Zu den gegenwärtigen Raumdebatten. Seit dem Spatial oder Topographical Turn hat sich in den Kultur-, Medien- und Sozialwissenschaften eine neue Sicht auf das Thema Raum durchgesetzt. Vor diesem Hintergrund skizziert das Handbuch die Geschichte und Entwicklung der Raumthematik in den Naturwissenschaften, der Philosophie und den Künsten. Im Mittelpunkt stehen dabei disziplinenübergreifende Themen wie Erinnerungsräume, Globalisierung, Heterotopien und Postkolonialismus sowie mediale, kognitive, politische und urbane Räume.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.07.2010Die Neuvermessung der Welt
In welchen Räumen wollen wir leben? Für Architektur und Städtebau eine Schlüsselfrage. Doch die Raumforscher pflegen eine frappierende Ereignisferne. Zwei Bücher erklären, warum das so ist.
Einer der irrigsten Sätze der modernen Literatur steht auf der ersten Seite von Musils "Mann ohne Eigenschaften": "Die Überschätzung der Frage, wo man sich befinde, stammt aus der Hordenzeit, wo man sich die Futterplätze merken musste." Leider verkannte Musil, dass die Gleichgültigkeit gegenüber Standortfragen nicht nur das Fortschrittssiegel der kulturoptimistischen Moderne war. Auch die totalitären Geopolitiker des zwanzigsten Jahrhunderts hielten wenig von territorialen Beschränkungen und dehnten ihre Suche nach Futterplätzen bis hinter den Ural aus. Die Überwindung von Raumzwängen durch emanzipatorische wie expansionistische Mobilitätsversprechen war eine der größten Obsessionen der Epoche, deren Raumverschleiß bis heute anhält.
Im Gegensatz zum privaten Wohlergehen, das weiterhin vom steten Zuwachs an Wohn-, Verkehrs-, Ruhe-, Abstands- und Bewegungsflächen lebt, haftet dem Raum als wissenschaftlicher Kategorie etwas Gespenstisches, Untotes an, von dem sich die Forschung besser fernhält. Doch mittlerweile erleben die Kulturwissenschaften eine erfreuliche Horizonterweiterung von den Sprach- und Bildbezügen zum aktuellen "spatial turn". Diese "Raumwende" beruht vor allem auf dem Zuwachs neuer Themen - etwa auf der Wiederentdeckung der Geographie nach 1989 oder auf dem Kollaps der ortlosen Beliebigkeitshimmel durch Nine-Eleven. Das wäre eigentlich Stoff genug für eine gründliche Neuvermessung der Welt, in der sich allerhand Dinge wieder hart im Raume stoßen. Doch weil Raumdenken unter dem Verdacht der Verdinglichung steht, richten sich die Forschungsenergien lieber auf das Rüstzeug eines disziplinenübergreifenden Raumparadigmas.
Nach seinem Suhrkamp-Reader von 2006 mit klassischen Raumtheorien legt der Potsdamer Medienwissenschaftler Stephan Günzel nun ein ausgearbeitetes Handbuch vor, in dem 27 Autoren das stoffliche Nichts namens Raum durch alle Fachbereiche deklinieren. Anstelle einer Textcollage gibt es eine strenge Systematik, wie es sich für Raumforscher als Spezialisten des Aufräumens und Ordnens auch gehört. Der dreiteilige Band geht von den historischen Voraussetzungen in Naturwissenschaft und Kunst aus. Dabei versteht Klaus Mainzer die Raumdifferenzierungen von Aristoteles bis Einstein nicht als simple Fortschrittserzählung, sondern als Perspektivwechsel mobilisierter Anschauungsformen bis hin zum totalen Anschauungsverlust. Ebenso sieht Michaela Ott in der Kunstentwicklung von der antiken Orts- und Körperlehre zur enträumlichten Ästhetik des deutschen Idealismus keine reine Erfolgsgeschichte, sondern eine Flucht in Abstraktionen, die in Adornos Verabsolutierung der materiearmen Zeitkünste kulminiert. Das erklärt implizit auch das barbarische Gepolter in der zeitgenössischen Performance- und Theaterkunst, die das Herumlaufen im Ausgedehnten erst wieder lernen muss.
Der zweite Teil ist dem Daseinszweck und der Durchführung der neueren Raumforschung gewidmet. Herausgeber Günzel schildert, wie Kant mit seiner kopernikanischen "Raumkehre" zwar das Subjekt zum Zentralgestirn der Welterkenntnis machte, aber dabei die Raumanschauung als präkognitive Wahrnehmungsschablone außerhalb der Vernunft plazierte. Dadurch galt der Raum fortan als Totgeburt, so dass die Zeiterfahrung ungehindert den Bewegungsfuror des progressiven Geschichtsdenkens entfesselte. Selbst Oswald Spenglers Weltgeschichte der Raumtypen als Ursymbole geriet in diesen Fortschrittssog und desavouierte sich mit haltlosen Prognosen, welche die Vordenker des Geodeterminismus inspirierten. Ruhe kehrte erst wieder mit Heidegger ein, der das gemütliche Einrichten gegen das technische Herstellen von Raum verteidigte. Und Claude Lévi-Strauss schließlich zeigte an südamerikanischen Kulturen zuerst, wie wenig das hektische Nacheinander des zeitbasierten europäischen Denkens vom kunstvollen Nebeneinander selbstgeschaffener Gesellschaftsstrukturen weiß, wo Raumerfüllung auch ohne Gerede von Naturrecht und Schicksal funktioniert.
Mit dem von Jörg Döring beschriebenen Auftritt der philosophierenden Humangeographie und dekonstruierenden Franzosentheorie nach 1970 bekam die akademische Raumforschung großen Aufwind. Ihre wachsende Ereignisferne frappiert: Mit ausgeprägtem Hang zur Selbstbeschäftigung beharken Theoretiker seitdem einander und sind sich bis heute nicht einig, was der marxistische Sozialphilosoph Henri Lefebvre mit seiner Trialektik des Drittraumes aus wahrgenommenen, konzipierten und erlebten Raumbezügen gemeint hat. Noch größere Aufmerksamkeit genießt Michel Foucaults Wortschöpfung "Heterotopie", obschon sie der Philosoph wohl aus einer Champagnerlaune heraus in einem kurzweiligen Radiovortrag zur Jahreswende 1967 entwickelte. Mal werden diese Fremd- oder Anders-Räume in Form von Gefängnissen, Krankenhäusern oder Bordellen als systemstabilisierend verstanden, mal als subversive Gegenentwürfe zu den herrschenden Macht-Raum-Dispositiven - in jedem Fall hat Foucault damit in der Fachwelt mehr Rätselfreunde gewonnen als Hitchcock mit sämtlichen MacGuffins seiner Filme.
Wie aber steht es um die Anwendung der autoritativen Theorien in der heutigen Kulturwissenschaft? Knut Ebeling schlichtet den modernen Antagonismus von Substanz- und Funktionsdenken und stärkt den Raum als Archiv und Erinnerungsort. Seine Engführung der Historisierung des Raumes durch die französischen "annales"-Historiker mit Walter Benjamins Verräumlichung der Geschichte als biographischer Verortung ist verblüffend, steht aber quer zur heutigen Forschung.
Mit ihr schlägt im Handbuch die Stunde der theoretisierenden K-Gruppen, deren unglückliches Bewusstsein das Elend der Welt nur noch in der Kritik an kontigenten Konstruktionen, kodierten Konstellationen und konventionalisierten Konzeptionen bewältigt. Wer sich in die Spiralen dieses Sektenjargons hineinschraubt, verliert schnell die Bodenhaftung. Es herrscht eine Verrätselungssucht und Gegenstandsflucht, die vergessen lässt, dass es bei den Themen nicht allein um Zeichen, Symbole, Diskurse und Repräsentationen geht, sondern um konkrete Orte, Körper, Kunst- und Bauwerke und Städte.
Die beständige Rede der Autoren von "Theoriepolitik", "Deutungsmacht" und "Konzeptmigration" zeigt, wie sie ihr kulturelles Begriffskapital vornehmlich für interne soziale Distinktionsgewinne einsetzen - auch wenn ihre Hoffnung, daraus ökonomisch Kapital zu schlagen, angesichts der ausgetrockneten Forschungsförderung immer illusorischer wird.
Nichts lassen diese Analysen mehr als kulturell verbrieft, kommunikativ vernünftig oder biologisch verankert bestehen. Im politischen Raum rumort stets der Ausnahmezustand des Lagers, Geschlechterordnungen basieren auch nach Jahrzehnten "gender"-Rollentauschs einzig auf diskursiv-performativen Hervorbringungen, Urlaubsparadiese befriedigen nicht den Anspruch auf Faulheit, sondern säkulare Heilssehnsüchte, Geographie dient vor allem als Disziplinierungspraxis, und Landkarten verzeichnen Herrschaftsinteressen. Was bei dieser Auflösung des Objektbezugs in Metasprache aus dem Blick gerät, sind die historischen Hauptdisziplinen der Raumproduktion: Architektur und Stadtbau.
Diesem Defizit will der Sammelband "Die Architektur der Gesellschaft" von Joachim Fischer und Heike Delitz abhelfen, in dem dreizehn Autoren der mentalen und sozialen Wirkung des Gebauten nachgehen. Dabei soll nebenher die abgedrängte Soziologie rehabilitiert werden, die als Leitwissenschaft der sechziger Jahre den technokratischen Städtebau stimuliert hatte. Zur Wiedergutmachung bemüht sich der Band um Anwendung tradierter Gesellschaftslehren auf aktuelle Baubeispiele. Dafür muss jeder Beiträger die Kröte schlucken, dass Baukörper und Raumgrenzen nicht ganz ohne Materialisierung auskommen und trotzdem nicht gleich Verdinglichung und Freiheitsberaubung betreiben.
Markus Schroer aktiviert die Sozialanthropologie mit Durkheim, Mauss und Halbwachs, die das Soziale aus Raumfiguren herauslasen und zugleich den stofflichen Niederschlag von Vergesellschaftungsprozessen untersuchten. Schroers Übertragung dieses Denkens auf den Apparatecharakter moderner Sportstadien ist beste aufgeklärte Kulturgeschichte. Auch Heike Delitz widmet sich älteren Vertretern der philosophischen Anthropologie wie Plessner, Gehlen, Scheler und Rothacker, die sich für die Wirkung der Artefakte auf das Handeln interessierten. Architektur galt ihnen als anschauliche Verkörperung von Institutionen, als sozialkonservierender wie milieuschaffender Außenhalt. Mit der Annäherung dieser fortschrittsskeptischen Haltungen an das radikale Gegengift der dekonstruktivistischen Architektur tut Delitz diesen Denkern zwar Gewalt an, aber nimmt ihnen alle Zopfigkeit.
Detlev Schöttker nutzt soziologisch-psychologische Wahrnehmungstheorien von Giedion, Benjamin und Kracauer als Kritik am Schlosswiederaufbau in Berlin, und Jens Dangschat überträgt Bourdieus Habitus-Theorie auf den renovierten Karlsplatz in Wien - wobei seine Charakterisierung der Anlage als "institutionalisierter Ordnungsruf" auch mit bloßem Auge erkennbar ist. Auch die Gender-Forschung kann Erhellendes zur amerikanischen Suburbanisierung beitragen, die laut Susanne Frank die Polarisierung von naturnaher weiblicher Häuslichkeit und der städtischen Erwerbswelt der Männer betrieb.
Derlei Annäherungsversuche der Wissenschaft an die praktische Raumproduktion sind zwar noch weit entfernt, den Gestaltungsdisziplinen neues Orientierungswissen zu geben. Aber sie versuchen wenigstens, die Höhe ihres Gegenstandes zu erreichen, anstatt, wie die Raumtheoretiker, meilenweit daran vorbeizufliegen.
MICHAEL MÖNNINGER
Stephan Günzel (Hg.): "Raum". Ein interdisziplinäres Handbuch. Verlag J. B. Metzler, Stuttgart 2010. 372 S., geb., 64,95 [Euro].
Joachim Fischer/Heike Delitz (Hg.): "Die Architektur der Gesellschaft". Theorien für die Architektursoziologie. transscript Verlag, Bielefeld 2009. 420 S., br., 29,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In welchen Räumen wollen wir leben? Für Architektur und Städtebau eine Schlüsselfrage. Doch die Raumforscher pflegen eine frappierende Ereignisferne. Zwei Bücher erklären, warum das so ist.
Einer der irrigsten Sätze der modernen Literatur steht auf der ersten Seite von Musils "Mann ohne Eigenschaften": "Die Überschätzung der Frage, wo man sich befinde, stammt aus der Hordenzeit, wo man sich die Futterplätze merken musste." Leider verkannte Musil, dass die Gleichgültigkeit gegenüber Standortfragen nicht nur das Fortschrittssiegel der kulturoptimistischen Moderne war. Auch die totalitären Geopolitiker des zwanzigsten Jahrhunderts hielten wenig von territorialen Beschränkungen und dehnten ihre Suche nach Futterplätzen bis hinter den Ural aus. Die Überwindung von Raumzwängen durch emanzipatorische wie expansionistische Mobilitätsversprechen war eine der größten Obsessionen der Epoche, deren Raumverschleiß bis heute anhält.
Im Gegensatz zum privaten Wohlergehen, das weiterhin vom steten Zuwachs an Wohn-, Verkehrs-, Ruhe-, Abstands- und Bewegungsflächen lebt, haftet dem Raum als wissenschaftlicher Kategorie etwas Gespenstisches, Untotes an, von dem sich die Forschung besser fernhält. Doch mittlerweile erleben die Kulturwissenschaften eine erfreuliche Horizonterweiterung von den Sprach- und Bildbezügen zum aktuellen "spatial turn". Diese "Raumwende" beruht vor allem auf dem Zuwachs neuer Themen - etwa auf der Wiederentdeckung der Geographie nach 1989 oder auf dem Kollaps der ortlosen Beliebigkeitshimmel durch Nine-Eleven. Das wäre eigentlich Stoff genug für eine gründliche Neuvermessung der Welt, in der sich allerhand Dinge wieder hart im Raume stoßen. Doch weil Raumdenken unter dem Verdacht der Verdinglichung steht, richten sich die Forschungsenergien lieber auf das Rüstzeug eines disziplinenübergreifenden Raumparadigmas.
Nach seinem Suhrkamp-Reader von 2006 mit klassischen Raumtheorien legt der Potsdamer Medienwissenschaftler Stephan Günzel nun ein ausgearbeitetes Handbuch vor, in dem 27 Autoren das stoffliche Nichts namens Raum durch alle Fachbereiche deklinieren. Anstelle einer Textcollage gibt es eine strenge Systematik, wie es sich für Raumforscher als Spezialisten des Aufräumens und Ordnens auch gehört. Der dreiteilige Band geht von den historischen Voraussetzungen in Naturwissenschaft und Kunst aus. Dabei versteht Klaus Mainzer die Raumdifferenzierungen von Aristoteles bis Einstein nicht als simple Fortschrittserzählung, sondern als Perspektivwechsel mobilisierter Anschauungsformen bis hin zum totalen Anschauungsverlust. Ebenso sieht Michaela Ott in der Kunstentwicklung von der antiken Orts- und Körperlehre zur enträumlichten Ästhetik des deutschen Idealismus keine reine Erfolgsgeschichte, sondern eine Flucht in Abstraktionen, die in Adornos Verabsolutierung der materiearmen Zeitkünste kulminiert. Das erklärt implizit auch das barbarische Gepolter in der zeitgenössischen Performance- und Theaterkunst, die das Herumlaufen im Ausgedehnten erst wieder lernen muss.
Der zweite Teil ist dem Daseinszweck und der Durchführung der neueren Raumforschung gewidmet. Herausgeber Günzel schildert, wie Kant mit seiner kopernikanischen "Raumkehre" zwar das Subjekt zum Zentralgestirn der Welterkenntnis machte, aber dabei die Raumanschauung als präkognitive Wahrnehmungsschablone außerhalb der Vernunft plazierte. Dadurch galt der Raum fortan als Totgeburt, so dass die Zeiterfahrung ungehindert den Bewegungsfuror des progressiven Geschichtsdenkens entfesselte. Selbst Oswald Spenglers Weltgeschichte der Raumtypen als Ursymbole geriet in diesen Fortschrittssog und desavouierte sich mit haltlosen Prognosen, welche die Vordenker des Geodeterminismus inspirierten. Ruhe kehrte erst wieder mit Heidegger ein, der das gemütliche Einrichten gegen das technische Herstellen von Raum verteidigte. Und Claude Lévi-Strauss schließlich zeigte an südamerikanischen Kulturen zuerst, wie wenig das hektische Nacheinander des zeitbasierten europäischen Denkens vom kunstvollen Nebeneinander selbstgeschaffener Gesellschaftsstrukturen weiß, wo Raumerfüllung auch ohne Gerede von Naturrecht und Schicksal funktioniert.
Mit dem von Jörg Döring beschriebenen Auftritt der philosophierenden Humangeographie und dekonstruierenden Franzosentheorie nach 1970 bekam die akademische Raumforschung großen Aufwind. Ihre wachsende Ereignisferne frappiert: Mit ausgeprägtem Hang zur Selbstbeschäftigung beharken Theoretiker seitdem einander und sind sich bis heute nicht einig, was der marxistische Sozialphilosoph Henri Lefebvre mit seiner Trialektik des Drittraumes aus wahrgenommenen, konzipierten und erlebten Raumbezügen gemeint hat. Noch größere Aufmerksamkeit genießt Michel Foucaults Wortschöpfung "Heterotopie", obschon sie der Philosoph wohl aus einer Champagnerlaune heraus in einem kurzweiligen Radiovortrag zur Jahreswende 1967 entwickelte. Mal werden diese Fremd- oder Anders-Räume in Form von Gefängnissen, Krankenhäusern oder Bordellen als systemstabilisierend verstanden, mal als subversive Gegenentwürfe zu den herrschenden Macht-Raum-Dispositiven - in jedem Fall hat Foucault damit in der Fachwelt mehr Rätselfreunde gewonnen als Hitchcock mit sämtlichen MacGuffins seiner Filme.
Wie aber steht es um die Anwendung der autoritativen Theorien in der heutigen Kulturwissenschaft? Knut Ebeling schlichtet den modernen Antagonismus von Substanz- und Funktionsdenken und stärkt den Raum als Archiv und Erinnerungsort. Seine Engführung der Historisierung des Raumes durch die französischen "annales"-Historiker mit Walter Benjamins Verräumlichung der Geschichte als biographischer Verortung ist verblüffend, steht aber quer zur heutigen Forschung.
Mit ihr schlägt im Handbuch die Stunde der theoretisierenden K-Gruppen, deren unglückliches Bewusstsein das Elend der Welt nur noch in der Kritik an kontigenten Konstruktionen, kodierten Konstellationen und konventionalisierten Konzeptionen bewältigt. Wer sich in die Spiralen dieses Sektenjargons hineinschraubt, verliert schnell die Bodenhaftung. Es herrscht eine Verrätselungssucht und Gegenstandsflucht, die vergessen lässt, dass es bei den Themen nicht allein um Zeichen, Symbole, Diskurse und Repräsentationen geht, sondern um konkrete Orte, Körper, Kunst- und Bauwerke und Städte.
Die beständige Rede der Autoren von "Theoriepolitik", "Deutungsmacht" und "Konzeptmigration" zeigt, wie sie ihr kulturelles Begriffskapital vornehmlich für interne soziale Distinktionsgewinne einsetzen - auch wenn ihre Hoffnung, daraus ökonomisch Kapital zu schlagen, angesichts der ausgetrockneten Forschungsförderung immer illusorischer wird.
Nichts lassen diese Analysen mehr als kulturell verbrieft, kommunikativ vernünftig oder biologisch verankert bestehen. Im politischen Raum rumort stets der Ausnahmezustand des Lagers, Geschlechterordnungen basieren auch nach Jahrzehnten "gender"-Rollentauschs einzig auf diskursiv-performativen Hervorbringungen, Urlaubsparadiese befriedigen nicht den Anspruch auf Faulheit, sondern säkulare Heilssehnsüchte, Geographie dient vor allem als Disziplinierungspraxis, und Landkarten verzeichnen Herrschaftsinteressen. Was bei dieser Auflösung des Objektbezugs in Metasprache aus dem Blick gerät, sind die historischen Hauptdisziplinen der Raumproduktion: Architektur und Stadtbau.
Diesem Defizit will der Sammelband "Die Architektur der Gesellschaft" von Joachim Fischer und Heike Delitz abhelfen, in dem dreizehn Autoren der mentalen und sozialen Wirkung des Gebauten nachgehen. Dabei soll nebenher die abgedrängte Soziologie rehabilitiert werden, die als Leitwissenschaft der sechziger Jahre den technokratischen Städtebau stimuliert hatte. Zur Wiedergutmachung bemüht sich der Band um Anwendung tradierter Gesellschaftslehren auf aktuelle Baubeispiele. Dafür muss jeder Beiträger die Kröte schlucken, dass Baukörper und Raumgrenzen nicht ganz ohne Materialisierung auskommen und trotzdem nicht gleich Verdinglichung und Freiheitsberaubung betreiben.
Markus Schroer aktiviert die Sozialanthropologie mit Durkheim, Mauss und Halbwachs, die das Soziale aus Raumfiguren herauslasen und zugleich den stofflichen Niederschlag von Vergesellschaftungsprozessen untersuchten. Schroers Übertragung dieses Denkens auf den Apparatecharakter moderner Sportstadien ist beste aufgeklärte Kulturgeschichte. Auch Heike Delitz widmet sich älteren Vertretern der philosophischen Anthropologie wie Plessner, Gehlen, Scheler und Rothacker, die sich für die Wirkung der Artefakte auf das Handeln interessierten. Architektur galt ihnen als anschauliche Verkörperung von Institutionen, als sozialkonservierender wie milieuschaffender Außenhalt. Mit der Annäherung dieser fortschrittsskeptischen Haltungen an das radikale Gegengift der dekonstruktivistischen Architektur tut Delitz diesen Denkern zwar Gewalt an, aber nimmt ihnen alle Zopfigkeit.
Detlev Schöttker nutzt soziologisch-psychologische Wahrnehmungstheorien von Giedion, Benjamin und Kracauer als Kritik am Schlosswiederaufbau in Berlin, und Jens Dangschat überträgt Bourdieus Habitus-Theorie auf den renovierten Karlsplatz in Wien - wobei seine Charakterisierung der Anlage als "institutionalisierter Ordnungsruf" auch mit bloßem Auge erkennbar ist. Auch die Gender-Forschung kann Erhellendes zur amerikanischen Suburbanisierung beitragen, die laut Susanne Frank die Polarisierung von naturnaher weiblicher Häuslichkeit und der städtischen Erwerbswelt der Männer betrieb.
Derlei Annäherungsversuche der Wissenschaft an die praktische Raumproduktion sind zwar noch weit entfernt, den Gestaltungsdisziplinen neues Orientierungswissen zu geben. Aber sie versuchen wenigstens, die Höhe ihres Gegenstandes zu erreichen, anstatt, wie die Raumtheoretiker, meilenweit daran vorbeizufliegen.
MICHAEL MÖNNINGER
Stephan Günzel (Hg.): "Raum". Ein interdisziplinäres Handbuch. Verlag J. B. Metzler, Stuttgart 2010. 372 S., geb., 64,95 [Euro].
Joachim Fischer/Heike Delitz (Hg.): "Die Architektur der Gesellschaft". Theorien für die Architektursoziologie. transscript Verlag, Bielefeld 2009. 420 S., br., 29,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Breit gefächert hat Stephan Günzel seine Auswahl zum Band "Raum" gestaltet. Sein Autorenteam arbeitet die physikalischen, geografischen und architektonischen Konnotationen des Raumes ab um sich dann in geistige Regionen zu begeben: In Kapitel zwei in Bezug auf einige historische Wenden (Kopernikanische Wende, Spatial Turn, Topographical Turn), in Kapitel drei dann in thematischen Vertiefungen. Dort betritt der Leser epistemische, poetische und natürlich auch mediale Räume." -- science.ORF.at