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Carsten Kretschmann untersucht die Blütezeit naturhistorischer Museen in Deutschland
Beim Lesen dieses Buches über die Geschichte deutscher Naturkundemuseen kommt man erst einmal aus dem Staunen nicht mehr heraus: Da schenkt die Reederei Lloyd dem Bremer Museum naturhistorische Sammlungen im Wert von 50 000 Mark; ein Privatmann spendet dem Frankfurter Senckenberg-Museum ein ganzes Diorama; und in Berlin vermacht ein Herr Praetel dem Naturkundemuseum seine Muschelsammlung und bekommt dafür einen Orden. Man mag gar nicht glauben, daß es hier um Naturkundemuseen geht und nicht etwa um Kunstsammlungen. Der Kunstmäzen ist eine vertraute Figur: Er stiftet, schenkt und spendet und erhält dafür Prestige oder Ansehen - kurz, das, was Bourdieu das "symbolische Kapital" des Kulturbetriebs genannt hat. Aber der Naturkundemäzen?
Um dieses Phänomen auch im Bezug auf Naturkundemuseen zu finden, muß man in der Tat bis ins neunzehnte Jahrhundert zurückgehen, den Zeitraum, den sich Kretschmanns Studie vorgenommen hat. Er schließt damit an Arbeiten an, die in den letzten Jahren den Aufstieg der Naturwissenschaften als bürgerliche Bewegung nachgezeichnet haben. Man denke etwa an Daums bahnbrechende Studie zur "Wissenschaftspopularisierung im neunzehnten Jahrhundert" oder Kösterings ausgezeichnete Monographie über "Das Naturkundemuseum des deutschen Kaiserreichs".
Seitdem kann als gesicherte Erkenntnis gelten: Die Wissenschaft verdankt ihren Siegeszug der Popularisierung, nicht umgekehrt. Das Untersvolkbringen von Wissenschaft setzte nicht nachträglich ein, um Fachwissen besser verständlich zu machen. Unters Volk gebracht wurde Wissenschaft von Anfang an, und ebendieser Aktivismus war ihr Erfolgsrezept. Bei Kretschmann steht dieser Zusammenhang ebenfalls im Zentrum: Laien, Experten, Popularisierer, Forscher und ihre Rolle im Naturkundemuseum. Im Gegensatz zu Köstering, deren Untersuchung mit der Gründung des Deutschen Reichs 1871 beginnt, behandelt Kretschmann auch die erste Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts und nimmt vier Fallbeispiele in den Blick: Frankfurt, Bremen, Karlsruhe und Berlin.
Wie Kretschmann überzeugend argumentiert, war das Naturkundemuseum ein zentraler Ort der Wissenschaftspopularisierung. Die Geschichte dieser vier Häuser ist im einzelnen vielseitig, dennoch zeichnet sich ein roter Faden ab: Den Erfolg bescherte die enge Zusammenarbeit von Experten und Laien. Kretschmann kann zeigen, daß es bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein nicht ungewöhnlich war, einen Laien als Direktor eines Naturkundemuseums einzusetzen. Zugleich konnten es durchaus Fachwissenschaftler sein, die am heftigsten für Popularisierung stritten: für die Öffnung der Museen an Sonntagen, freien Eintritt oder Schülerführungen.
Mit diesen Forderungen, die uns heute - etwa Sonntagsöffnungen - selbstverständlich scheinen, setzten sich die Naturkundler im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert an die Spitze der Museumsbewegung. Ähnliche Debatten folgten in den Kunstmuseen erst ein gutes Jahrzehnt später, als Import der naturkundlichen Museumsreform. Eine Museumsreform, wie Kretschmann mit zahlreichen Beispielen belegen kann, die sich als Sozialreform verstand: das Naturkundemuseum als Volksbildungsstätte. Und wer sich im Bürgertum für modern und fortschrittlich hielt, wollte daran teilhaben.
Wie vielfältig das bürgerliche Engagement ausfiel, welche Bandbreite an Vorstellungen mit Natur verknüpft wurde, läßt sich facettenreich in diesem Buch nachlesen. Anhaltend überraschend ist jedoch das Phänomen des naturkundlichen Mäzenatentums, das in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg plötzlich verschwinden sollte.
In diesem Ergebnis liegt der Stoff für neue Untersuchungen. Man liest von den feierlichen Eröffnungsansprachen, Festakten und Preisverleihungen, die noch zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts zwischen Dinosaurierskeletten und ausgestopften Tieren stattfanden. Längst ist das prestigebewußte Bürgertum in Kunstmuseen und Galerien weitergezogen, ins Naturkundemuseum schickt man heute die Kinder, staatliche wie private Mittel fließen für die Kunst, nicht für die Naturkunde. Warum eigentlich? Wie das Naturkundemuseum vom Vorreiter der Museumsreform zum Schlußlicht werden konnte, würde man als nächstes gerne lesen.
JULIA VOSS
Carsten Kretschmann: "Räume öffnen sich". Naturhistorische Museen im Deutschland des neunzehnten Jahrhunderts. Akademie Verlag, Berlin 2006. 365 S., geb., 12 Abb., 59,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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