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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Helon Habilas "Reisen" erzählt von Flüchtlingen
Die Falten im Gesicht des Mannes würden sie entzücken, heißt es über die amerikanische Malerin Gina, die in Deutschland Flüchtlinge porträtiert - "jede einzelne ausdrucksstarkes Zeugnis dessen, was er zurückgelassen hatte, der Grenzen und Flüsse und Wüsten, die er durchquert hatte, um nach Berlin zu kommen". Die Geschichten hinter den Falten, hinter eingerissenen Nägeln rauher Hände sind es, die der 1967 geborene nigerianisch-amerikanische Autor Helon Habila in seinem Roman "Reisen" sucht.
Der Ich-Erzähler des ersten von insgesamt sechs jeweils als "Buch" überschriebenen Kapiteln hat seine Frau Gina zu ihrem Stipendienaufenthalt begleiten wollen, um die nach einer Fehlgeburt brüchige Beziehung zu kitten. Aber was als Ausbruch aus einem "auseinanderbrechenden Leben" gedacht war, misslingt: Nach Ablauf des Stipendiums entscheidet der Mann, nicht mit seiner Frau in die Vereinigten Staaten zurückzugehen. Es ist nicht das erste Mal, dass er mit der Vergangenheit bricht. Schon der Kontakt zu seiner nigerianischen Familie ist abgerissen, obgleich der junge Mann ursprünglich nach Vollendung seiner Dissertation wieder in seine Heimat hatte kommen wollen.
Aber ist bei Helon Habila Rückkehr überhaupt jemandem gestattet? Während der namenlose Erzähler ein privilegierter Reisender ist, haben die übrigen Figuren des Romans keine Wahl. Mark etwa, den der Erzähler als ebenso prekäre wie rebellische Gestalt in Berlin kennenlernt. Man trinkt gemeinsam, geht auf Mai-Demonstrationen, Mark immer in erster Reihe. Bis auffliegt, dass er keine Aufenthaltsgenehmigung besitzt, so dass er in einem Flüchtlingsheim auf Abschiebung warten muss. Und noch etwas erfährt der Erzähler im Zuge dessen zu seiner Überraschung: Mark hieß einmal Mary Chinomba und war eine Pfarrerstochter, die aus Malawi fortging, um befreit von den Normen der Familie als Mann leben zu können.
Weniger wütend gegen die Umstände gebärdet sich Manu, jener Mann, dessen Falten Gina entzückten, ehemals Arzt, jetzt Türsteher in einem Berliner Club, der allsonntäglich mit seiner Tochter zum Checkpoint Charlie fährt, in der Hoffnung, dort seine Frau und den kleinen Sohn zu treffen. Die Familie wurde während der Flucht aus Libyen auseinandergerissen, als das überfüllte Boot sank. Den ehemaligen Grenzübergang hatte man als Treffpunkt für einen solchen Fall verabredet. Dass die Schiffbrüchige, die in einem anderen Kapitel mit ihrem Sohn an den Mittelmeerstrand gespült wird und sich weder an ihren Namen noch an ihre Vergangenheit erinnern kann, Manus Frau ist, bedarf keiner großen Deutungskunst.
Dass "Reisen" nicht zu einer vorhersehbaren Sammlung von Flüchtlingsschicksalen geraten ist, sondern zu einem Buch, dem bei aller Realitätssättigung etwas Unergründliches bleibt, ein leiser mythischer Widerhall, ist den permanenten Verwandlungen zu verdanken, die Habila seinem Roman unterwirft. Rückt im zweiten "Buch" Manu in den Mittelpunkt, treffen wir im dritten wiederum den Erzähler, nun aber in der personalen Form, so dass es einen kurzen Moment der Orientierung braucht: Handelt es sich bei diesem "er", den die Couchsurferin Portia als attraktiven Nachbarn kennenlernt, um dieselbe Figur, die im ersten Kapitel als "ich" spricht? Schließlich gar tritt der Erzähler eine Reise entgegen der Fluchtroute all jener an, die in Europa die Sicherheit vor Verfolgung und Gewalt suchen. Eine - versehentlich? - vertauschte Tasche im Zug von Basel nach Berlin und damit plötzlich fehlende Ausweispapiere sind der Ausgangspunkt für eine Odyssee, die ihn bis in ein Auffanglager auf Lampedusa führt und die genauso einer traumgleichen Logik zu folgen scheint wie bürokratischen Zwängen. Gerade in dieser Uneindeutigkeit zeigt sich die Allmacht einer Kontingenz, die bestimmt, wer zum Flüchtenden wird, wer überlebt und wen es wohin verschlägt.
Das "Reisen", von dem der Titel spricht - im Original lautet der Titel "Travellers" -, meint also weniger zurückgelegte Kilometer als ein literarisches und ein Daseinsprinzip: das Flüchtige von Lebensentwürfen, das Transitorische von Identitäten einerseits. Andererseits das Vermögen, erzählend verschiedene Biographien durchzuspielen. Vielleicht mag darin diese Art der Wiedergeburt bestehen, die der Erzähler mit dem Zurückkehren verbindet.
WIEBKE POROMBKA
Helon Habila: "Reisen". Roman.
Aus dem Englischen von Susann Urban. Wunderhorn Verlag, Heidelberg 2020. 320 S., geb., 25,- [Euro].
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