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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Familienaufstellung I: Matthias Nawrat schildert in "Reise nach Maine" ein kleines Unglück, das einen großen Konflikt offenbart.
Von Jan Wiele
Es ist ein Roman der sehr beiläufigen Sätze. Zum Beispiel beim Gespräch mit einem Taxifahrer, das etwas an eine Szene aus Jim Jarmuschs Film "Night on Earth" erinnert: "New York ist riesig, sagte meine Mutter. Absolut, sagte er. Er fragte, woher wir kämen. Aus einer Stadt in Franken, Bamberg, sagte meine Mutter. Interessant, sagte er. Das kenne er nicht. Es ist in Bayern, sagte meine Mutter."
Das scheinbar belanglose Gespräch offenbart doch subtil schon etwas von dem, worum sich dieser Roman über die auf den ersten Blick fast erschreckend schlicht beschriebene "Reise nach Maine" dreht, die der Buchtitel verspricht - nämlich um einen tiefen Konflikt zwischen zwei Generationen und zwischen zwei Menschen: Mutter und Sohn. Und so, wie der Erzähler nur annähernd, aber an abweichenden Lebensdaten erkennbar eben doch nicht ganz mit dem Autor übereinzustimmen scheint, ist auch der Roman weniger beiläufig, als er zunächst wirken mag.
Nicht nur ist diese Mutter eine Letztes-Wort-Fetischistin, sondern sie bringt ihren Sohn, obwohl dieser sich auf die Reise gefreut hat, bald durch ihre übergriffige Art in ein Dilemma. Er möchte ihr eigentlich eine Freude machen und kann sie zugleich doch manchmal nicht ertragen: "Etwas an dieser schrecklichen Rationalität und auch der Art und Weise, wie diese Rationalität ihr Leben zu durchdringen schien, machte mich plötzlich wütend. Wieder einmal hatte sie es geschafft, sich als Leidtragende hinzustellen und doch ihren Willen zu bekommen."
Dann aber kippt die Stimmung, als die Mutter im Hotel stürzt und sich die Nase bricht. Plötzlich ist sie wirklich die Leidtragende, und der Sohn hat Mitleid. Nachdem der Schreck überstanden ist und sie aus der Ambulanz kommen, scheint ihm das Gesicht der Mutter in der Abendsonne am East River zu leuchten wie das einer jungen Frau. Und mehr noch, der Sohn hat infolge ihres Sturzes nun Angstträume um seine Mutter, als wäre sie das Kind.
Trotz dieser Vertauschung der Familienrollen ist der Konflikt um die "schreckliche Rationalität" natürlich nicht weg, als die Reise dann aus New York hinaus Richtung Maine weitergeht. Die Mutter putzt und saugt etwa bei einem Tankstopp den Leihwagen, den der Sohn für sauber hielt. Man müsse das Auto "ja nicht zumüllen", sagt sie, während er keine Anzeichen dafür erkennt. Solche kleinen Zänkereien scheinen indes nur stellvertretend zu stehen für den größeren Zank, den alten zwischen Eltern und Kindern, um die sichere Arbeitsstelle. Sie bezeichnet seine Schriftstellerei als Hobby, er als Beruf.
Aber als etwas Unerwartetes passiert und die beiden von einem verwitweten, redseligen Mann aufgehalten werden, während sie eine Bleibe für die Nacht suchen, merkt man, dass eigentlich auch der Sohn die Rationalität seiner Mutter verinnerlicht hat, indem er ständig zum Aufbruch drängt und kein Stück von der Gelassenheit des Alten zu haben scheint. Aufschlussreich, wie der Sohn den Abschied von diesem Mann beschreibt: "Er sah aus, als schwebte er mit seiner Veranda im Nichts. Und wir fuhren los und schauten auf diese beleuchtete Insel zurück, bis sie hinter den Bäumen in der nächsten Kurve verschwand."
So ist die Reise im Grunde für beide eine Lockerungsübung. Und wieder folgt ein Rollentausch: War eben noch die Mutter die Überkorrekte, ist es nun der Sohn, der davor warnt, im amerikanischen Hinterland auf Privatbesitz einfach spazieren zu gehen, wie man es im deutschen öffentlichen Raum tut, und erst recht davor, dass die Mutter, obwohl nicht als Fahrerin des Leihwagens eingetragen, auch mal lenkt - einfach weil sie gerade Lust dazu hat. Die Beschreibungen und Dialoge solcher Szenen geben dem Buch einen Hauch von Komik, wenn der Sohn anerkennt: "Sie schaltete genau im richtigen Moment."
Aber gerade, als es witzig wird, wird es doch schnell wieder ernst. Die Mutter stellt plötzlich unumwunden klar: " Du interessierst dich nicht für mich als Person. Du machst es nur aus Pflichtgefühl."
Das stürzt den Sohn zuletzt in sehr grundsätzliche Fragen über seine Familie, über die Ehe seiner aus "Osteuropa" stammenden Eltern, die in Deutschland auseinanderging. Die Realität der Reise, die zu diesem Zeitpunkt an den Ort Camden in Maine geführt hat, geht dem Erzähler dabei über in die Welt seiner Erinnerung, ist eigentlich nur Folie für seine Heimatstadt und die Kindheit dort. Und eine Begegnung mit Künstlern in deren eigentümlichem Skulpturenpark aus riesigen Holz-Glas-Konstruktionen ("Es sind Leute, die ich früher kannte") gerät zum Spiegelbild der Familien- und Beziehungsaufstellung, die diese Geschichte für ihren Erzähler wohl letztlich darstellt.
Die Natur von Maine hilft schließlich dabei, eine Entfremdungserfahrung klar zu formulieren, wobei das Traurige daran kaum hervorgehoben wird, die Entfremdung wird vielmehr protokollarisch festgehalten. Matthias Nawrat erzählt, wie stets, sehr präzise und hält manchmal einfach nur fest, was an Sinneseindrücken festzuhalten ist - ohne jegliche Überhöhung. Das kann seinerseits befremdlich wirken, soll es ja vielleicht auch. Und wenn die Reise nach Maine dann scheinbar unspektakulär zu Ende geht, mit einer Rückkehr nach New York über Highways und Zuggleise, unter Stromleitungen und durch Industrieviertel, wähnt man sich in die Stimmung eines alten Liedes versetzt, das den einsamen Wanderer par excellence beschreibt: John Hartfords "Gentle on My Mind". Aber ganz beiläufig wird dann noch erwähnt, dass Mutter und Sohn die letzten Stunden der Reise im Bryant Park verbringen. Und der war am Anfang des Buches als beider Sehnsuchtsort beschrieben worden.
Matthias Nawrat: "Reise nach Maine". Roman.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2021. 218 S., geb., 22,- Euro.
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