Nach Ereignissen wie dem Mord an Walter Lübcke, dem Anschlag in Halle oder den rassistischen Morden in Hanau im Februar 2020 wird regelmäßig darüber diskutiert, inwiefern es sich um isolierte Einzeltäter handelt oder ob ein Zusammenhang zu bestimmten Parteien und Ideologien besteht. Der renommierte Rechtsextremismusforscher Wilhelm Heitmeyer hat dazu bereits 2012 das Modell eines konzentrischen Eskalationskontinuums präsentiert: ganz außen stehen menschenfeindliche Einstellungen in der Bevölkerung, im Zentrum terroristische Zellen, dazwischen organisierte Akteure, »Vordenker«, systemfeindliche Milieus und Unterstützernetzwerke. Die Gewaltbereitschaft nimmt von außen nach innen zu, die jeweils äußere Schicht liefert ihrer inneren Nachbarin Legitimation.
In dieser hochaktuellen Studie zeigt Wilhelm Heitmeyer zusammen mit Peter Sitzer und Manuela Freiheit u. a. am Beispiel der Ausschreitungen in Chemnitz im August 2018, wie sich innerhalb dieses Kontinuums Allianzen herausbilden und wie diese die offene Gesellschaft immer stärker bedrohen.
In dieser hochaktuellen Studie zeigt Wilhelm Heitmeyer zusammen mit Peter Sitzer und Manuela Freiheit u. a. am Beispiel der Ausschreitungen in Chemnitz im August 2018, wie sich innerhalb dieses Kontinuums Allianzen herausbilden und wie diese die offene Gesellschaft immer stärker bedrohen.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Herfried Münkler hat am Ende der Lektüre des von Wilhelm Heitmeyer, Manuela Freiheit und Peter Sitzer erarbeiteten Buches mehr Fragen als Antworten. Allerdings sind es die richtigen Fragen, meint Münkler, etwa: Was hat die politische Rechte vom Linksradikalismus gelernt? Auszusetzen hat er an dem Buch allerdings auch was. Nicht neu erscheint ihm das Zwiebelring-Eskalationsmodell, das die Autoren aufstellen, um die Organisation "rechter Bedrohungsallianzen" sowie den Umstand, dass Ermittler immer wieder zur Einzeltäterthese neigen, zu erläutern. Münkler erkennt darin eine Weiterentwicklung polizeilicher Ideen gegen den Linksterror aus den 70ern. Dass die Autoren das nicht mitteilen, findet er bedauerlich. Argumentativ fraglich findet er zudem, wenn im Band einerseits von einer neuen Qualität der Bedrohung die Rede ist, andererseits aber eine Traditionslinie rechter Gesinnung erkannt wird.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.11.2020Rechter Terror im innersten Ring
Sympathisanten braucht es immer: Der zweite Band der "Signaturen der Bedrohung" setzt auf ein vertrautes Modell
Der von Polizei und Staatsanwaltschaft aufgestellten Behauptung, Einzeltäter hätten die rechtsterroristischen Anschläge der vergangenen Jahrzehnte - von dem auf dem Münchner Oktoberfest bis zu denen in Halle und Hanau - verübt, haben Wilhelm Heitmeyer und seine Mitarbeiter schon lange misstraut. Inzwischen halten eigentlich nur noch einige Polizeibehörden und die Verfassungsschutzämter an dieser Behauptung fest, und das auch nicht, weil sie von deren Richtigkeit überzeugt sind, sondern weil sie sonst ihr Versagen offen eingestehen müssten. Und viele Gerichte, vor denen rechtsterroristische Straftaten verhandelt werden, verurteilen die Angeklagten als Einzeltäter, nicht weil sie davon überzeugt sind, sondern weil sich ihnen anderes nicht hieb- und stichfest nachweisen lässt - auch deswegen nicht, weil auf Grundlage der Einzeltäterhypothese ermittelt wurde.
Dagegen sind die meisten Politiker, die sich in Untersuchungsausschüssen mit den Morden der sich als "Nationalsozialistischer Untergrund" bezeichnenden Gruppe beschäftigt haben, zu der Überzeugung gelangt, dass diese Taten nicht ohne die Unterstützung eines organisierten Netzwerks möglich gewesen wären. Zu diesem Ergebnis sind auch die meisten Journalisten gelangt, von denen die NSU-Morde recherchiert worden sind. Gerichtsfeste Beweise haben aber auch sie nicht beibringen können. Das werde so lange auch nicht möglich sein, wie man soziologisch unbelehrt an das Problem herangehe, lautet die Erklärung, die Wilhelm Heitmeyer, Manuela Freiheit und Peter Sitzer in ihrem Buch für die Ratlosigkeit der Justiz anbieten. Die rechten Bedrohungsallianzen seien nämlich als ein "konzentrisches Eskalationskontinuum" organisiert, und solange man dieses bei der Ermittlungsarbeit nicht zugrunde lege, werde man am Schluss immer bei Einzeltätern landen. Das von Heitmeyer und anderen über fast ein Jahrzehnt hinweg schrittweise entwickelte Eskalationsmodell besteht aus fünf ineinander verschachtelten Ringen, von denen der äußere durch eine "gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit" gekennzeichnet ist, die, in Teilen der Bevölkerung verbreitet, gewissermaßen das Humusbett für die Gewaltbereitschaft in den inneren Ringen darstellt. Der nach innen anschließende Ring wird als das "Milieu des autoritären Nationalradikalismus" bezeichnet, dem die Autoren unter anderen die Pegida-Bewegung und die AfD zurechnen. Hier wird eine Destabilisierung der liberalen Demokratie mit dem Ziel eines Systemwechsels angestrebt.
In dem weiter innen liegenden Ring, dem "systemfeindlichen Milieu", wird der Sturz der demokratischen Ordnung und die Zerstörung der offenen Gesellschaft angestrebt. Diesem Milieu werden neonazistische Kameradschaften, die Identitäre Bewegung, die Reichsbürger sowie völkische Siedlungsgemeinschaften zugerechnet. Dem schließt sich dann als weiterer Ring das "klandestine terroristische Planungs- und Unterstützungsmilieu" an, und im Zentrum stehen die "terroristischen Vernichtungsakteure". Die diese Akteure wie Schalen einer Zwiebel umgebenden äußeren Ringe schützen sie gegen frühzeitige Entdeckung, ermöglichen ihnen die Existenz im Untergrund und sorgen für eine Stimmung in Teilen der Bevölkerung, die Anschläge gegen Angehörige politisch markierter Gruppen oder Minderheiten als "Notwehr" rechtfertigt.
Im Prinzip handelt es sich dabei um ein weiter ausgearbeitetes und stärker differenziertes Modell dessen, wie in den siebziger und achtziger Jahren der Linksterrorismus von den bundesdeutschen Verfolgungsbehörden beschrieben und bekämpft worden ist: Terroristische Akteure im Zentrum, um sie herum ein Unterstützerfeld, und um dieses dann eine breit organisierte "Sympathisantenszene", wie man das damals nannte. Es ist bemerkenswert, dass die drei Autoren des Buches auf diese Ähnlichkeiten nicht hinweisen oder sich mit ihnen - kritisch oder affirmativ - auseinandersetzen. So kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier modelltheoretisch längst Bekanntes in semantisch anspruchsvoller Staffage als Neuentdeckung daherkommt. Oder ist den Dreien die Nähe ihres Ansatzes zum alten Modell des Bundeskriminalamts peinlich gewesen, so dass sie diese nicht thematisieren wollten? Oder fürchten sie, dass diese Verbindung dem Dramatisierungsgestus, in dem sie ihre Überlegungen vortragen, entgegenwirken würde? Das wäre zumindest ungeschickt, denn es macht ihre in der Sache sehr zutreffenden Beobachtungen an einer Stelle angreifbar, wo das nicht nötig ist.
Ohnehin gerät durch das Bestreben, die neue Gefährlichkeit der rechten Bedrohungsallianzen herauszustellen, eine Inkonsistenz in die Argumentation, wenn nämlich mit Statistiken und eigenen Berechnungen einerseits die neue Qualität der Herausforderung der liberalen Demokratie von rechts herausgearbeitet, aber an anderer Stelle dann auch wieder betont wird, dass es die rechte Grundierung in den Einstellungen von Teilen der Bevölkerung schon immer, eigentlich seit Gründung der Bundesrepublik, gegeben habe.
Einstellungsmessungen im Langzeitvergleich dürften das bestätigen. Was also hat sich verändert? Sieht man einmal von dem bei Beantwortung dieser Frage geläufigen Komparativ in den Formulierungen ("noch mehr, noch stärker . . .") ab, so ist die wesentliche Differenz der Aufstieg der AfD, dem die Autoren auch große Aufmerksamkeit widmen. Aber hätte es dafür des von ihnen angestellten methodischen Aufwandes bedurft? Wie verhalten sich die Kontinuitätsbeobachtungen zu der zentralen Annahme, dass es im Verlauf der letzten zwei Jahrzehnte unter neoliberalem Einfluss zu einer sozialen Entsicherung von Teilen der Bevölkerung gekommen sei, mit der erst der Zulauf zur rechten Szene begonnen habe? Und vor allem: Was hat die politische Rechte bei der Formung ihrer Bedrohungsallianzen vom früheren Linksradikalismus gelernt, vom Kampf um die kulturelle Hegemonie bis zum Marsch durch die Institutionen, der bei den Autoren in der Formulierung von "verdecktem Eindringen in Sicherheitsinstitutionen" auftaucht?
Das Buch wirft letztlich mehr Fragen auf, als es Antworten geben kann. Aber es sind die richtigen und wichtigen Fragen, die hier in die Debatte eingebracht werden.
HERFRIED MÜNKLER
Wilhelm Heitmeyer, Manuela Freiheit und Peter Sitzer: "Rechte Bedrohungsallianzen".
Signaturen der Bedrohung II. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 325 S., br., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sympathisanten braucht es immer: Der zweite Band der "Signaturen der Bedrohung" setzt auf ein vertrautes Modell
Der von Polizei und Staatsanwaltschaft aufgestellten Behauptung, Einzeltäter hätten die rechtsterroristischen Anschläge der vergangenen Jahrzehnte - von dem auf dem Münchner Oktoberfest bis zu denen in Halle und Hanau - verübt, haben Wilhelm Heitmeyer und seine Mitarbeiter schon lange misstraut. Inzwischen halten eigentlich nur noch einige Polizeibehörden und die Verfassungsschutzämter an dieser Behauptung fest, und das auch nicht, weil sie von deren Richtigkeit überzeugt sind, sondern weil sie sonst ihr Versagen offen eingestehen müssten. Und viele Gerichte, vor denen rechtsterroristische Straftaten verhandelt werden, verurteilen die Angeklagten als Einzeltäter, nicht weil sie davon überzeugt sind, sondern weil sich ihnen anderes nicht hieb- und stichfest nachweisen lässt - auch deswegen nicht, weil auf Grundlage der Einzeltäterhypothese ermittelt wurde.
Dagegen sind die meisten Politiker, die sich in Untersuchungsausschüssen mit den Morden der sich als "Nationalsozialistischer Untergrund" bezeichnenden Gruppe beschäftigt haben, zu der Überzeugung gelangt, dass diese Taten nicht ohne die Unterstützung eines organisierten Netzwerks möglich gewesen wären. Zu diesem Ergebnis sind auch die meisten Journalisten gelangt, von denen die NSU-Morde recherchiert worden sind. Gerichtsfeste Beweise haben aber auch sie nicht beibringen können. Das werde so lange auch nicht möglich sein, wie man soziologisch unbelehrt an das Problem herangehe, lautet die Erklärung, die Wilhelm Heitmeyer, Manuela Freiheit und Peter Sitzer in ihrem Buch für die Ratlosigkeit der Justiz anbieten. Die rechten Bedrohungsallianzen seien nämlich als ein "konzentrisches Eskalationskontinuum" organisiert, und solange man dieses bei der Ermittlungsarbeit nicht zugrunde lege, werde man am Schluss immer bei Einzeltätern landen. Das von Heitmeyer und anderen über fast ein Jahrzehnt hinweg schrittweise entwickelte Eskalationsmodell besteht aus fünf ineinander verschachtelten Ringen, von denen der äußere durch eine "gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit" gekennzeichnet ist, die, in Teilen der Bevölkerung verbreitet, gewissermaßen das Humusbett für die Gewaltbereitschaft in den inneren Ringen darstellt. Der nach innen anschließende Ring wird als das "Milieu des autoritären Nationalradikalismus" bezeichnet, dem die Autoren unter anderen die Pegida-Bewegung und die AfD zurechnen. Hier wird eine Destabilisierung der liberalen Demokratie mit dem Ziel eines Systemwechsels angestrebt.
In dem weiter innen liegenden Ring, dem "systemfeindlichen Milieu", wird der Sturz der demokratischen Ordnung und die Zerstörung der offenen Gesellschaft angestrebt. Diesem Milieu werden neonazistische Kameradschaften, die Identitäre Bewegung, die Reichsbürger sowie völkische Siedlungsgemeinschaften zugerechnet. Dem schließt sich dann als weiterer Ring das "klandestine terroristische Planungs- und Unterstützungsmilieu" an, und im Zentrum stehen die "terroristischen Vernichtungsakteure". Die diese Akteure wie Schalen einer Zwiebel umgebenden äußeren Ringe schützen sie gegen frühzeitige Entdeckung, ermöglichen ihnen die Existenz im Untergrund und sorgen für eine Stimmung in Teilen der Bevölkerung, die Anschläge gegen Angehörige politisch markierter Gruppen oder Minderheiten als "Notwehr" rechtfertigt.
Im Prinzip handelt es sich dabei um ein weiter ausgearbeitetes und stärker differenziertes Modell dessen, wie in den siebziger und achtziger Jahren der Linksterrorismus von den bundesdeutschen Verfolgungsbehörden beschrieben und bekämpft worden ist: Terroristische Akteure im Zentrum, um sie herum ein Unterstützerfeld, und um dieses dann eine breit organisierte "Sympathisantenszene", wie man das damals nannte. Es ist bemerkenswert, dass die drei Autoren des Buches auf diese Ähnlichkeiten nicht hinweisen oder sich mit ihnen - kritisch oder affirmativ - auseinandersetzen. So kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier modelltheoretisch längst Bekanntes in semantisch anspruchsvoller Staffage als Neuentdeckung daherkommt. Oder ist den Dreien die Nähe ihres Ansatzes zum alten Modell des Bundeskriminalamts peinlich gewesen, so dass sie diese nicht thematisieren wollten? Oder fürchten sie, dass diese Verbindung dem Dramatisierungsgestus, in dem sie ihre Überlegungen vortragen, entgegenwirken würde? Das wäre zumindest ungeschickt, denn es macht ihre in der Sache sehr zutreffenden Beobachtungen an einer Stelle angreifbar, wo das nicht nötig ist.
Ohnehin gerät durch das Bestreben, die neue Gefährlichkeit der rechten Bedrohungsallianzen herauszustellen, eine Inkonsistenz in die Argumentation, wenn nämlich mit Statistiken und eigenen Berechnungen einerseits die neue Qualität der Herausforderung der liberalen Demokratie von rechts herausgearbeitet, aber an anderer Stelle dann auch wieder betont wird, dass es die rechte Grundierung in den Einstellungen von Teilen der Bevölkerung schon immer, eigentlich seit Gründung der Bundesrepublik, gegeben habe.
Einstellungsmessungen im Langzeitvergleich dürften das bestätigen. Was also hat sich verändert? Sieht man einmal von dem bei Beantwortung dieser Frage geläufigen Komparativ in den Formulierungen ("noch mehr, noch stärker . . .") ab, so ist die wesentliche Differenz der Aufstieg der AfD, dem die Autoren auch große Aufmerksamkeit widmen. Aber hätte es dafür des von ihnen angestellten methodischen Aufwandes bedurft? Wie verhalten sich die Kontinuitätsbeobachtungen zu der zentralen Annahme, dass es im Verlauf der letzten zwei Jahrzehnte unter neoliberalem Einfluss zu einer sozialen Entsicherung von Teilen der Bevölkerung gekommen sei, mit der erst der Zulauf zur rechten Szene begonnen habe? Und vor allem: Was hat die politische Rechte bei der Formung ihrer Bedrohungsallianzen vom früheren Linksradikalismus gelernt, vom Kampf um die kulturelle Hegemonie bis zum Marsch durch die Institutionen, der bei den Autoren in der Formulierung von "verdecktem Eindringen in Sicherheitsinstitutionen" auftaucht?
Das Buch wirft letztlich mehr Fragen auf, als es Antworten geben kann. Aber es sind die richtigen und wichtigen Fragen, die hier in die Debatte eingebracht werden.
HERFRIED MÜNKLER
Wilhelm Heitmeyer, Manuela Freiheit und Peter Sitzer: "Rechte Bedrohungsallianzen".
Signaturen der Bedrohung II. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 325 S., br., 18,- [Euro].
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»... es sind die richtigen und wichtigen Fragen, die hier in die Debatte eingebracht werden.« Herfried Münkler Frankfurter Allgemeine Zeitung 20201111