"¿Reich Gottes und Christentum"¿ ist im wesentlichen in den Jahren 1947 bis 1951 entstanden. Als Ulrich Neuenschwander 1967 den ersten Teil aus dem Nachlaß Albert Schweitzers veröffentlichte, musste er davon ausgehen, daß mehr nicht enthalten sei; 1977 kam dann aber das Manuskript des zweiten Teils zutage. Das Werk, das Schweitzer selbst einmal als sein 'Theologisches Testament' bezeichnet hat, wird hier erstmals vollständig veröffentlicht. Schweitzer entfaltet in diesem Werk die Geschichte der biblischen eschatologischen Vorstellungen. Der erste Teil bietet nach einem knappen Überblick über die Reich-Gottes-Vorstellung der Propheten und Apokalyptiker eine umfassende Auseinandersetzung mit der Eschatologie bei Jesus und Paulus. Der zweite Teil zieht die Linien aus bis zur Gegenwart und geht der Frage nach, wie Jesu Verkündigung eines jenseitigen und zukünftigen Gottesreiches in der Kirchengeschichte verändert wurde und was sie bis heute bedeuten könnte. Im Anhang werden wichtige Entwurfstexte, unter anderem zum fehlenden Kapitel über die Kirche, abgedruckt. Albert Schweitzer bietet hier, im achten Lebensjahrzehnt, eine Summe seines theologischen Denkens. "¿Christentum und Reich Gottes: das Finale zur Geschichte der Leben-Jesu-Forschung und zur Mystik des Paulus"¿, lautet der Text einer Notiz, die er während der Arbeit an dem Werk verfaßte.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.06.1995Das Reich Gottes, bei Nacht und in der Tropenhitze
Eine überfällige Erinnerung daran, daß Albert Schweitzer mehr war als ein Urwalddoktor: Sein Nachlaß wird veröffentlicht
Albert Schweitzer ist in weiteren Kreisen ein unbekannter Mann geworden. Man kennt ihn als den "Urwald-Doktor". Aber das ist auch alles. Dann gibt es einen nicht sehr großen Kreis von Menschen, der von der Ethik Albert Schweitzers weiß, und zwar unter der Devise von der "Ehrfurcht vor dem Leben". Doch diese "Ehrfurcht vor dem Leben" wird oft allzu unbedenklich vitalistisch oder ökologisch interpretiert. Der Sinn aber dieser "Ehrfurcht vor dem Leben" ist nicht Emotion oder lebensphilosophischer Aufschwung.
Vor mir liegt ein Brief Schweitzers mit dem Bild einer Insel im Ogowe, die, was Pflanzen und Tiere angeht, von überschäumendem Lebenswillen strotzt. Hier, an dieser Stelle - so schreibt Schweitzer -, sei ihm die Idee von der "Ehrfurcht vor dem Leben" gekommen: Jeder dieser vielen Lebenswillen begegnet anderem Lebenswillen. Ethisch aber ist nicht die Durchsetzung dieses eigenen Lebenswillens, sondern "ethisch" heißt, den fremden Lebenswillen in meinen Lebenswillen - als Grenze, als Negation des eigenen Willens wie als Selbstaufgabe - aufzunehmen. "Die Lebensbejahung", schreibt Schweitzer in "Kultur und Ethik", "strengt sich an, Lebensverneinung in sich aufzunehmen, um anderen Lebewesen in Hingebung zu dienen und dieselben auch eventuell durch Selbstaufopferung vor Schädigung und Vernichtung zu bewahren." Das hat zunächst mit Ökologie gar nichts zu tun. Aber es hat mit der Verneinung der Selbstbehauptung zu tun. In dieser Hingabe des Selbstwillens lebt die zentrale Einsicht Schweitzers. Sie hat die zentrale christliche Einsicht von der Agape, der Liebe in die ihr heute angemessene Form gebracht - als "Ehrfurcht vor dem Leben".
Albert Schweitzers Leben hat drei Schwerpunkte: Zuerst die theologisch-religionsphilosophische Arbeit. Er hat diese Arbeit mit 21 Jahren - also 1896 - auf "noch zehn Jahre" befristet und tatsächlich 1906 sein Medizin-Studium aufgenommen. In diesen zehn Jahren hat er seine Behandlung der Religionsphilosophie Kants (1899), seine exegetische Arbeit über das Abendmahl (1901) und seine Geschichte der liberalen Theologie "Von Reimarus bis Wrede" (1906) abgeschlossen. Dabei wird schon zu dieser Zeit sichtbar, daß Albert Schweitzer ein historisch denkender und argumentierender Theologe und Philosoph war.
Schweitzer hat diese erste und zentrale Seite seines Denkens vor seiner Ausreise nach Afrika durch zwei Bücher abgeschlossen: "Die Geschichte der paulinischen Forschung" (1911) und "Die Geschichte der Leben-Jesu-Forschung" (1913). Gerade das zweite große Buch über die Leben-Jesu-Forschung ist sehr weit beachtet worden und hat ein Zeitalter neutestamentlicher Wissenschaft beendet, eben die Leben-Jesu-Forschung. Schweitzer zeigt hier, daß die Evangelien nicht biographisch interpretiert sein wollen. Das Buch hat jahrzehntelang Maßstäbe gesetzt.
Das zweite Zentrum des Lebens Albert Schweitzers war seine musikalische Begabung, die sich zumal in seiner Orgel-Begeisterung äußerte. Auch literarisch hat er dem Ausdruck gegeben: In der Mitte stehen seine Veröffentlichungen über Johann Sebastian Bach, dessen Orgelwerke er in den Jahren nach 1912 edierte. Bach und seine Musik faszinierten Schweitzer literarisch wie musikalisch in den vielen Konzerten, die er gab, immer wieder. Aber er war auch zu ganz schlichtem musikalischem Engagement bereit: Auf seiner letzten Europa-Reise, die er des Preises wegen wieder einmal auf einem Frachtdampfer machte, komponierte er für die Besatzung, die gerne tanzen wollte, zwei schmissige Walzer. Schweitzer hat die Bachsche Musik auch in den Dienst seiner Sache gestellt und seine Konzerterlöse für Lambarene verwendet. Aber er hat nicht nur Bach gespielt und ediert, sondern auch rein theoretische Arbeiten über den Violinbogen, mit dem Bach am besten zu spielen sei, veröffentlicht.
Das dritte Zentrum seines Lebens war die Medizin - nicht als Wissenschaft, sondern als Mittel, um Leben zu erleichtern und zu schützen. Daß er dazu Zentralafrika und eine Missionsarbeit auswählte, war typisch für ihn. Die Einfachheit der medizinischen Mittel und Methoden, der er anwendete, wie die ganz auf die Eingeborenen eingehenden Pflegeformen - was man ihm beides verdacht hat - zeigen, wie bereit er war, eigene Überzeugtheiten und europäische Übertriebenheiten aufzugeben. Dabei war er aber nicht in die Einsamkeit von Lambarene vergraben. Er hat vielmehr von hier aus zum Beispiel den Weg Mahatma Ghandis mit Rat gelenkt und unterstützt. Ein großer Briefwechsel hat ihn die Jahrzehnte hindurch begleitet - man wünschte, diese Korrespondenz wäre längst verfügbar.
Zu Lambarene gehört das stetige Bemühen, die Finanzierung des Unternehmens zu sichern. Hierzu entfaltete Schweitzer von 1922 bis 1950 eine ganz eigene literarische Produktion von immer neuen biographischen Büchern, wie "Zwischen Wasser und Urwald" (1922) bis hin zu dem letzten dieser Werke: "Ein Pelikan erzählt aus seinem Leben" (1950). Er schrieb sechs biographische Werke, die sich zum Teil gut verkauften, und das war ein Teil der wirtschaftlichen Fürsorge für sein Hospital. Dabei muß man die Mühe des Schreibens in der Hitze - vorwiegend nachts - neben dem mächtigen Briefwechsel vor Augen haben, um die Arbeitslast abzuschätzen, die er auf sich nahm.
Von 1906 an werden diese drei Tätigkeitsfelder ständig parallel bearbeitet. Sie befruchten sich gegenseitig. Sie haben niemals aufgehört, ihn zu beschäftigen. Die geistige Energie, die Schweitzers Dasein verlangte und gab, ist eminent. Und der Nachlaß zeigt eindringlich, wieviel da noch im Hintergrund stand. Dieser Nachlaß wird in acht Teilen erscheinen: 1) Das hier anzuzeigende Werk "Reich Gottes und Christentum"; 2) Die Straßburger Vorlesungen aus den Jahren 1901 bis 1912; 3) Die Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben - Kulturphilosophie III - in zwei Bänden; 4) Ausgewählte Predigten; 5) Geschichte des chinesischen Denkens; 6) Vorlesungen zu den Welt-Religionen; 7) Vorträge und Aufsätze; 8) "Wir Epigonen" (1914/18).
"Reich Gottes und Christentum" umfaßt in dieser Nachlaß-Ausgabe auch den ersten Teil des Werkes, den Ulrich Neuenschwander 1966 herausgab. Dieser erste Teil bietet die Geschichte der Reich-Gottes-Idee von Amos bis zu Paulus. Das sind Materialien, die in den Schriften Schweitzers zum Neuen Testament schon angeklungen waren. Schweitzer vertrat die These von der "konsequenten Eschatologie", die sich in allen Äußerungen Jesu ausdrücke, wozu der Glaube der Naherwartung des Weltendes gehört, der die gesamte Weltsicht der neutestamentlichen Schriften bestimmt. Der zweite Teil des Werkes verfolgt nun diese Eschatologie des Urchristentums in ihre Verfremdung von der Nah- zur Fern-Erwartung des Reiches Gottes. Dieser historische Umformungs-Vorgang wird bis in unsere Gegenwart hinein gedeutet und dargestellt.
Wir können hier nicht darstellen, wie Schweitzer diesen unerhörten Entwicklungsgang nachzeichnet. Aber die erregende Quintessenz läßt sich umreißen: Das neutestamentliche Zeitalter erwartet Gottes Handeln als Aufrichtung seines Reiches in zeitlicher Nähe. Als klar wurde, daß dies nicht geschah, orientierte man sich an der nunmehr fernen Künftigkeit des Reiches und wandte sich damit von der Welt ab. Man lebte der Sündenvergebung und dem Glauben an die Auferstehung.
Damit war der entscheidende Glaubensumschwung aber noch nicht geschehen, denn Schweitzer sagt: "Indem Gott das Reich nicht alsbald anbrechen läßt, verlangt Gott unsere Mitarbeit. So sind die Zeichen der Zeit zu verstehen. Wir müssen uns dann bemühen, daß er Reich Gottes in uns werde oder der Geist des Reiches Gottes durch uns zur Wirkung in der Welt komme. In Vorbereitung auf das Reich, das Gott zerbrechen lassen wird." Das heißt also, daß der Glaube an das kommende Gottesreich, das Gott allein herbeiführt, bei seinem Ausbleiben die Christen in Bewegung bringt, diese "böse Welt" dem Reiche sittlich zuzuführen, indem wir "den Geist des Reiches Gottes" an dieser Welt ausüben. Dieser Geist aber ist als "Ehrfurcht vor dem Leben" charakterisiert.
Es geht Schweitzer mithin darum, die Reich-Gottes-Erwartung Jesu wie des Urchristentums und die Reich-Gottes-Erwartung der Neuzeit als einander verwandt zu erweisen. Dabei kommt es darauf an, den tief ethischen Charakter dieses Geistes des Reichs Gottes zu erfassen. Der christliche Glaube wird darin frei gemacht zu eindeutiger Welt- und Lebens-Bejahung, so gewiß er Selbst-Hingabe oder Selbst-Verneinung in sich aufgenommen hat, da er in der "Ehrfurcht" vor dem universalen Lebenswillen lebt: "Der Glaube an das Reich Gottes ist das Größte und Schwerste, was der christliche Glauben zu leisten hat. Er verlangt von uns, daß wir das unmöglich Scheinende, das Überwältigtwerden des Geistes der Welt durch den Geist Gottes für möglich halten. Wir vertrauen auf das durch den Geist zu vollbringende Wunder." CARL HEINZ RATSCHOW
Albert Schweitzer: "Reich Gottes und Christentum". Herausgegeben von Ulrich Luz, Ulrich Neuenschwander () und Johann Zürcher. "Werke aus dem Nachlaß". Herausgegeben von Richard Brüllmann, Erich Gräßer, Claus Günzler, Bernhard Kaempf, Ulrich Körtner, Ulrich Luz und Johann Zürcher. Verlag C. H. Beck, München 1995. 508 S., geb., 118,- DM, bei Bezug der kompl. Nachlaßausgabe 98,- DM.
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Eine überfällige Erinnerung daran, daß Albert Schweitzer mehr war als ein Urwalddoktor: Sein Nachlaß wird veröffentlicht
Albert Schweitzer ist in weiteren Kreisen ein unbekannter Mann geworden. Man kennt ihn als den "Urwald-Doktor". Aber das ist auch alles. Dann gibt es einen nicht sehr großen Kreis von Menschen, der von der Ethik Albert Schweitzers weiß, und zwar unter der Devise von der "Ehrfurcht vor dem Leben". Doch diese "Ehrfurcht vor dem Leben" wird oft allzu unbedenklich vitalistisch oder ökologisch interpretiert. Der Sinn aber dieser "Ehrfurcht vor dem Leben" ist nicht Emotion oder lebensphilosophischer Aufschwung.
Vor mir liegt ein Brief Schweitzers mit dem Bild einer Insel im Ogowe, die, was Pflanzen und Tiere angeht, von überschäumendem Lebenswillen strotzt. Hier, an dieser Stelle - so schreibt Schweitzer -, sei ihm die Idee von der "Ehrfurcht vor dem Leben" gekommen: Jeder dieser vielen Lebenswillen begegnet anderem Lebenswillen. Ethisch aber ist nicht die Durchsetzung dieses eigenen Lebenswillens, sondern "ethisch" heißt, den fremden Lebenswillen in meinen Lebenswillen - als Grenze, als Negation des eigenen Willens wie als Selbstaufgabe - aufzunehmen. "Die Lebensbejahung", schreibt Schweitzer in "Kultur und Ethik", "strengt sich an, Lebensverneinung in sich aufzunehmen, um anderen Lebewesen in Hingebung zu dienen und dieselben auch eventuell durch Selbstaufopferung vor Schädigung und Vernichtung zu bewahren." Das hat zunächst mit Ökologie gar nichts zu tun. Aber es hat mit der Verneinung der Selbstbehauptung zu tun. In dieser Hingabe des Selbstwillens lebt die zentrale Einsicht Schweitzers. Sie hat die zentrale christliche Einsicht von der Agape, der Liebe in die ihr heute angemessene Form gebracht - als "Ehrfurcht vor dem Leben".
Albert Schweitzers Leben hat drei Schwerpunkte: Zuerst die theologisch-religionsphilosophische Arbeit. Er hat diese Arbeit mit 21 Jahren - also 1896 - auf "noch zehn Jahre" befristet und tatsächlich 1906 sein Medizin-Studium aufgenommen. In diesen zehn Jahren hat er seine Behandlung der Religionsphilosophie Kants (1899), seine exegetische Arbeit über das Abendmahl (1901) und seine Geschichte der liberalen Theologie "Von Reimarus bis Wrede" (1906) abgeschlossen. Dabei wird schon zu dieser Zeit sichtbar, daß Albert Schweitzer ein historisch denkender und argumentierender Theologe und Philosoph war.
Schweitzer hat diese erste und zentrale Seite seines Denkens vor seiner Ausreise nach Afrika durch zwei Bücher abgeschlossen: "Die Geschichte der paulinischen Forschung" (1911) und "Die Geschichte der Leben-Jesu-Forschung" (1913). Gerade das zweite große Buch über die Leben-Jesu-Forschung ist sehr weit beachtet worden und hat ein Zeitalter neutestamentlicher Wissenschaft beendet, eben die Leben-Jesu-Forschung. Schweitzer zeigt hier, daß die Evangelien nicht biographisch interpretiert sein wollen. Das Buch hat jahrzehntelang Maßstäbe gesetzt.
Das zweite Zentrum des Lebens Albert Schweitzers war seine musikalische Begabung, die sich zumal in seiner Orgel-Begeisterung äußerte. Auch literarisch hat er dem Ausdruck gegeben: In der Mitte stehen seine Veröffentlichungen über Johann Sebastian Bach, dessen Orgelwerke er in den Jahren nach 1912 edierte. Bach und seine Musik faszinierten Schweitzer literarisch wie musikalisch in den vielen Konzerten, die er gab, immer wieder. Aber er war auch zu ganz schlichtem musikalischem Engagement bereit: Auf seiner letzten Europa-Reise, die er des Preises wegen wieder einmal auf einem Frachtdampfer machte, komponierte er für die Besatzung, die gerne tanzen wollte, zwei schmissige Walzer. Schweitzer hat die Bachsche Musik auch in den Dienst seiner Sache gestellt und seine Konzerterlöse für Lambarene verwendet. Aber er hat nicht nur Bach gespielt und ediert, sondern auch rein theoretische Arbeiten über den Violinbogen, mit dem Bach am besten zu spielen sei, veröffentlicht.
Das dritte Zentrum seines Lebens war die Medizin - nicht als Wissenschaft, sondern als Mittel, um Leben zu erleichtern und zu schützen. Daß er dazu Zentralafrika und eine Missionsarbeit auswählte, war typisch für ihn. Die Einfachheit der medizinischen Mittel und Methoden, der er anwendete, wie die ganz auf die Eingeborenen eingehenden Pflegeformen - was man ihm beides verdacht hat - zeigen, wie bereit er war, eigene Überzeugtheiten und europäische Übertriebenheiten aufzugeben. Dabei war er aber nicht in die Einsamkeit von Lambarene vergraben. Er hat vielmehr von hier aus zum Beispiel den Weg Mahatma Ghandis mit Rat gelenkt und unterstützt. Ein großer Briefwechsel hat ihn die Jahrzehnte hindurch begleitet - man wünschte, diese Korrespondenz wäre längst verfügbar.
Zu Lambarene gehört das stetige Bemühen, die Finanzierung des Unternehmens zu sichern. Hierzu entfaltete Schweitzer von 1922 bis 1950 eine ganz eigene literarische Produktion von immer neuen biographischen Büchern, wie "Zwischen Wasser und Urwald" (1922) bis hin zu dem letzten dieser Werke: "Ein Pelikan erzählt aus seinem Leben" (1950). Er schrieb sechs biographische Werke, die sich zum Teil gut verkauften, und das war ein Teil der wirtschaftlichen Fürsorge für sein Hospital. Dabei muß man die Mühe des Schreibens in der Hitze - vorwiegend nachts - neben dem mächtigen Briefwechsel vor Augen haben, um die Arbeitslast abzuschätzen, die er auf sich nahm.
Von 1906 an werden diese drei Tätigkeitsfelder ständig parallel bearbeitet. Sie befruchten sich gegenseitig. Sie haben niemals aufgehört, ihn zu beschäftigen. Die geistige Energie, die Schweitzers Dasein verlangte und gab, ist eminent. Und der Nachlaß zeigt eindringlich, wieviel da noch im Hintergrund stand. Dieser Nachlaß wird in acht Teilen erscheinen: 1) Das hier anzuzeigende Werk "Reich Gottes und Christentum"; 2) Die Straßburger Vorlesungen aus den Jahren 1901 bis 1912; 3) Die Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben - Kulturphilosophie III - in zwei Bänden; 4) Ausgewählte Predigten; 5) Geschichte des chinesischen Denkens; 6) Vorlesungen zu den Welt-Religionen; 7) Vorträge und Aufsätze; 8) "Wir Epigonen" (1914/18).
"Reich Gottes und Christentum" umfaßt in dieser Nachlaß-Ausgabe auch den ersten Teil des Werkes, den Ulrich Neuenschwander 1966 herausgab. Dieser erste Teil bietet die Geschichte der Reich-Gottes-Idee von Amos bis zu Paulus. Das sind Materialien, die in den Schriften Schweitzers zum Neuen Testament schon angeklungen waren. Schweitzer vertrat die These von der "konsequenten Eschatologie", die sich in allen Äußerungen Jesu ausdrücke, wozu der Glaube der Naherwartung des Weltendes gehört, der die gesamte Weltsicht der neutestamentlichen Schriften bestimmt. Der zweite Teil des Werkes verfolgt nun diese Eschatologie des Urchristentums in ihre Verfremdung von der Nah- zur Fern-Erwartung des Reiches Gottes. Dieser historische Umformungs-Vorgang wird bis in unsere Gegenwart hinein gedeutet und dargestellt.
Wir können hier nicht darstellen, wie Schweitzer diesen unerhörten Entwicklungsgang nachzeichnet. Aber die erregende Quintessenz läßt sich umreißen: Das neutestamentliche Zeitalter erwartet Gottes Handeln als Aufrichtung seines Reiches in zeitlicher Nähe. Als klar wurde, daß dies nicht geschah, orientierte man sich an der nunmehr fernen Künftigkeit des Reiches und wandte sich damit von der Welt ab. Man lebte der Sündenvergebung und dem Glauben an die Auferstehung.
Damit war der entscheidende Glaubensumschwung aber noch nicht geschehen, denn Schweitzer sagt: "Indem Gott das Reich nicht alsbald anbrechen läßt, verlangt Gott unsere Mitarbeit. So sind die Zeichen der Zeit zu verstehen. Wir müssen uns dann bemühen, daß er Reich Gottes in uns werde oder der Geist des Reiches Gottes durch uns zur Wirkung in der Welt komme. In Vorbereitung auf das Reich, das Gott zerbrechen lassen wird." Das heißt also, daß der Glaube an das kommende Gottesreich, das Gott allein herbeiführt, bei seinem Ausbleiben die Christen in Bewegung bringt, diese "böse Welt" dem Reiche sittlich zuzuführen, indem wir "den Geist des Reiches Gottes" an dieser Welt ausüben. Dieser Geist aber ist als "Ehrfurcht vor dem Leben" charakterisiert.
Es geht Schweitzer mithin darum, die Reich-Gottes-Erwartung Jesu wie des Urchristentums und die Reich-Gottes-Erwartung der Neuzeit als einander verwandt zu erweisen. Dabei kommt es darauf an, den tief ethischen Charakter dieses Geistes des Reichs Gottes zu erfassen. Der christliche Glaube wird darin frei gemacht zu eindeutiger Welt- und Lebens-Bejahung, so gewiß er Selbst-Hingabe oder Selbst-Verneinung in sich aufgenommen hat, da er in der "Ehrfurcht" vor dem universalen Lebenswillen lebt: "Der Glaube an das Reich Gottes ist das Größte und Schwerste, was der christliche Glauben zu leisten hat. Er verlangt von uns, daß wir das unmöglich Scheinende, das Überwältigtwerden des Geistes der Welt durch den Geist Gottes für möglich halten. Wir vertrauen auf das durch den Geist zu vollbringende Wunder." CARL HEINZ RATSCHOW
Albert Schweitzer: "Reich Gottes und Christentum". Herausgegeben von Ulrich Luz, Ulrich Neuenschwander () und Johann Zürcher. "Werke aus dem Nachlaß". Herausgegeben von Richard Brüllmann, Erich Gräßer, Claus Günzler, Bernhard Kaempf, Ulrich Körtner, Ulrich Luz und Johann Zürcher. Verlag C. H. Beck, München 1995. 508 S., geb., 118,- DM, bei Bezug der kompl. Nachlaßausgabe 98,- DM.
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