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"Rede, daß ich dich sehe", eine Sammlung von Essays, Reden, Interviews, Gratulations- und Gefälligkeitstexten aus Christa Wolfs Nachlass, liest sich wie eine Abrechnung. In ihren Reden schwingt eine selbstbewusste Verachtung des Westens immer mit, weltanschaulich gibt es bei Wolf keine Weiterentwicklung seit den sechziger Jahren, und alles, was an der SED-Führung zu rügen sie nicht umhinkann, schiebt sie den Russen und dem Westen in die Schuhe. In Interviews praktizierte sie eine sophistische Rhetorik, immer vom hohen Ross der Ostintelligenzija: "Wir hatten, im Westen mehr als im Osten, mit den Rücken zueinander gelebt, bezogen unsere Kenntnis voneinander anstatt aus gelebter Erfahrung miteinander zumeist aus zweiter Hand, aus oft tendenziösen oder nicht genau unterrichteten Medien." Wolf reflektiert nicht auf ihren Sonderstatus als Mitglied der DDR-Kulturelite und denkt nicht im Traum daran, sich in die Konsumsehnsucht ihrer Mitbürger hineinzuversetzen: "Massenhafter Verzicht auf Konsum", bemerkt sie 2007 vor der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung, "ist nicht oder noch nicht durchzusetzen." Als sie und ihr Mann in der Sowjetunion Max Frisch kennenlernten, kam es 1968 zum Streit: "Wir fanden, dass der Sozialismus schon die bessere, die zukunftsweisende Lebensform sei, trotz aller Fehler. Und Frisch hatte diese Fehler zum Thema gemacht, das fanden wir spießig." Der Eiserne Vorhang tut diesem Idealismus keinen Abbruch, im Gegenteil: "Wir hatten gehofft, nach dem Bau der Mauer würden bessere Bedingungen für eine kritische Literatur und Kunst entstehen." Die DDR - ein Reservat zum Wohle aufgeklärter Leser? "Allerdings glaube ich, dass größere Menschenmassen eher nicht von der Ratio, sondern von ihren Wünschen und Instinkten angetrieben werden. Dem müsste man eine utopische Richtung geben. Da könnte Literatur noch etwas bewirken." (Christa Wolf: "Rede, daß ich dich sehe". Essays, Reden, Gespräche. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 208 S., geb., 19,95 [Euro].)
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