1. September 1939. Julius Margolin, Bürger mit polnischem und britischem Pass, der seit kurzem mit Frau und kleinem Sohn in Palästina lebt, hält sich in Lodz auf, als die Wehrmacht sein Land überfällt. Im Auto flieht er nach Osten, vorbei an den Flüchtlingstrecks, die von den Deutschen bombardiert werden. Doch der Schwarzmeerhafen Constanza, wo er sich nach Haifa einschiffen wollte, bleibt unerreichbar: Als die Rote Armee am 17. September in Ostpolen einmarschiert, wird die rumänische Grenze abgeriegelt. Auf seiner Odyssee durch das von Hitler und Stalin eingekeilte östliche Europa wird er Zeuge, wie Juden auf den Marktplätzen die Sowjets als Befreier bejubeln, wie ihre Begeisterung im Laufe des Winters in Entsetzen umschlägt, als die Behörden hebräische Bücher verbieten und schließlich die jüdische Bevölkerung aus der Stadt vertreiben. 1941 wird er verhaftet und in ein Straflager am Weißmeerkanal deportiert. Halbtot, zufällig gerettet, schreibt er 1947 in Israel nieder, was ihm geschah. Doch niemand wollte etwas hören von Lagern im Land der »Befreier vom Faschismus«. Erst heute erscheint sein Zeugnis ungekürzt auf Deutsch. Ungewöhnlich ist nicht nur der Horizont des Berichts, der Holocaust und sowjetische Vernichtungspolitik umschließt. Margolin, dessen Buch in Ton und Haltung an Primo Levi erinnert, ergreift den Leser, weil er als Leidender wie als Zeuge auf seine Rechte pocht und sich wie ein Mensch aus einer anderen, besseren Welt verhält.
Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, D, I ausgeliefert werden.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Zusammen mit Kertész, Levi und Solschenizyn gehört Julius Margolin genannt, wenn es nach Andreas Breitenstein geht. Das Buch, für ihn eines der ganz großen Erinnerungsbücher des 20. Jahrhunderts, hat er atemlos gelesen. Den sowjetischen Totalitarismus hat er so, aus der Innenperspektive, noch nicht kennengelernt. Der Autor enthüllt dem Rezensenten nicht nur den ganzen Aberwitz des Schicksals eines polnischen Juden im Gulag, sondern auch dessen unsägliche Qualen, die Mechanismen des Terrors und die detaillierten Umstände des Lagerlebens. Dass der Autor sich in fünf Jahren Lagerhaft und Flucht eine Reflexions- und Ausdrucksmöglichkeit von solcher Wucht bewahren konnte, wie hier nachzulesen, grenzt für Breitenstein an ein Wunder. Ebenso der Umstand, dass die vollständige Ausgabe von Margolins Bericht nun erstmals auf Deutsch vorliegt.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.02.2014Bericht aus dem Lager
Julius Margolins Buch über das Leben im GULag
Die Geschichte, die Julius Margolin zu erzählen hat, ist unglaublich, schmerzhaft und bewegend. So sehr, dass man sich wundert, wie dieser leidgeprüfte Mann seinen feinen Humor bewahren konnte. "Ich bin nicht mit Intourist nach Russland gefahren und auch nicht in einer dunklen Nacht über die Grenze gegangen", schreibt er im Vorwort seiner "Reise in das Land der Lager": "Ich war Tourist einer dritten, ganz besonderen Art." In diesem Buch beschreibt Margolin die sechs Jahre seiner Haft in einem sowjetischen Lager am Weißmeer-Ostsee-Kanal. Lange war dieses Buch vergessen, und als es 1965 erstmals in Deutschland erschien, waren einige Kapitel weggelassen worden. Nun liegt es vollständig und in einer neuen Übersetzung vor.
Margolin wurde 1900 in Pinsk geboren, das zwischen 1921 und 1939 zu Polen, dann zur Sowjetunion gehörte. Pinsk war typisch für eine lebendige multiethnische und -konfessionelle Kultur. Die Stadt war bis zum Zweiten Weltkrieg jüdisch geprägt, und auch Margolin stammt aus einer gebildeten jüdischen Familie. 1929 promovierte er zu einem philosophischen Thema in Berlin, lebte dann mit seiner Frau im polnischen Lodz. Als überzeugten Zionisten zog es ihn 1936 nach Palästina. Als er 1939 in seine ehemalige Heimat reiste, um Verwandte zu besuchen, wurde ihm das zum Verhängnis. Am 1. September hatte Deutschland Polen überfallen. Aufgrund des Hitler-Stalin-Paktes besetzten die sowjetischen Streitkräfte den Osten Polens, so auch die Stadt Pinsk. Als überzeugter "Westler" und polnischer Staatsbürger war Margolin den Sowjetbehörden ein Dorn im Auge. Er wurde verhaftet und zusammen mit Tausenden Gefangenen in den Norden Russlands verfrachtet, zu den Ufern des Onegasees.
Beschreibungen des Lagerlebens nehmen den Großteil des Buches ein. Margolin liefert eine Studie des GULags, beschreibt den Alltag, die Arbeitsabläufe, die Machtverhältnisse unter den Häftlingen und Behörden. Er führt vor Augen, wie das GULag-System die Identität der Häftlinge zerstörte und woran Gefangene sich klammerten, um ein Stück ihrer Individualität zu erhalten. Nach Kriegsende wird Margolin schließlich entlassen. 1946 kann er nach Tel Aviv zurückkehren, zu seiner Familie, die die ganze Zeit im Unklaren über sein Schicksal gewesen war. 1949 erscheint sein Bericht auf Französisch, 1952 in den Vereinigten Staaten auf Russisch, sechzehn Jahre bevor Alexander Solschenizyn mit seinem Roman "Der erste Kreis der Hölle" der Weltöffentlichkeit das GULag-System vor Augen führte.
Margolins Buch ist ein herausragendes Zeitdokument, ein Zeugnis großer menschlicher Stärke, nie verbittert, immer den Weg zur Hoffnung suchend. Es ist ein großes Glück, dass es nun vollständig zu lesen ist.
INGO PETZ
Julius Margolin: "Reise in das Land der Lager".
Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 638 S., geb., 39,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Julius Margolins Buch über das Leben im GULag
Die Geschichte, die Julius Margolin zu erzählen hat, ist unglaublich, schmerzhaft und bewegend. So sehr, dass man sich wundert, wie dieser leidgeprüfte Mann seinen feinen Humor bewahren konnte. "Ich bin nicht mit Intourist nach Russland gefahren und auch nicht in einer dunklen Nacht über die Grenze gegangen", schreibt er im Vorwort seiner "Reise in das Land der Lager": "Ich war Tourist einer dritten, ganz besonderen Art." In diesem Buch beschreibt Margolin die sechs Jahre seiner Haft in einem sowjetischen Lager am Weißmeer-Ostsee-Kanal. Lange war dieses Buch vergessen, und als es 1965 erstmals in Deutschland erschien, waren einige Kapitel weggelassen worden. Nun liegt es vollständig und in einer neuen Übersetzung vor.
Margolin wurde 1900 in Pinsk geboren, das zwischen 1921 und 1939 zu Polen, dann zur Sowjetunion gehörte. Pinsk war typisch für eine lebendige multiethnische und -konfessionelle Kultur. Die Stadt war bis zum Zweiten Weltkrieg jüdisch geprägt, und auch Margolin stammt aus einer gebildeten jüdischen Familie. 1929 promovierte er zu einem philosophischen Thema in Berlin, lebte dann mit seiner Frau im polnischen Lodz. Als überzeugten Zionisten zog es ihn 1936 nach Palästina. Als er 1939 in seine ehemalige Heimat reiste, um Verwandte zu besuchen, wurde ihm das zum Verhängnis. Am 1. September hatte Deutschland Polen überfallen. Aufgrund des Hitler-Stalin-Paktes besetzten die sowjetischen Streitkräfte den Osten Polens, so auch die Stadt Pinsk. Als überzeugter "Westler" und polnischer Staatsbürger war Margolin den Sowjetbehörden ein Dorn im Auge. Er wurde verhaftet und zusammen mit Tausenden Gefangenen in den Norden Russlands verfrachtet, zu den Ufern des Onegasees.
Beschreibungen des Lagerlebens nehmen den Großteil des Buches ein. Margolin liefert eine Studie des GULags, beschreibt den Alltag, die Arbeitsabläufe, die Machtverhältnisse unter den Häftlingen und Behörden. Er führt vor Augen, wie das GULag-System die Identität der Häftlinge zerstörte und woran Gefangene sich klammerten, um ein Stück ihrer Individualität zu erhalten. Nach Kriegsende wird Margolin schließlich entlassen. 1946 kann er nach Tel Aviv zurückkehren, zu seiner Familie, die die ganze Zeit im Unklaren über sein Schicksal gewesen war. 1949 erscheint sein Bericht auf Französisch, 1952 in den Vereinigten Staaten auf Russisch, sechzehn Jahre bevor Alexander Solschenizyn mit seinem Roman "Der erste Kreis der Hölle" der Weltöffentlichkeit das GULag-System vor Augen führte.
Margolins Buch ist ein herausragendes Zeitdokument, ein Zeugnis großer menschlicher Stärke, nie verbittert, immer den Weg zur Hoffnung suchend. Es ist ein großes Glück, dass es nun vollständig zu lesen ist.
INGO PETZ
Julius Margolin: "Reise in das Land der Lager".
Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 638 S., geb., 39,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Margolins Buch ist ein herausragendes Zeitdokument, ... immer den Weg zur Hoffnung suchend. Es ist ein großes Glück, dass es nun vollständig zu lesen ist.« Ingo Petz Frankfurter Allgemeine Zeitung 20140221