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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Rafael Seligmanns mitreißender biographischer Roman "Rafi, Judenbub" schärft die Sinne
Im Jahr 1957 kommt Rafael Seligmann mit seinen Eltern von Tel Aviv nach Deutschland. Er ist zehn Jahre alt. Für seinen Vater Ludwig bedeutet das Land, aus dem er und sein Bruder vor den Nationalsozialisten 1933 nach Israel fliehen mussten, noch immer eine Idee von Heimat. Für Rafael Seligmanns Mutter Hannah ist Deutschland das Land, von dem aus die Nationalsozialisten die Mitglieder ihrer Familie ermordeten, und das ist es für sie geblieben.
Es beginnt in Ichenhausen, einer Gemeinde im bayerisch-schwäbischen Landkreis Günzburg, wo der Vater aufwuchs: "In Ichenhausen stehen mein Elternhaus und unsere Barocksynagoge mit ihrer prächtigen Himmelsdecke. Der einstige Tempel dient jetzt als Feuerwehrstation, und im Seligmann-Haus wohnen fremde Leute. Die jüdische Gemeinde unserer Stadt ist ausgelöscht. 1942 deportierten die Nazis alle verbliebenen Juden Ichenhausens nach Osteuropa. Keiner überlebte." Ludwig trifft dort seine einstigen Fußballkameraden wieder, eine beklemmende Begegnung. Die Männer, alle wie er um die fünfzig, prahlen mit ihren angeblichen guten Taten für die einstigen jüdischen Mitbürger, bis ein älterer Herr, der in einer Ecke der Gaststube sitzt, erst vernehmlich sagt: "Naaaa!", und dann: "Darfsch ned alles glaube, was die Kerle dir weismachen wolled, Ludwig Seligmann." Diese Entlarvung macht die einstigen Kameraden verstummen. Es klingt wie ein Menetekel der deutschen Nachkriegszeit, dem er noch hinzufügt: "Gib Obachd, Ludwig! Ihr Jud'n habt's nie einfach g'habt. Aber jetzt ist's für euch hier besonders hart."
Der weiche Dialekt kann dieser Wahrheit nicht ihre Schärfe nehmen. Als Ludwig niedergeschlagen ins Hotelzimmer zu Hannah zurückkehrt, sagt sie zu ihm: "Du darfst nicht versuchen, mit den Nazis auskommen zu wollen, Ludwig." Doch er hält ihr entgegen: "Du wirst dich mit den Menschen in Deutschland arrangieren müssen, Hannah. Sonst gehst du hier zugrunde und reißt mich und unser Kind mit."
Das steht im ersten Kapitel von Rafael Seligmanns Roman "Rafi, Judenbub", das "Deutschland" überschrieben ist. Es nimmt sich aus wie ein Vorspiel auf dem Theater, mit ihren Stimmen haben Vater und Mutter gesprochen. Das Buch ist der letzte Teil von Seligmanns Trilogie über das Schicksal seiner Familie, nach "Lauf, Ludwig, lauf! - Eine Jugend zwischen Synagoge und Fußball" in der deutschen Provinz und "Hannah und Ludwig - Heimatlos in Tel Aviv". Der Untertitel des aktuellen Bands, "Die Rückkehr der Seligmanns nach Deutschland", klingt fast wie eine Hoffnung, die Sehnsucht nach einem Zugehörigkeitsgefühl. Doch die Wirklichkeit in der prosperierenden Bundesrepublik sieht bitter anders aus.
Seligmann bricht die Erzählperspektive dreifach. Neben Rafael, also ihm selbst, kommen in den fünfzehn Kapiteln und einem Epilog seine Eltern mit ihrer je eigenen Sicht auf die Geschehnisse zu Wort. Es ist also keine Autobiographie des "Judenbubs", als der er gleich in der Grundschule wegen seiner "jüdischen Intelligenz" bezeichnet wird. Es ist vor allem nichts so wenig wie Rollenprosa. Denn er unterfüttert die Kommentare der Eltern, vorsätzlich, mit seinem späteren Wissen. Das verleiht dem sinnreich konstruierten Buch enorme Dynamik.
"Deutschland wird dir gefallen, Rafi", hatte ihm sein Vater, gegen alle Widerstände der Mutter, versichert. Die Familie zog nach München, in die einstige "Hauptstadt der Bewegung", ist man versucht zu ergänzen. Ein Strang der Handlung wird von Hannah bestimmt, die es als ihre Aufgabe und Verantwortung sieht, zu warnen vor falschem Vertrauen. Die Mutter ist mutig, kriegt den ungestümen Charakter Rafis aber nicht in den Griff, und sie verzeiht ihrem Mann nicht, dass er in Tel Aviv beruflich als Kaufmann nicht Fuß fassen konnte. Sie will dem einzigen Sohn ein solches Scheitern in Deutschland ersparen, was den in seiner Entwicklung auch hemmt. Der Vater Ludwig bildet den Gegenpol. Er ist weich in seinen Gefühlen, deshalb auch ausgenutzt bis zur völligen Erschöpfung auf der Position, die er in der prosperierenden Textilfirma von zwei polnischen Juden, die sich in Auschwitz kennenlernen mussten, angenommen hat.
Der Widerstreit in diesem familiären Mikrokosmos ist konfrontiert mit der herrschenden Realität, in der antisemitische Vorurteile, immer wieder kaschiert als Selbstrechtfertigung oder Geschichtsklitterung, wie Geschwüre dicht unter der Oberfläche aufbrechen. Rafi bekommt das zu spüren, wann immer diese dünne Haut aufreißt. Das erlebt er schon in der Schule, aber er lehnt sich auf: "Im Fernsehen und in Politikerreden heuchelten die Deutschen Bedauern über die ,Naziuntaten'. Es waren keine ,Untaten', es waren Morde. Der Geschichtsunterricht endete nach dem Ersten Weltkrieg. Auf diese Weise ersparten sich die Pauker den Nationalsozialismus. Schuld waren bloß ,die' Nazis, am Ende nur Hitler." Als Rafi auf Wunsch der Mutter, die jede Form der Eingliederung in das von ihr gehasste System ablehnt, eine Lehre als Rundfunk- und Fernsehtechniker beginnt, wiederholt sich diese Erfahrung, nun auf der Ebene mancher seiner Handwerkskollegen. Und als er sich endlich, mit Unterstützung des durch Krankheit gezeichneten Vaters, übers Abendgymnasium bis zum Studium an der Münchner Universität durchgekämpft hat, trifft er selbst dort auf Widerstände, die nicht offen ausgesprochen werden. Seligmann nennt da auch Namen. Einer von ihnen, der ihn zu einer Magisterarbeit ermutigt hatte, lässt ihn aus angeblich formalen Gründen fallen. Ein anderer, diesmal Lehrstuhlinhaber, nimmt ihn schließlich zur Promotion an, die er über "Israels Sicherheitspolitik" schreiben wird.
Weil die persönlichen Erfahrungen des prominenten deutschen Publizisten und Zeithistorikers Seligmann so sprachmächtig eingebettet sind in den gesellschaftspolitischen Kontext der Nachkriegsjahre, liefert er ein veritables Stück Zeitgeschichte der Bundesrepublik, ein Sittenbild deutscher Wirklichkeit. Davor, was Seligmann so mitreißend beschreibt, kann niemand die Augen verschließen. Es reicht bis in eine Gegenwart hinein, in die der Antisemitismus immer wieder einbricht, von fahrlässigem Umgang mit der Sprache bis zu offener Aggression.
Der "Judenbub" Rafi, der sich als Heranwachsender dem Zionismus verpflichtet sah, ist als Rafael Seligmann, als jüdischer Deutscher, hier im Land geblieben. Er fügt seinem Roman, erkenntnisstiftend und hilfreich, am Schluss des Buchs ein jiddisch-hebräisches Glossar an, das sich zum besseren Verständnis seiner Wurzeln immer wieder nachschlagen lässt. Mindestes "Chuzpe" oder "Zores" sind in die deutsche Alltagssprache eingesickert, mit gleichen Bedeutungen. Aber das reicht nicht. Denn Ignoranz und Verdrängung, die zur Floskel verkommene "Unfähigkeit zu trauern" werden vielfältig Gestalt. Der Roman verleiht ihnen Gesichter, Worte und Taten. Seligmanns schnörkellosem literarischen Temperament liegt dabei durchaus Komik, unbedingt Tragikomik, jedenfalls eine eindrucksvolle Portion Selbstironie. All das macht das Unerträgliche, das ihm und seiner Familie als Angehörigen der so furchtbar dezimierten jüdischen Minderheit in der Bundesrepublik zugefügt wurde und wird, beim Lesen nicht leichter hinnehmbar. Aber was Rafi, der "Judenbub", so kraftvoll erzählt und so intensiv, ohne die Hoffnung fahren zu lassen, schärft einmal mehr die Sinne dafür. ROSE-MARIA GROPP
Rafael Seligmann:
"Rafi, Judenbub". Roman.
Langen Müller Verlag, München 2022. 390 S., geb., 25,- Euro.
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