Das dunkle Mittelalter war gar nicht so rückständig und finster, wie es auch heute immer noch dargestellt wird. Die mittelalterliche Welt war über Kontinente hinweg vernetzt, sowohl über den Handel als auch den monastischen Austausch und die Fernrouten zeigten zu gewissen Zeiten fast schon Züge von
Massentourismus. Rom und Jerusalem wurden im 15. Jahrhundert von Pilgern regelrecht geflutet, und es…mehrDas dunkle Mittelalter war gar nicht so rückständig und finster, wie es auch heute immer noch dargestellt wird. Die mittelalterliche Welt war über Kontinente hinweg vernetzt, sowohl über den Handel als auch den monastischen Austausch und die Fernrouten zeigten zu gewissen Zeiten fast schon Züge von Massentourismus. Rom und Jerusalem wurden im 15. Jahrhundert von Pilgern regelrecht geflutet, und es entstand parallel eine florierende Reiseliteratur, die an neuzeitliche Lonely Planet Ausgaben erinnert. Anthony Bale hat in seinem Buch Quellen vom 11. bis frühen 16. Jahrhundert für ein Laienpublikum aufgearbeitet und dabei ein überaus detailreiches und schillerndes Bild der Reisekultur gezeichnet. Gefährlich war das Reisen in jedem Fall, alleine schon durch die gesundheitlichen Risiken, aber auch Wegelagerer, Naturkatastrophen und das Klima machten den Reisenden zu schaffen. Auf der anderen Seite gab es schon im 13. Jahrhundert Strecken, die relativ sicher und für die damalige Zeit komfortabel zu bereisen waren (Marco Polo war z. B. NICHT der erste europäische Kaufmann im tatarischen China!). Herrscher aller Zeiten und Religionen haben immer wieder erkannt, dass Handel Wohlstand bringt und Handel nur blüht, wenn die Kaufleute sicher an ihr Ziel kommen.
Bale fokussiert zunächst auf den Pilgertourismus in Europa (die im Klappentext unnötig in Initialstellung gebrachten „Pilgerinnen“ sind de facto die beiden einzigen (spät)mittelalterlichen Frauen, die schriftliche Zeugnisse zu ihren Reisen hinterlassen haben, verglichen mit unzähligen Männern). Das ist ein guter Einstieg, denn er beleuchtet eine der Haupttriebfedern für das frühe Reisen: Der Glaube. Im erweiterten Sinn gehören dazu auch die Kreuzzüge, die Bale ebenfalls einbezieht, denn auch hier wurde eine gefahrvolle Reise gegen das Seelenheil „eingetauscht“. Kulturkonflikte bleiben dabei nicht aus, wobei mir aufgefallen ist, dass die angebliche Toleranz des mittelalterlichen Islam, die heute gerne zitiert wird, ein Mythos ist. Gerade der Islam zeigt in dieser Zeit einen extremen Hang zu Gewalttätigkeit und Unterdrückung, angefangen mit der Zerstörung der Jerusalemer Grabeskirche (VOR den Kreuzzügen, wohlgemerkt!), der Umwandlung christlicher Kirchen in Moscheen, der Zerstörung von Pilgerstätten, bis hin zu Zwangskonvertierungen und natürlich zu Schutzgeldern speziell für Ungläubige. Die Liste ist erschreckend lang und zieht sich über den gesamten Untersuchungszeitraum, ohne dass Anthony Bale das dahinter liegende Problem direkt anspricht. Kritik am europäischen Kolonialismus lässt er dagegen nie aus. Selbst eine mythische Heilquelle, die angeblich dunkle Haut weiß bleichen sollte, wird als verkappter kolonialer Rassismus diskutiert. Dieses Messen mit zweierlei Maß ist in akademischen Kreisen leider derzeit Mainstream, auch wenn es wissenschaftlich bewusst in die Irre führt.
Trotz der etwas bedenklichen ideologischen Schieflage sind Bales Darstellungen der mittelalterlichen Reiserealität überaus spannend und erstaunlich detailreich, wenn man bedenkt, wie alt die Quellen sind. Man kann als Leser fast schon etappenweise den Spuren bekannter und vor allem vieler unbekannter Reisender folgen, wobei Bale die geografischen Kreise immer weiter zieht: Von Europa zunächst bis zum Nahen Osten, dann weiter über Indien bis nach China. Afrika ist nur im Norden erschlossen, Japan noch gar nicht. Aber ansonsten ist die damalige Welt überraschenderweise von einem dichten Routennetz durchzogen und Informationen über die Reisepraxis wurden in Pilger- und Händlerkreisen schon früh als Ware gehandelt.
Ich habe das Buch mit großem Interesse gelesen und bis auf den offensichtlichen blinden Fleck bei gewissen ideologisch aufgeladenen Themen halte ich es für ein mitreißend und kompetent geschriebenes Sachbuch, das ein helles Licht auf ein gar nicht so dunkles Mittelalter wirft.
(Das Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)