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Mit der Biografie Rahel Varnhagens, einer der außerordentlichsten und bedeutendsten Frauen der ausgehenden Goethezeit, deren Berliner Salon alle Geistesgrößen der Zeit frequentierten, ist Hannah Arendt zugleich ein herausragendes Stück Geschichtsschreibung über das deutsche Judentum im 19. Jahrhundert und das Doppelgesicht der jüdischen Assimilation gelungen.

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Produktbeschreibung
Mit der Biografie Rahel Varnhagens, einer der außerordentlichsten und bedeutendsten Frauen der ausgehenden Goethezeit, deren Berliner Salon alle Geistesgrößen der Zeit frequentierten, ist Hannah Arendt zugleich ein herausragendes Stück Geschichtsschreibung über das deutsche Judentum im 19. Jahrhundert und das Doppelgesicht der jüdischen Assimilation gelungen.

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Autorenporträt
Hannah Arendt, am 14. Oktober 1906 im heutigen Hannover geboren und am 4. Dezember 1975 in New York gestorben, studierte unter anderem Philosophie bei Martin Heidegger und Karl Jaspers, bei dem sie 1928 promovierte. 1933 emigrierte Arendt nach Paris, 1941 nach New York. Von 1946 bis 1948 arbeitete sie als Lektorin, danach als freie Autorin. Sie war Gastprofessorin in Princeton und Professorin an der University of Chicago. Ab 1967 lehrte sie an der New School for Social Research in New York.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Der Schriftsteller Michael Maar verbindet seine Besprechung von Hannah Arendts Buch über Rahel Varnhagen mit einer Hommage auf die vor zweihundertfünfzig Jahren geborene Salonnière, die er für ihre Originalität, ihre Wahrheitsliebe, ihren Esprit und ihr Herz bewundert und in der er ebenso ein Genie der Freundschaft wie eines der Feder erkennt, was sich in ihren unzähligen Briefen niederschlug. Arendt beendete ihr Buch über Rahel Varnhagen, das sie als Habilitationsschrift begonnen hatte, 1938 im Pariser Exil, wie Maar erklärt, erst 1959 erschien es auf Deutsch. Dieser Pioniertat sei zu verdanken, dass Rahel Varnhagen hierzulande nicht noch unbekannter geblieben sei. Doch Maar erkennt in dem Werk vor allem auch ein Zweigespräch unter zwei seelenverwandten Geistesriesinnen.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.03.2021

Keine Bleibe in der Wirklichkeit
Die Kritische Edition von Hannah Arendts Biografie über die Salonnière Rahel Varnhagen
ist auch ein großes Lehrstück darüber, was es bedeutet, ein echtes Gespräch zu führen
VON INSA WILKE
Mitte Februar konnte man erleben, wie ein Gespräch scheitert. Hätten die Einladenden Hannah Arendt gelesen, wäre es vielleicht nicht ganz so schlimm gekommen. Anlass war der zweite Jour Fixe der SPD, ironischerweise unter dem Motto „Kultur schafft Demokratie“. Zu Gast: FAZ-Feuilleton-Chefin Sandra Kegel. Anfangs tauschte man einige Phrasen über die Bedeutung von Kultur aus. Dann ging es auf einmal um etwas.
Hintergrund: Im SZ-Magazin vom 5. Februar hatten sich 185 Schauspieler und Schauspielerinnen geoutet, um eine Debatte um die anhaltende Diskriminierung in unserer heteronormativen Gesellschaft anzustoßen. Kegel bewertete die #actout genannte Aktion als larmoyant und stellte in einem kleinen Kommentar in ihrem Blatt deren Berechtigung infrage. Darauf reagierten nun beim SPD-Jour-fixe die Schauspielerin Bettina Hoppe und der Schauspieler Heinrich Horwitz, der gegen Homophobie engagierte Autor Johannes Kram und der Vorsitzende der queeren SPD Berlin, Alfonso Partisano. Ihnen wurden jeweils drei Minuten zugestanden.
Lässt man #actout, Kegels Kommentar und die Reaktionen darauf beiseite und blickt nur auf dieses Gespräch und seine Struktur, so ergibt sich folgendes Bild: Vier Personen konfrontieren eine Journalistin mit ihren Erfahrungen und mit der Wirkung, die ihr Text hatte. Für die Journalistin eine schwierige Situation, weil die Macht-Konstellation in der Regel eine andere ist. Unsereins ist nicht geübt darin, sich verteidigen zu müssen. Aber von außen betrachtet: Endlich ein wirklicher Gesprächsanfang!
Man gewann dann aber den Eindruck: Eigentlich war an ein echtes Gespräch gar nicht gedacht, sonst hätten sich die Gastgeber für eine Moderation vorbereitet und Ihren Gast auf die Auseinandersetzung eingestellt. Beides aber war augenscheinlich nicht der Fall. Es wurde vielmehr ein Lehrstück geboten, das vom Gegenteil einer Gesprächsabsicht handelte, weil die Einladenden, unterstützt von einem weiteren ehemaligen Verleger, nicht von ihrer Diskursmacht lassen wollten.
Diskursmacht hat, wer länger als drei Minuten reden darf, wer andere unterbrechen und sogar stumm stellen darf, wer ohne Begründung bestimmt, welche Textdeutungen „abwegig“ sind und wer oder was die SPD „ist“. Wer „unmenschliche Rhetorik“ und „stalinistische Schauprozesse“ gegen Kritik und Erfahrung in Stellung bringt, und wer dann noch behauptet, man verstehe die andere Person, fühle genauso, sei politisch „identisch“. Diskursmacht will nicht abgeben, wer am Ende dieser würde- und empathielosen Veranstaltung gut gelaunt sagt: Für mich war das jetzt eine positive Erfahrung, und großzügig zu einem „echten, ausführlichen Gespräch“ einlädt, weil „wir den Diskurs führen müssen“. Diskursmacht hat, wer „die, die anders sind“, auffordert, doch tolerant zu sein und nicht immer gleich „bösen Willen“ zu unterstellen. Und jetzt kommt Hannah Arendt ins Spiel. Und zwar mit der Kritischen Ausgabe ihrer Rahel Varnhagen-Biographie, die im Januar erschienen ist.
Ich „bin von außen ganz verschüttet, drum sag’ ich’s selbst“, schrieb Varnhagen in einem Brief 1805. Im Zeitgeist der Achtziger aufgewachsen liest man so einen Satz schnals aufmüpfige Tat unter widrigen Umständen und erfreut sich daran. Aber: Deutsche Jüdin, Frau und Ausgegrenzte, die sich selbst ermächtigt – das ist alles eine Fehllektüre.
Hannah Arendt hat das schon vor fast hundert Jahren verstanden und später auch akribisch beschrieben. Ihre Biographie „Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik“ wirkt in der fast 1000 Seiten starken Kritischen Ausgabe, die die Literaturwissenschaftlerin Barbara Hahn jetzt erstellt hat, wie die Zäsur in ihrem Werk. Ein geniales Buch, das ein halbes Jahrhundert und ein ganzes Leben durchwandert hat, die Brüche „1933“ und „1945“ umspannt und von zwei Interessen geleitet ist: der konsequent innerjüdischen Perspektive und der Überzeugung, ohne Einsicht in die „Verschiedenheit der Menschen“ werde es keine Grundlage geben für eine gemeinsame Welt. (Hört die SPD noch zu?)
Arendts Auseinandersetzung mit Rahel Varnhagen reicht weit zurück. Eine Freundin schenkte der Fünfzehnjährigen 1921 Varnhagens „Buch des Andenkens“. 1933, kurz vor ihrer Flucht aus Deutschland, hatte Hannah Arendt die erste Fassung der Varnhagen-Biographie fertig. Das Typoskript dieser „Berliner Fassung“, das im Nachlass von Karl Jaspers bewahrt blieb, macht Hahn nun erstmals für alle zugänglich. Dem Text sind die bedrängenden politischen Umstände eingeschrieben, unter denen er in fliegender Eile fertig gestellt wurde. Vergleicht man ihn mit der ersten deutschen Buchausgabe von 1959 wird deutlich: die Welt ist eine andere geworden und Arendt setzt sich anders zu ihr ins Verhältnis. Es hat außerdem fast etwas von einem Thriller, wie in den Anmerkungen und dem Nachwort die mentale Landschaft der Nachkriegszeit hervortritt. Etwa, wenn es um die irre Publikationsgeschichte geht oder die Auseinandersetzung um den deutschen Buchtitel, in dem der damalige Lektor, ein ehemaliger SS-Obersturmbannführer, das Wort Jüdin streichen wollte.
Verblüffender sind jedoch die Kontinuitäten: Gedanken, die schon in den ersten Aufsätze aus den Jahren 1931 bis 1933 sichtbar werden, dann 1933 klar im Text stehen, sich in der englischen Übersetzung von Clara und Richard Winston spiegeln, die erstmals 1958 in London erschien und hier in der amerikanische Fassung von 1974 abgedruckt ist. Es sind Fragen, um die Arendt von 1921 bis zu ihrem Tod kreiste, wenn es um Rahel Varnhagen ging und die vielleicht in der Forschung, aber nicht in der breiteren Rezeption verstanden wurden. Noch 1975 erklärt sie in einem Brief: „I did never identify myself with Rahel; I was interested in what she called a Schicksal (. . .) and the Jewish question.“
Als Arendts Varnhagen-Buch in Deutschland erschien, war das Interesse groß. Ungefähr die Hälfte der Rezensionen, so erfährt man, erschienen aber erst 1963, als Doppelrezension mit den Besprechungen zu „Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen“. Ausgerechnet diese beiden Bücher? So, wie das „Eichmann“-Buch kein gewöhnlicher Bericht ist, ist das „Varnhagen“-Buch keine gewöhnliche Biographie. Die Achse, durch die sie verbunden sind: Arendts Frage nach dem Verhältnis zwischen Juden und Nicht-Juden als innerjüdische Frage.
„Jüdinsein“ hieß im 19. Jahrhundert, erklärt Arendt 1933, „nicht mehr im Ghetto, aber ohne Bürgerrecht leben, nicht mehr an die Tradition gebunden sein, aber die Arbeit der Assimilation noch vor sich haben“. Das Versprechen an die Juden war: Schutz und Akzeptanz gegen Anpassung. Und damit sei das „Judesein“ zu einem persönlichen Problem geworden. Denn jeder musste „einzeln“ den Weg aus dem Judentum finden. Verbunden seien die Juden nur noch durch ihren Willen gewesen, rauszukommen.
Interessant, welche Denkwege sich von hier aus ins Werk von Hannah Arendt spannen – und bis in heutige Gesellschaftskritik. In ihrer Dissertation über Augustins Liebesbegriff kritisiert sie, dass der Einzelne nach dem christlichen Liebeskonzept nur in der Liebe zu Gott mit seinem Nächsten verbunden sei, also als Individuum völlig vereinzelt werde. Im Totalitarismus-Buch erklärt sie, der Verlust der Menschenrechte finde statt, „wenn der Mensch den Standort in der Welt verliert“, wenn es ihn nur noch im Singular gebe. In ihrem berühmten Buch „Vita activa“ sieht sie eine Gefahr für die Gesellschaft nicht in der „Selbstentfremdung“ des Einzelnen, sondern in seiner „Weltentfremdung“, wenn er nur noch „Selbstinteressen“ verfolge. Alles Gedanken, die von Rahel Varnhagens Worten inspiriert wurden. Worten wie: Leben, Schicksal, Welt, Erfahrung, Geschichte, Wirklichkeit.
Wenn im Eichmann-Buch Arendts Aussage, „Nichtteilnehmen“ sei das einzige Kriterium von „Schuld und Schuldlosigkeit“, auf die Zusammenarbeit der Judenräte mit den NS-Behörden bezogen und als Verrat missverstanden wurde, wird die Varnhagen-Biographie noch 1971 von Käte Hamburger als „Rahel durchweg höhnisch diffamierende Buch“ fehlinterpretiert.
Hannah Arendt ist auf einem ganz anderen Level als ihre Kritiker, wenn es um Varnhagens Verortung zwischen Paria und Parvenu oder Eichmanns Dekonstruktion zum „Hanswurst“ geht: Beide Bücher exemplifizieren den Kern ihrer politischen Theorie. Teil dieser Theorie ist, sich als Jüdin ins Verhältnis zur Welt zu setzen. Darum hat sie nach 1945 den Anfang ihres Textes geändert und statt der Familiengeschichte die Flucht sowie Rahel Varnhagens Bekenntnis zum Judentum an den Anfang gestellt – mit einem Fragezeichen.
Arendt analysiert im Folgenden, wie Varnhagen exemplarisch ihr ganzes Leben mit der „Rückverwandlung des Unglücks, als Jüdin geboren worden zu sein“ beschäftigt ist. Die Mittel: romantische. Die „unendliche Reflexion“ der romantischen Philosophie baue, so Arendt, den Innenraum zwar zur Festung gegen das Außen aus, führe aber dazu, dass es „keine Welt mehr“ gebe, „in der man handelt“. Das ist ein Frontalangriff auf romantisches Denken, das heute ganz grundlegend unser Selbstverständnis bis hinein in Authentizitätsforderungen, Reality Shows und Verschwörungstheorien prägt. Wer mit dieser Überzeugung Gespräche führe, brauche kein Gegenüber, sondern nur noch Zuhörer.
Rahel Varnhagen schließe sich aus der Wirklichkeit aus, wenn sie sich zum Leben selbst erkläre, schreibt Arendt. Wer das Leben selbst sei, verliere seine Individualität. Ihren erfahrenen Schmerz mache sie als „Indiskretion“ produktiv. Tatsächlich beruht ja auf der Umkrempelung ihrer Innenwelt nach außen bis heute ihr Ruhm als Autorin. Nur, den Anlass für den Schmerz, den verschweige sie. Arendt: Das Nichtmitgeteilte wiederhole sich, „weil es, obwohl wirklich geschehen, in der Wirklichkeit keine Bleibe gefunden hat; die Wirklichkeit bleibt so, als sei dies nie geschehen.“
Die Gegenfigur zu dieser in die Vereinzelung und aus der Wirklichkeit fliehenden Bewegung verkörpert übrigens ausgerechnet Karl August Varnhagen. Über ihn schreibt Arendt, er sei zur Einsicht fähig gewesen und Einsicht sei „die Vernunft, die sich (auf) andere einlässt und dennoch ihre Autonomie als Humanität behält.“ Gershom Scholem schrieb 1959 an Arendt, als die Biographie erschienen war, das Eichmann-Buch aber noch nicht, es sei schade, dass „Ihr großartiges Buch, in dem es doch einmal wirklich um etwas geht, was uns deutsche Juden in unseren düstersten Aspekten betrifft, nicht zur rechten Zeit, nämlich vor zwanzig Jahren erschienen ist“. Das wäre 1939 gewesen.
Hannah Arendt arbeitet am Beispiel Rahel Varnhagens heraus, was es bedeutet „durch eine feindliche Gesellschaft zu gehen“, wie Barbara Hahn es in einem Interview formuliert hat. Die Kränkung, in einer Gesellschaft zu leben, die einen zwingt, sich permanent zu legitimieren. Das ist ebenso ein aktuelles Thema wie die Kontinuität eines deutschen Antisemitismus.
Brisant wird Hannah Arendts Sicht auf Rahel Varnhagen, wie sie in dieser Edition präsentiert wird, aber durch die Gedanken, die in ihre Rede zur Verleihung des Lessing-Preises 1959 münden. Sie spricht da über die Frage, unter welchen Bedingungen, die Freundschaft zwischen einem Deutschen und einem Juden im Dritten Reich ein Zeichen von Menschlichkeit gewesen wäre. Nämlich nicht, wenn sie gesagt hätten: „Sind wir nicht beide Menschen?“ Unter den Bedingungen der Verfolgung hätte dieser Satz die Wirklichkeit geleugnet. Ein Zeichen von Menschlichkeit und Einsicht in die ihnen gemeinsame Welt wäre der Satz gewesen: „ein Deutscher und ein Jude, und Freunde.“
1939 schreibt Arendt an Scholem, sie habe „einen Bankrott beschreiben wollen, allerdings einen geschichtlich notwendigen und vielleicht auch heilsamen“. Das ist das Erbe, das Rahel Varnhagen für Arendts hinterlässt: Die Geschichte eines Bankrotts und ein „rebellisches Herz“. Wurde es angenommen, dieses Erbe? Diese Frage stellt Barbara Hahns Kritische Ausgabe.
Und was hilft das nun für das Gespräch vom 18. Februar 2021? Nun, man kann die Frage von Heinrich Horwitz wiederholen: „Warum fällt es Ihnen so schwer, solidarisch zu sein mit Menschen, die es brauchen?“ Es ist eine relevante Frage. Jede Gesellschaft sollte sie sich neu stellen und ernsthaft beantworten können. Die Gegner sind nicht woanders, solange über diese Frage nicht nachgedacht wird und über einen Gleichheitsbegriff, der die eigene Erfahrung absolut setzt und die von Anderen leugnet und ausschließt.
Es geht um die Frage,
wer von seiner Diskursmacht
nicht lassen kann
Die Denkwege
führen hier bis in heutige
Gesellschaftskritik
Die Kränkung, die darin
besteht, sich selbst permanent
legitimieren zu müssen
„Einen Bankrott beschreiben, allerdings einen geschichtlich notwendigen und vielleicht auch heilsamen“ - Hannah Arendt (hier im Jahr 1958) und Rahel Varnhagen auf einer Litografie von Gottfried Küstner.
Foto: Heirler/dpa; oh
Hannah Arendt: Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin/The Life of a Jewish Woman. Kritische Gesamtausgabe der Werke von Hannah Arendt, Band 2, hrsg. v. Barbara Hahn Wallstein Verlag, Göttingen 2021. 969 Seiten, 49 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.05.2021

Vom Wagnis, verstanden zu werden
Heute vor 250 Jahren wurde Rahel Varnhagen geboren, und passend dazu erscheint Hannah Arendts Biographie der jüdischen Dichterin im Rahmen der Kritischen Ausgabe

Als Jüdin geboren zu sein sei ein Unglück, aber man könne sich ändern und es ungeschehen machen - glaubte die berühmte Salonnière Rahel Varnhagen von Ense. Und tatsächlich ist das Unglück der falschen Geburt, die man bekanntlich gerade nicht ungeschehen machen kann, ein roter Faden auch in der Biographie, die Hannah Arendt über diese berühmte Romantikerin geschrieben hat. Alle Umstände der Arbeit an dieser "Lebensgeschichte" - 1930 begonnen, 1957 auf Englisch und 1959 auf Deutsch erschienen - waren ihrerseits vom Unglück behaftet. Doch dazu später.

In Rahels Leben gab es offensichtlich noch eine zweite "Mitgift", nämlich die große Gabe des Verstehens, die Gabe zur Freundschaft, die ihrem Kampf gegen die "Schmach der Geburt" hilfreich beiseitestand. Erst spät erkannte sie, dass diese Differenz zur Gesellschaft eine Kraft gewesen war, und so räsonierte sie auf dem Totenbett, sie habe das Unglück, als Jüdin geboren zu sein, "um keinen Preis" missen mögen.

Heute vor 250 Jahren wurde Rahel Levin geboren und lebte eine ganze Weile unter dem Namen Rahel Robert, bevor sie 1814 den Diplomaten und Literaten Karl August Varnhagen von Ense heiratete. Sie war mit Goethe bekannt, und in ihrer "glanzvollsten Zeit" lud sie zum Tee in ihre Wohnung in unmittelbarer Nähe zum Berliner Gendarmenmarkt. Dort trafen sich alle Stände, Bürgerliche und Adelige, Frauen und Männer, Wissenschaftler, Künstler, Schauspieler und Diplomaten, und von jedem wurde "als Selbstverständliches verlangt, dass er ein Einzelner sei". Rahel pflegte den "Zauber" des Gesprächs - bei ihren Einladungen, in ihren persönlichen Begegnungen, in den Tagebuchaufzeichnungen ebenso wie in den Träumen, jenen Nachtseiten des Ichs; vor allem aber in ihren Briefen, die sie noch zu Lebzeiten zurückrufen, versammeln und in Druck bringen wollte. Sie leben aus der Direktheit der Gefühle, dem Primat des Privaten und der Verweigerung jeglicher "Schmeichelvisiten".

Allzu lang war die Geschichte der Rahel Varnhagen als Erfolgsgeschichte des deutsch-jüdischen Gesprächs gedeutet worden, und ihr Ehemann hatte aus seiner Veröffentlichung der Briefe und Tagebücher ("Buch des Andenkens") das Judenproblem weitgehend "eliminiert", wie schon Arendt bitter bemerkte. Jede Lektüre und jede Freundschaft hat ihre Zeit, und es war erst der bedrohlich wachsende Nationalsozialismus, der Hannah Arendt dazu brachte, ihre eigene Zugehörigkeit zum Judentum, die sie bislang als natürliche Gegebenheit angesehen hatte, als Politikum zu betrachten. Fortan orientierte sie ihr Leben und Denken ganz "von der Judenfrage her", und so wird Rahel Varnhagen ihre "wirklich beste Freundin, die nur leider schon hundert Jahre tot ist". An ihr und an dem Zionisten Kurt Blumenfeld "erzieht" sie sich zur Judenfrage. Und konstatiert, dass auch assimilierte Juden in Europa Außenseiter blieben; sie konnten aufsteigen, doch dies war mit Heuchelei, Lüge und Untertänigkeit erkauft: In einer im großen Ganzen judenfeindlichen Gesellschaft könne man sich nur assimilieren, wenn man sich an den Antisemitismus assimiliere. Heute, in Zeiten zunehmender identitärer Debatten, verdanken wir Arendts Biographie grandiose Einsichten. Sie zeigt die Varnhagen in ihrer tatsächlichen Verlassenheit.

Dem nun erschienenen zweiten Band der "Kritischen Gesamtausgabe" von Hannah Arendt entnimmt man, dass ein besonderes Wechselspiel von Glück und Unglück auch die Überlieferung dieser Forschungsarbeit prägte. Die Herausgeberinnen unter der diesmal alleinigen Leitung von Barbara Hahn, die seit Anfang der achtziger Jahre kontinuierlich auch die Schriften Rahel Varnhagens ediert, rekonstruieren auf 960 Seiten in dem großartig recherchierten, edierten und kommentierten Band auch den Krimi der Rettung dieser früh begonnenen Arbeit. Arendt, die ursprünglich ein Stipendium der Akademie für die Wissenschaft des Judentums beantragt hatte, wurde abgelehnt und an die allgemeine akademische Förderung verwiesen, als ob - welch eine Ironie der Geschichte! - das Thema den Sponsoren nicht spezifisch jüdisch genug schien. Das erste, noch unfertige Typoskript wurde Ende 1932 wohl kurz vor der Flucht aus Deutschland hastig zusammengeschrieben und im Koffer nach Paris mitgenommen, wo Arendt die Studie 1937/38 um- und weiterschrieb - den endgültigen Bankrott der Assimilation vor Augen.

Doch damit war die Rettungsgeschichte keineswegs zu Ende, denn auf ihrer Flucht nach New York im Jahr 1941 hatte Arendt kein Exemplar ihres Pariser Typoskripts im Gepäck, so dass erst nach 1945 ein offensichtlich noch aus Paris an Gershom Scholem gesandtes Exemplar auf Umwegen nach New York gelangte, wo Arendt allerdings die Frage der Publikation zunächst aufschob, bis 1957 im Rahmen der Gründung des Leo Baeck Instituts eine erste englische Ausgabe erschien. Dass der Piper Verlag 1959 bei der deutschsprachigen Ausgabe der "Rahel Varnhagen - The Life of a Jewess" das Wort "Jüdin" im Untertitel absichtlich vermied und nur "Eine Lebensgeschichte" auf dem Umschlag druckte, angeblich des Erfolgs wegen, wirft noch einmal ein deutliches Licht auf die Zustände in der entnazifizierten Bundesrepublik.

Im Nachhinein war Arendts Arbeit an der Biographie wohl ihr Valet an die Philosophie; die Erkenntnisse daraus grundierten ihre Neuanfänge als politische Theoretikerin in den Vereinigten Staaten. Ihre Auseinandersetzung mit Judenemanzipation, Pariabewusstsein und Heines "Enthusiasmus für die bürgerliche Gleichstellung" prägten nebenbei ihren Essay "Verborgene Tradition" ("Es handelt sich um die Tradition einer Minderheit unter den Juden, die keine Emporkömmlinge sein wollten und den Status des ,bewussten Paria' vorzogen"). Vor allem aber basiert auf diesen Arbeiten das Antisemitismus-Kapitel von "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft".

Zurück zum Gespräch, dessen Glück für Varnhagen wie für Arendt im Wagnis bestand, verstanden zu werden. Doch wo für die Dichterin der "Menschenhunger" im Vordergrund stand, entwickelt Hannah Arendt das Gespräch zu einer zentralen politischen Kategorie ihres Werkes. Im Gespräch handeln wir die Welt aus, denn um urteilen zu können, müssen wir uns von der privaten Bedingtheit der Meinungen befreien und bei möglichst vielen Standpunkten "Besuch machen". Im Austausch - dem Inter-Esse also, das im Gespräch zwischen den Menschen entsteht - stiftet sich seit der Gründung der Polis politischer Zusammenhalt.

Dieser Band der Kritischen Gesamtausgabe von Hannah Arendt ist in gewisser Weise kongenial, denn er ehrt die Jüdin Rahel Varnhagen, löst sie noch einmal aus der ihr zugeschriebenen "historischen" Rolle und macht sie durch Hannah Arendt auch für uns zu einer Zeitgenossin, mit der wir uns - man glaubt es nicht - in diesen Zeiten nicht zuletzt auch dank der beigefügten (teils unveröffentlichten) Briefe und Tagebucheinträge neu darüber auseinandersetzen können, was es heißen kann, das Schicksal der Herkunft nicht "missen" zu möchten.

MARIE LUISE KNOTT

Hannah Arendt: "Rahel Varnhagen - Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin". Kritische Gesamtausgabe, Band 2.

Hrsg. von B. Hahn, J. Egger und F. Wein. Wallstein Verlag, Göttingen 2021. 960 S., geb., 49,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»Ein geniales Buch, das ein halbes Jahrhundert und ein ganzes Leben durchwandert hat, die Brüche '1933' und '1945' umspannt« (Insa Wilke, Süddeutsche Zeitung, 17.03.2021) »Es ist kein schillerndes Salonleben, das sich unter Arendts analytischem Blick entfaltet - eher ein schwankendes Frauenschicksal.« (Astrid Herbold, Der Tagesspiegel, 04.01.2021) »Wie aufregend und politisch versiert Fußnoten sein können - eine Edition als geistiges Aufputschmittel!« (Insa Wilke, SWR2, 26.02.2021) »Arendt schrieb gegen die Überlieferung an, gegen die Mythen und Vereinnahmungen.« (Hendrikje Schauer, taz am wochenende, 15./16.05.2021) »Hannah Arendt ist es zu verdanken, dass Rahel Varnhagen heute nicht noch unbekannter ist.« (Michael Maar, Süddeutsche Zeitung, 19.05.2021) »Heute, in Zeiten zunehmender identitärer Debatten, verdanken wir Arendts Biographie grandiose Einsichten.« (Marie Luise Knott, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.05.2021) »Das Buch ist eine Spurensuche ohne politische Korrektheit, von Gleich zu Gleich, von Denkerin zu Denkerin, schmerzlich und unerbittlich genau, tollkühn und von gnadenlosem Durchblick.» (Ulrike Edschmid, Süddeutsche Zeitung, 29.12.2021) »Der zweite Band der Hannah-Arendt-Werkausgabe (deutsch/englisch) ist ein Schmuckstück.« (Wilhelm Schwendemann, ZfBeg, Dezember 2021) »Das Verdienst der Werkausgabe ist, diese Rahel wieder ins Licht zu stellen, mit all ihren persönlichen Problemen, die aber in den Kampf um Anerkennung und gegen gesellschaftlichen Antisemitismus eingebettet waren.« (Wilhelm Schwendemann, ZfBeg, Dezember 2021) »Das Buch ist eine Spurensuche (...) von Denkerin zu Denkerin, schmerzlich und unerbittlich genau, tollkühn und mit gnadenlosem Durchblick.« (Ulrike Edschmid, Süddeutsche Zeitung, 29.12.2021) »von Barbara Hahn als exzellenter Kennerin verantwortete Edition führt (...) zu einem besseren Verständnis der Lebens Hannah Arendts.« (Peter Steinbach, Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 2022)…mehr
»Eine Studie, die wegweisend ist.« literaturoutdoors.com 20210616