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Grotesk gut: Neunzehntes und einundzwanzigstes Jahrhundert sind sich bei Hannelore Cayre gefährlich nah
Das neue Buch von Hannelore Cayre ist erst ein paar Seiten alt, als Auguste von einem schrillenden Wecker unsanft aus dem Schlaf gerissen wird. Die Ursünde gewissermaßen, die eine sich über Generationen erstreckende Erbfolge von Abscheulichkeiten in Gang setzt. Ein Wecker ist im Jahre 1870 eine noch verhältnismäßig neue Erfindung, und da sie den Tag einläutet, an dem ein Losverfahren darüber entscheidet, ob Auguste in der Armee verheizt wird, gibt sie zu Beginn dieser romangewordenen Systemanalyse ein schwärzeres Omen ab, als es zunächst den Anschein hat.
Krieg und Kapitalismus bildeten schon im Frankreich des Kaisers Napoleon III. eine unheilige Allianz. Damals blieb jungen Männern mit einer schlechten Losnummer nur eine Möglichkeit, sich dem Kriegsdienst zu entziehen: Innerhalb einer Frist hatten sie einen Ersatzmann von adäquater Statur und Konstitution zu präsentieren. Ein regelrechter Menschenhandel erblühte, bei dem eigens eingerichtete Agenturen den feingeistigen Söhnen der betuchten Schichten arme Schlucker ohne Geld und Alternative vermittelten.
Noch verschärft durch den drohenden Krieg gegen Preußen, kämpft mit diesem Dilemma auch Auguste - als Student und Junggeselle, der sich im Paris des Jahres 1870 in sozialistischen Cafés herumtreibt und permanent mit seinem kaisertreuen Bauunternehmer von einem Vater überwirft, ist er eine sehr heutige Figur. So weit zum einen Handlungsstrang von "Reichtum verpflichtet". Der zweite setzt in der Jetztzeit ein, als Blanche de Rigny, Tochter einer einfachen Seefahrerfamilie aus der Bretagne, nichts ahnend auf einen merkwürdigen Zufall stößt: Eine reiche Pariser Familie, dauerpräsent in den Klatschspalten und Luxusadressen der Stadt, trägt den gleichen Nachnamen wie sie.
Ein Kapitel endet im historischen Bummelzug Paris-Brest, und das nächste beginnt im TGV. Im Verlauf der Geschichte verzichtet Cayre zunehmend auf solche erzählerischen Kniffe und zieht ihre Verbindungslinien zwischen Vergangenheit und Gegenwart mit einem umso dickeren Stift. Die Gesellschaft des beginnenden einundzwanzigsten Jahrhunderts nähere sich immer mehr jener des neunzehnten Jahrhunderts an, darin sind sich die Hauptfigur und ihre Autorin einig. Blanche formuliert diese These ebenso eindeutig wie Cayre selbst in ihrem abschließenden Dankeswort. Die Tochter einer österreichischen Mutter und eines tunesischen Vaters aus der Pariser Banlieue arbeitet immer wieder mit ähnlichen, autobiographisch inspirierten Versatzstücken: Als Strafverteidigerin verhandelt sie die gleiche Art Fälle wie der Winkeladvokat Christoph Leibowitz aus ihren ersten Romanen, und in "Die Alte" (F.A.Z. vom 6. Januar) schrieb sie zuletzt über die unauffällige Mittfünfzigerin Patience Portefeux, in der Kino-Adaption "Eine Frau mit berauschenden Talenten" verkörpert von Isabelle Huppert, die den Kapitalismus mit seinen eigenen Waffen schlägt.
Und noch eine Erfahrung teilt sie mit ihrer jüngsten Protagonistin: Nach einem schweren Autounfall wäre sie beinahe querschnittsgelähmt gewesen. Blanche kann wegen ihrer gebrochenen Wirbelsäule nur noch mit Krücken und Prothesen laufen, doch das hindert sie nicht daran, ihrem Weltrettungskomplex nachzugehen: hochgradig praktisch, der Beamtinnenjob in der Reprographie der höchsten französischen Gerichtsbarkeit, in dem sie unauffällig Kontakte und Informationen abzweigen und je nach gewünschtem Effekt der Presse, den sozialen Medien oder Drogenhändlern zuspielen kann.
Erst nach und nach enthüllt Cayre mit lakonischer Beiläufigkeit die ganze Bandbreite an Straftaten, die Blanche auf dem Kerbholz hat. Aber da ist man der Logik dieser wild entschlossenen Robin-Hood-Erbin längst verfallen, die täglich darüber flucht, dass in Paris Barrierefreiheit ein Fremdwort ist und es sich - auch aus persönlicher Rache - zunutze macht, dass kaum jemand eine behinderte Mitarbeiterin verdächtigt. Systemkritik also definitiv, aber statt durch Anklagen vermittelt Cayre das lieber durch eine ausgeprägte Lust am Burlesken, an Anomalien und versehrten Körpern, die unsere Vorstellungen von Schönheit und gutem Geschmack provozieren. Ihren kriegsversehrten und mehrfach amputierten Großvater, den Blanche auf einem alten Foto betrachtet, nennt sie "einen Klumpen Fleisch" und zitiert, trotzdem sie sonst eher aus einem Füllhorn französischer Klassiker des neunzehnten Jahrhunderts von Balzac bis Zola schöpft, in einer wunderbar grotesken Toilettenszene auch mal Louis de Funès.
Neben dem literarischen Kanon kennt Cayre aber auch die Apokryphen, und so geraten Blanches Recherchen ganz nebenbei zu einem kleinen Plädoyer, die Memoiren der Pariser Krankenschwester, Kommunardin und Anarchistin Victorine Brocher, "Souvenirs d'une morte vivante", wiederzuentdecken. Immer wieder thematisiert die Autorin den Umgang mit zeitgenössischen Quellen, deren zumeist männliche, hochgebildete Weltsichten unseren Blick auf die Vergangenheit formen. Unterdessen tragen ihre eigenen Werke dazu bei, im Filz der Gegenwart besser durchzusteigen. KATRIN DOERKSEN
Hannelore Cayre: "Reichtum verpflichtet". Roman.
Aus dem Französischen von Iris Konopik.
Ariadne im Argument Verlag, Hamburg 2021.
254 S., geb., 20,- Euro.
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