein Elternteil als in sich vollwertig zu begreifen. Es ist die Erzählung einer Selbstfindung jenseits klassischer Weiblichkeit und patriarchaler Fixpunkte.
Nach einem Jahr, in dem sie resilient wird gegen Blicke, Sprüche und Mitleid von der falschen Seite, zieht die Ich-Erzählerin aus dem hellen Gebäude wieder aus. Sie kann es mit ihrer Tochter nun auch in einem düsteren Mietshaus aushalten: "Räume des Lichts" ist ein Beispiel für subtil aufbegehrende und im existenziellen Dunkel als Merkmal moderner Erschöpfung nachhaltig funkelnde Frauenliteratur. STEFFEN GNAM
Yuko Tsushima: "Räume des Lichts". Roman.
Aus dem Japanischen von Nora Bierich. Arche Literatur Verlag, Zürich 2023. 208 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Yuko Tsushimas Scheidungsroman
"Wird meine Erschöpfung, wenn ich ihm irgendwann das erwachsene Kind übergebe, nur noch als ein Andenken übrig bleiben?" Die japanische Autorin Yuko Tsushima (1947 bis 2016) beleuchtet in ihrem feministisch grundierten, von listiger Sozialkritik geprägten Werk mit Vorliebe Alleinerziehende, Außenseiter, Randständige und Schattenexistenzen in ihrem von patriarchalen und kapitalistischen Irrlichtern geprägten Land.
Tsushimas Frühwerk wie auch der vorliegende, in Japan 1979 erschienene Roman ist stark autobiographisch gefärbt. Es verhandelt Topoi wie die fehlende Vaterfigur - ihr Vater, der berühmte Schriftsteller Osamu Dazai, beging Selbstmord, als sie ein Jahr alt war -, den Tod ihres geistig behinderten Bruders 1960 und ihre Scheidung 1976. Im Spätwerk erweitert sich die Sicht auf die planetarisch Unterprivilegierten und Unterdrückten infolge von Krieg, Kolonialismus oder Machenschaften der Industrie oder Atomwirtschaft.
"Räume des Lichts" ist die Rekonstruktion des ersten Jahres einer jungen Ich-Erzählerin als alleinerziehende Mutter von der Trennung bis zum Vollzug der Scheidung und das Psychogramm eines Scheidungskinds in zwölf Episoden. Der Roman zeichnet das Gefühlschaos und Emanzipationsprozesse beim Kampf um das Sorgerecht für die dreijährigen Tochter nach, zwischen Wehmut und Wut, Hoffnung auf Wiederannäherung und Desillusionierung ob des chauvinistischen Verhaltens des Noch-Ehemanns. Als literarische Einflüsse lassen sich Jun'ichiro Tanizakis "Lob des Schattens" oder "Ein Zimmer für sich allein" von Virginia Woolf ausmachen. Wie bei Woolf gereicht ein neues Habitat - in diesem Fall eine lichtdurchflutete Wohnung in der obersten Etage eines Bürohauses - zum Symbol der Emanzipation und Frauenbefreiung.
Als der Ehemann die Tochter zum Entsetzen der Protagonistin unangekündigt vom Kindergarten für einen Ausflug abholt, wird sie von den konservativ-moralinsauren Erzieherinnen belehrt, dass es das Schlimmste sei, wenn Kinder sich in einer "ungeklärten Situation" befänden. Notorisches Zuspätkommen bei der Abgabe der Tochter im Kindergarten und bei der Arbeit, vernachlässigte Mutterpflicht und Kneipenbesuche, während die Tochter schläft, bei andererseits intensivem gemeinsamen Erleben kleiner Freuden bezeugen kreatives Austarieren sozialer Rollen und tradierter Codes der Weiblichkeit.
Im schmerzlichen Emanzipationsprozess erkennt die Heldin die Unmöglichkeit einer Rückkehr zum Status quo ante. Tiefenscharf skizziert Tsushima die Gemengelage ihrer Erzählerin zwischen Ausgrenzung und Demütigungen, schlechtem Gewissen und Vertrauen auf einen Neubeginn. Erbe Tanizakis ist das Spiel mit Schattierungen des Lichts als Ausdruck einer janusköpfigen Moderne - die Schönheit des roten Lichts, das sie vom Hausdach aus bewunderte, rührt von der Explosion einer Chemiefabrik - und von im Sinnvakuum des Wirtschaftsprimats verlorenen Existenzen: "Die Klagen der einzelnen Schatten schwebten wie fahler Rauch im Raum", heißt es in einer Traumsequenz.
Zuletzt ist es die Heldin selbst, die die Termine bei der Schlichtungsstelle ("Ein Ort, an dem ich nicht sein sollte, und ein Ich, das hier nicht sein sollte") vereinbart, die Scheidung vorantreibt und die Initiative übernimmt. Sie erkennt, dass auch eine Mutter, die mit ihrer Tochter durch Pfützen springt und auf Normen pfeift, eine gute Mutter sein kann. Die Tochter wiederum beginnt, auch ein Elternteil als in sich vollwertig zu begreifen. Es ist die Erzählung einer Selbstfindung jenseits klassischer Weiblichkeit und patriarchaler Fixpunkte.
Nach einem Jahr, in dem sie resilient wird gegen Blicke, Sprüche und Mitleid von der falschen Seite, zieht die Ich-Erzählerin aus dem hellen Gebäude wieder aus. Sie kann es mit ihrer Tochter nun auch in einem düsteren Mietshaus aushalten: "Räume des Lichts" ist ein Beispiel für subtil aufbegehrende und im existenziellen Dunkel als Merkmal moderner Erschöpfung nachhaltig funkelnde Frauenliteratur. STEFFEN GNAM
Yuko Tsushima: "Räume des Lichts". Roman.
Aus dem Japanischen von Nora Bierich. Arche Literatur Verlag, Zürich 2023. 208 S., geb., 22,- Euro.
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