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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Das Leben ist eine Landkarte: In seinem Roman "Regeln des Tanzes" schickt Thomas Stangl einen alten Mann auf die Suche nach der Geschichte alter Fotografien. Das ist nicht immer leicht zu lesen, wirkt in geglückten Momenten aber magisch.
Die Romane von Thomas Stangl, der jetzt mit "Regeln des Tanzes" seinen vierten vorlegt, sind Botschaften aus den Randzonen des immerzu grübelnden Ichs. 1966 in Wien geboren, erzählt der Österreicher seit seinem Debüt "Der einzige Ort" (2004), das noch Afrikas Wüste durchmaß, von den großen Themen; von Fremdheit und Einsamkeit, von dem Begehren, etwas zu verändern - und schließlich von dem Übergleiten des nur Gedachten in die unwiderrufliche Tat. Und weil das vor allem zum sprachlichen Ereignis wird, hier gleich eine Kostprobe, aus dem Leben eines alten Mannes in Wien, der schon viel zu lange mit seiner Frau Pre zusammenlebt: "Die Woche zieht sich hin. Er verlässt selten die Wohnung, holt Weinflaschen aus dem Keller und mariniert Geflügelstückchen mit Ingwer und Koriander, sieht Pre auftauchen und verschwinden, als bewohne sie einen anderen Raum, eine parallele Welt, die sich zufällig über seine Wohnung gelegt hat."
Irgendwann verlässt Pre den Mann tatsächlich, es deutete sich bereits an. Überhaupt liegt die Zukunft des Romans immer schon in allen Zeilen drin. Die Zeiten verschwimmen, und man verliert, wie der Mann, das sichere Gefühl für Zeit und Raum: "Er schaute zum Schreibtisch hin, an dem Pre abends immer gesessen hatte, und glitt bewegungslos die Jahrzehnte zurück und zugleich nach vorn, hin zu seinem Tod, an einem Tag, an den er sich schon heute erinnert."
Rückblenden und Vorgriffe sind bei Stangl keine technischen Kniffe. Eher die automatischen Bahnen eines Denkens, das auf Schocksituationen mit kleinen Beben reagiert. Diese inneren Beben zeichnet Stangl auf, zwischen diesem Rentner, einem emeritierten Kunstgeschichtler, und zwei Schwestern, die in Wien wohnen. Der Rentner steht mit ihnen irgendwie in geheimer Verbindung: Er findet zufällig Fotografien dieser Schwestern und macht sich nach dem Weggang von Pre auf die Suche nach der Geschichte zu den Fotografien, fünfzehn Jahre später.
In Montagen erfährt man, was damals geschah. Die beiden Schwestern, Studentinnen nur auf dem Papier, teilen sich eine Wohnung. Ihr Vater starb, man weiß noch nicht, wie, man ahnt nur, dass es nicht übliche Trauer ist wie nach einem natürlichen Tod, sondern ein Unheil, das diese beiden Schwestern aneinanderschweißt. Die eine treibt es täglich in die Stadt, wo sie an den Protestzügen gegen die Regierung teilnimmt; als "Donnerstagsdemonstrationen" sind diese Kundgebungen in die Geschichtsbücher eingegangen.
Die andere, Mona, hat sich von allen abgewandt. Sie ist das genaue Gegenteil der Schwester, eine Wirklichkeitsflüchtige, nicht greifbar. Dann ist sie plötzlich verschwunden, und die zurückgelassene Schwester beginnt, die leere Wohnung zu fotografieren, Tag für Tag - ebenjene Bilder, die der alte Mann in den Händen hält. Sie sucht Mona in den Straßen Wiens. Das eigene Leben kommt ihr immer leerer vor, wie aufgeklebt. Wie ein Choreograph, der die Bühne mit ihren kuriosen Mustern von oben im Blick hat, zugleich aber aus der Mitte heraus schaut, folgt Thomas Stangl den Schwestern durch die Stadt. Irgendwann greift eine dieser beiden jungen Frauen nach der Waffe eines Polizisten.
Es braucht Ruhe und Geduld, diese langsame, achtsame Prosa zu lesen. "Regeln des Tanzes" gleicht einer Landkarte, die entfaltet einige Tage liegenbleiben muss, mit Lesepausen. Da sind Wege, die man auf den ersten Blick übersah; und Empfindungsspitzen, die überscharfe Porträts liefern, mit den "Schmerzzentren" dieser einsamen Schwestern. Man ist dabei, wenn sie auf ihrer je eigenen Flucht mit sich selbst sprechen, Möglichkeiten abwägen und um den natürlichsten Ablauf von Alltag kämpfen: "Du erfindest eine Spielregel; nichts kann dir geschehen." So formt sich aus den kleinsten Bildpixeln, angestoßen vom Zigarettenrauch oder der Hand in der Jackentasche, die den Schlüssel sucht, eine Folge von Bewegungen. Das Leben als absurder Tanz um eine geheime Mitte - das vermittelt sich hier vor allem über fein zergliederte Satzkaskaden, über Beschreibungen einer aufgebrochenen Stadt, die mit den Innenaufnahmen der Figuren korrespondieren. Das ist der fast körperlich spürbare Effekt beim Lesen dieses Romans. Erklären sie aber die Tat?
Im Kern geht es immer weniger um die geheime Verbindung zwischen dem alten Mann und den Schwestern. Beide Geschichten bleiben lange getrennt. Und doch überlappen sie einander schon vorher, weil sie von der gleichen Bedrängnis erzählen. Alle drei Menschen hatten einmal Ideale - die Arbeit, den Tanz, die Revolution. Dann streicht die Zeit darüber hinweg, dazu eine Katastrophe von außen, und etwas zerbricht. Alles wird gleichwertig. Von diesem Punkt aus streben diese inneren Dialoge weg. Stangl zeichnet aus dem subjektiven Echoraum den fragilen Boden, auf dem wir schwerfällig wandern, bestenfalls tänzerisch. Er zeigt unterschiedliche Möglichkeiten des Widerstands.
Vielleicht führt das, wie die verebbende Demonstration, in eine neue Leere; vielleicht für den Einzelnen in eine Lebensform, die wenigstens durch die Dichte der Empfindungen trägt. Thomas Stangl, der Philosophie und Spanisch studierte, folgt dem Bewusstseinsstrom so konsequent, so radikal, dass diese Abfolge kleinster Lebensmomente selbst zur Kunst wird, die sich betrachten und goutieren lässt - als Roman. Das wäre jenseits von üblichen Glücksversprechern nicht wenig: das von Menschen und Geschichte unabhängige Glück, das sich beim Betrachten der Welt von selbst einstellt, inklusive der Angst, der Resignation, der Trauer über das Ungelebte. In jedem Fall schreibt Thomas Stangl gute Literatur, die bisweilen unbequem an einem zieht und zerrt, die in ihren besten Momenten magisch leuchtet und nicht mit Auflösung dient. Diese über lange Strecken gehaltene Dissonanz ist in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur höchst selten geworden.
ANJA HIRSCH
Thomas Stangl: "Regeln des Tanzes". Roman.
Droschl Verlag, Wien 2013. 278 S., geb., 22,- [Euro].
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