Kathrin Rögglas literarischer Bericht aus New York über den Terroranschlag vom 11. September und die Folgen. Kathrin Röggla war am 11. September nur etwa einen Kilometer vom World Trade Center entfernt. »zunächst stand ich vor der frage, was ich damit mache, mit diesem haufen an authentizität, mit diesem scheinbaren aufgehen in einem Ereignis, in diesem zu großen bild, in das man plötzlich wie eingezogen ist oder eingezogen wurde.« In der Folge verfasste sie eine Serie von Texten, die die Veränderungen in New York in den Blick nehmen. Sie beschreibt die Reaktion der Amerikaner auf die Anschläge, lässt einzelne Leute zu Wort kommen, beobachtet das Geschehen in den Straßen von New York und kommentiert die Inszenierung amerikanischer Politik in den Medien. Über die momentane Aktualität hinaus versucht sie, Muster amerikanischer Wirklichkeit sichtbar zu machen.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.01.2002Der Satzspiegel unter Attacke
Kathrin Röggla ist direkt am „really ground zero”, doch Derrida spricht über Gnade und Vergebung
Gegen die Übermacht sehr großer Ereignisse hilft am ehesten vielleicht die radikale Kleinschreibung. Wenn ein bestimmtes „geschehen” von Augenzeugen und noch von Fernsehzuschauern als „weitaus zu groß” erlebt wird, „um es irgendwie integrieren zu können in eine vorhandene erlebnisstruktur”, was soll dann die Literatur sonst tun als sich klein machen? Kathrin Röggla, die österreichische Autorin, war am 11. September in New York und hat an diesem Tag und in den folgenden Wochen mitgeschrieben, was sie sah und hörte, auf der Straße, im Fernsehen, in Gesprächen. 22 kleine Kapitel zwischen „life” und „coffee to go”, dazwischen selbst geschossene Fotos von George W. Bush im Fernsehen, natürlich vom rauchenden World Trade Center, aber auch von Wassertürmen in Vorstädten. Eigenartig ist der Satzspiegel, schmaler als gewöhnlich, eine Textsäule, die mal links, mal rechts, mal unten, mal oben von reichlich Leerraum umgeben ist, so dass keine Seite aussieht wie die nächste. „really ground zero” heisst das Buch, und schon von aussen, mit der Kleinschreibung, den subjektiven Fotos, der , konkreten‘ Darbietung des Textes, will es uns unübersehbar mitteilen, dass es ein Kunsttext ist, ein Werk der avancierten Literatur. Warum auch nicht? Jedwede Alternative zur Sprache der Spiegel-Reporter ist hoch willkommen – wenn sie denn eine ist.
Am Morgen der Ereignisse befindet sich Kathrin Röggla sehr bald fotografierend und wohl auch schon mitschreibend auf der Straße vor ihrer Haustür zwischen Bleecker und Houston Street. Von dort aus sieht man viel, aber wahrscheinlich weniger als jeder Fernsehzuschauer. Weil man als Fernsehzuschauer mehr zu sehen und zu begreifen bekommt als der bloße Augenzeuge, wechselt sie schon bald ihren Standort. Bush und Rumsfeld im Fernsehen, ungezählte Talkshows, Pressekonferenzen, Diskussionen – nur vor dem Fernseher wird die Paranoia vollends Wirklichkeit und, mehr noch, Sprache. „eine aufladung mit magie” notiert Röggla vor dem Bildschirm, während draußen auf der Straße die guten Kräfte mobil machen. Ihnen gehört ihre Sympathie, Freunden wie dem linken Publizisten Elliott Weinberger, der vor den unabsehbaren Folgen eines Militäreinsatzes in Afghanistan warnt. Die New Yorker Intelligenz oder der Teil, mit dem Kathrin Röggla in Kontakt steht, ist gegen den Krieg, aber schon mit dreimonatigem Abstand wirken ihre Ansichten fast so antiquiert wie die der grünen Abweichler von Berlin.
Eine ganz normale Vorlesung
Mit Rögglas Buch betritt man das Archiv der soeben überholten oder besser überrollten Gegenwart. Wer Wind sät, so warnen die New Yorker Freunde mit Blick auf den Afghanistan-Einsatz, werde Sturm ernten. Für diesen Irrtum wäre freilich gar keine erhöhte Warte erforderlich gewesen. Das Meinungsspektrum, das Kathrin Röggla nah am „Ground Zero” einfängt, kommt einem sonderbar vertraut vor. Liegt es an der Unabsehbarkeit der Entwicklung seither oder an der relativen Behäbigkeit der meisten hier geäußerten Meinungen, wenn die „Ereignisse” auch am Tatort selbst kaum je neu „gedacht”, sondern lieber an Altvertrautes angedockt werden?
Wenn schon die Ereignisse denkerisch verpassen, dann aber auch richtig, das muss die Devise von Jacques Derrida gewesen sein, bei dessen Vortrag an der NYU Röggla zugegen ist. Erst mal ist Derridas genuscheltes Englisch (für das er sich mit dem Hinweis entschuldigt, er sei ein „poor tourist”) sowieso kaum zu verstehen, und dann sagt er auch noch kein Wort „zum krieg, oder zur situation”. Dass Derrida statt dessen „eine ganz normale vorlesung hält zum begriff der ,forgiveness‘ und über die shoah, den ,kaufmann von venedig ‘ und den begriff der gnade, erscheint mir komisch”, schreibt Röggla. Wer so aufreizend deutlich das Thema der Stunde verfehlt und außerdem Jacques Derrida heisst, der hat es vielleicht getroffen. Und hat er nebenhin nicht auch einen subtilen Kommentar zu der Frage geliefert, wie die Literatur mit dem „weitaus zu großen” des „geschehens” zu rande kommen kann? Klein schreiben ist gut, am Thema vorbei schreiben ist noch besser. Es spricht ja nicht gegen die Literatur, wenn es ihr für einen Augenblick die Sprache verschlagen hat.
An irgendeiner anderen Stelle der Wirklichkeit wird ihre Sprache schon wieder auftauchen, und wenn sie dann von Vergebung oder Gnade oder anderen Abseitigkeiten spricht, dann spricht sie ja vielleicht vom 11. September. Oder auch nicht. „ground zero” ist ein großes Loch, und ob es zum „Nullpunkt der Literatur” taugt, weiss keiner. Das sind Spekulationen, auf die auch Kathrin Rögglas kurzes, reaktionsschnelles Buch statt einer Antwort nur Fragen parat hält. Wäre ihre Schreibhaltung, fragt sie am Ende sich selbst, „also der versuch, aus diesem haufen an ideologemen, aufgebrochenem vokabular, kontextverschiebungen, rhetorischen operationen, schrägen übersetzungen, einen überblick zu bekommen.” Ja, vielleicht. Mehr nicht. Aber so viel.
CHRISTOPH
BARTMANN
KATHRIN RÖGGLA: really ground zero. 11. September und folgendes. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2001. 112 Seiten, 7 Euro.
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Kathrin Röggla ist direkt am „really ground zero”, doch Derrida spricht über Gnade und Vergebung
Gegen die Übermacht sehr großer Ereignisse hilft am ehesten vielleicht die radikale Kleinschreibung. Wenn ein bestimmtes „geschehen” von Augenzeugen und noch von Fernsehzuschauern als „weitaus zu groß” erlebt wird, „um es irgendwie integrieren zu können in eine vorhandene erlebnisstruktur”, was soll dann die Literatur sonst tun als sich klein machen? Kathrin Röggla, die österreichische Autorin, war am 11. September in New York und hat an diesem Tag und in den folgenden Wochen mitgeschrieben, was sie sah und hörte, auf der Straße, im Fernsehen, in Gesprächen. 22 kleine Kapitel zwischen „life” und „coffee to go”, dazwischen selbst geschossene Fotos von George W. Bush im Fernsehen, natürlich vom rauchenden World Trade Center, aber auch von Wassertürmen in Vorstädten. Eigenartig ist der Satzspiegel, schmaler als gewöhnlich, eine Textsäule, die mal links, mal rechts, mal unten, mal oben von reichlich Leerraum umgeben ist, so dass keine Seite aussieht wie die nächste. „really ground zero” heisst das Buch, und schon von aussen, mit der Kleinschreibung, den subjektiven Fotos, der , konkreten‘ Darbietung des Textes, will es uns unübersehbar mitteilen, dass es ein Kunsttext ist, ein Werk der avancierten Literatur. Warum auch nicht? Jedwede Alternative zur Sprache der Spiegel-Reporter ist hoch willkommen – wenn sie denn eine ist.
Am Morgen der Ereignisse befindet sich Kathrin Röggla sehr bald fotografierend und wohl auch schon mitschreibend auf der Straße vor ihrer Haustür zwischen Bleecker und Houston Street. Von dort aus sieht man viel, aber wahrscheinlich weniger als jeder Fernsehzuschauer. Weil man als Fernsehzuschauer mehr zu sehen und zu begreifen bekommt als der bloße Augenzeuge, wechselt sie schon bald ihren Standort. Bush und Rumsfeld im Fernsehen, ungezählte Talkshows, Pressekonferenzen, Diskussionen – nur vor dem Fernseher wird die Paranoia vollends Wirklichkeit und, mehr noch, Sprache. „eine aufladung mit magie” notiert Röggla vor dem Bildschirm, während draußen auf der Straße die guten Kräfte mobil machen. Ihnen gehört ihre Sympathie, Freunden wie dem linken Publizisten Elliott Weinberger, der vor den unabsehbaren Folgen eines Militäreinsatzes in Afghanistan warnt. Die New Yorker Intelligenz oder der Teil, mit dem Kathrin Röggla in Kontakt steht, ist gegen den Krieg, aber schon mit dreimonatigem Abstand wirken ihre Ansichten fast so antiquiert wie die der grünen Abweichler von Berlin.
Eine ganz normale Vorlesung
Mit Rögglas Buch betritt man das Archiv der soeben überholten oder besser überrollten Gegenwart. Wer Wind sät, so warnen die New Yorker Freunde mit Blick auf den Afghanistan-Einsatz, werde Sturm ernten. Für diesen Irrtum wäre freilich gar keine erhöhte Warte erforderlich gewesen. Das Meinungsspektrum, das Kathrin Röggla nah am „Ground Zero” einfängt, kommt einem sonderbar vertraut vor. Liegt es an der Unabsehbarkeit der Entwicklung seither oder an der relativen Behäbigkeit der meisten hier geäußerten Meinungen, wenn die „Ereignisse” auch am Tatort selbst kaum je neu „gedacht”, sondern lieber an Altvertrautes angedockt werden?
Wenn schon die Ereignisse denkerisch verpassen, dann aber auch richtig, das muss die Devise von Jacques Derrida gewesen sein, bei dessen Vortrag an der NYU Röggla zugegen ist. Erst mal ist Derridas genuscheltes Englisch (für das er sich mit dem Hinweis entschuldigt, er sei ein „poor tourist”) sowieso kaum zu verstehen, und dann sagt er auch noch kein Wort „zum krieg, oder zur situation”. Dass Derrida statt dessen „eine ganz normale vorlesung hält zum begriff der ,forgiveness‘ und über die shoah, den ,kaufmann von venedig ‘ und den begriff der gnade, erscheint mir komisch”, schreibt Röggla. Wer so aufreizend deutlich das Thema der Stunde verfehlt und außerdem Jacques Derrida heisst, der hat es vielleicht getroffen. Und hat er nebenhin nicht auch einen subtilen Kommentar zu der Frage geliefert, wie die Literatur mit dem „weitaus zu großen” des „geschehens” zu rande kommen kann? Klein schreiben ist gut, am Thema vorbei schreiben ist noch besser. Es spricht ja nicht gegen die Literatur, wenn es ihr für einen Augenblick die Sprache verschlagen hat.
An irgendeiner anderen Stelle der Wirklichkeit wird ihre Sprache schon wieder auftauchen, und wenn sie dann von Vergebung oder Gnade oder anderen Abseitigkeiten spricht, dann spricht sie ja vielleicht vom 11. September. Oder auch nicht. „ground zero” ist ein großes Loch, und ob es zum „Nullpunkt der Literatur” taugt, weiss keiner. Das sind Spekulationen, auf die auch Kathrin Rögglas kurzes, reaktionsschnelles Buch statt einer Antwort nur Fragen parat hält. Wäre ihre Schreibhaltung, fragt sie am Ende sich selbst, „also der versuch, aus diesem haufen an ideologemen, aufgebrochenem vokabular, kontextverschiebungen, rhetorischen operationen, schrägen übersetzungen, einen überblick zu bekommen.” Ja, vielleicht. Mehr nicht. Aber so viel.
CHRISTOPH
BARTMANN
KATHRIN RÖGGLA: really ground zero. 11. September und folgendes. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2001. 112 Seiten, 7 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Auch in diesem Bericht aus New York über den Terroranschlag vom 11. September und die Folgen hat sich die österreichische Autorin wieder einmal selbst "über die Schulter geschaut", meint Rezensent Christian Thomas. Das Buch, das in 22 Kapiteln die ersten Reaktionen, Spekulationen und Einordnungen des Ereignisses sammelt, beschäftigt sich vor allem mit der Wahrnehmung und ist nichts weniger als ein "Tagebuch", das Tagesaktuelles festzuhalten trachtet, erklärt der Rezensent. Manchmal, lobt er, entstünden so richtige "Denkbilder", die über den alltäglichen "Reflexionsgehalt" hinausreichten. Die "Irritation", die die Texte erzeugen, gehe auch von den Illustrationen des Einbands aus, doch am Ende überwiegen dann doch die "konventionellen Sätze", wundert sich Thomas etwas enttäuscht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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