Die Monographie untersucht anhand der deutschen Franziskaner den Anteil der Bettelmönche am sozialen Wandel des späten Mittelalters.
Die Bettelmönche strebten danach, die in einem starken Wandel befindliche Gesellschaft des späteren Mittelalters zu reglementieren. Dies geschah durch die Kombination scheinbar widersprüchlicher Entwicklungen: der Verchristlichung individueller Freiheiten bei gleichzeitiger Etablierung neuartiger Kontrollmechanismen. So verkörpert das exemplarisch dargestellte Wirken der frühen deutschen Franziskaner die Dialektik gesellschaftlicher Diversifizierungsprozesse, welches Europa nicht nur im Mittelalter prägte.
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Als Disziplin noch geholfen hat: Thomas Ertl legt einen hervorragend informierten Bericht über das frühe deutsche Franziskanertum vor
Kaum einer Gestalt der katholischen Kirche wird konfessionenübergreifend so viel Verehrung entgegengebracht wie dem Ordensgründer Franz von Assisi (um 1181 bis 1226). Das liegt daran, dass das von ihm verbreitete Bild - das eines lauteren, demütigen, der gesamten Schöpfung gegenüber liebevollen, alle kirchlichen Strukturen hinter sich lassenden Geistbeseelten - früh von Biographen des eigenen Ordens geprägt wurde. Der Orden profitierte und profitiert vom selbstgeschaffenen Bild seines Gründers.
Wer sich jedoch mit dem kirchlichen und historiographischen Schrifttum der franziskanischen Epoche befasst, wird sich der erbitterten und gnadenlosen Polemik bewusst, die in der Kirche, in den Universitäten und den Kabinetten der Mächtigen um die aufstrebenden Mendikantenorden entbrannte. Zu ihnen gehörten, neben den Franziskanern, der ebenso erfolgreiche Predigerorden des Dominikus und, nach Edikten verschiedener Päpste, die Karmeliten und Augustiner-Eremiten.
Sie alle entsprachen den Bedürfnissen der Zeit. Die gesellschaftliche Entwicklung des späteren Mittelalters konzentrierte sich mehr und mehr auf die Städte, die zu bedeutenden Handels- und Produktionszentren anschwollen. Historiker sprechen von einer Phase des "ersten Kapitalismus". Franziskus' Vater gehörte zu dieser Schicht des frühen Bürgertums, die auch dem Klerus gegenüber steigende Ansprüche in Bezug auf Doktrin und Lebensführung anmeldete. Verschiedenste Sekten und häretische Strömungen, die im Vergleich zum Klerus eine kohärentere Lebensweise aufwiesen, fanden großen Anklang unter der Bevölkerung.
In eine solche Gesellschaft brachen nun die Mendikanten auf, zu Fuß, nach dem Vorbild der Apostel ohne Gold und Geld, um, "selbst erleuchtet, eine erneuerte Welt zu erleuchten". Ein Jahr nachdem sich die ersten Gefährten angeschlossen hatten, wurde die neue Lebensform von päpstlicher Seite gebilligt. Franziskus selbst wurde bald von der Entwicklung überholt und zog sich nach einem Jahrzehnt von der Ordensleitung zurück.
Schon die Franziskaner und Dominikaner der zweiten Generation hatten die Lehrstühle der wichtigsten Universitäten inne, fungierten als Berater der Mächtigen. Mit ihren Predigten und seelsorgerischen Tätigkeiten übten sie enormen Einfluss auf das Volk aus, das dem etablierten Klerus davongelaufen war. Der ließ nicht lange auf Kritik warten und machte sich die Schriften Hildegard von Bingens zu eigen, die eine Generation zuvor die Katharer als Zuchtrute eines verkommenen Klerus bezeichnet hatte.
Die Rolle der vom Teufel gelenkten Verführer und Verderber des Volkes nahmen nun die neuen Bettelorden ein: "Ihr seid meine (das heißt des Teufels) Untertanen, ihr tretet mit größerer Zucht vor das Volk als jene (der Klerus). Und weil ihr so seid, werdet ihr euch über jene erheben, ihnen alle Reichtümer und Ehren entreißen und die völlig Entblößten endlich ersticken." Vorgetäuschte Frömmigkeit, Korruption durch Nähe zu den Herrschern, Geldgier und Geltungsbedürfnis, Verführung des einfachen Volkes, insbesondere der Frauen, wurden mit der Zeit zu antifraternalistischen Topoi, deren sich auch spätere Autoren wie Boccaccio und Chaucer bedienten, nicht zuletzt der ehemalige Augustiner-Eremit Martin Luther.
Die Franziskaner reagierten ihrerseits mit einer theologisch ebenso aufgeladenen Sprache, nachdem schon Gregor IX. bei der Heiligsprechung des Dominikus 1234 die jungen Orden mit der Vision des Propheten Sacharja (Sach 6, 1-8) in Zusammenhang brachte: Der Prophet hatte vier Wagen gesehen, die von kräftigen Pferden gezogen wurden, um den Geist Gottes in alle Länder zu bringen. Die roten Pferde des ersten Wagens seien die Apostel und Märtyrer der Frühkirche, die schwarzen des zweiten Wagens würden das benediktinische Mönchtum darstellen, die weißen des dritten Wagens seien die weißen Mönche der benediktinischen Reform, und die gescheckten Pferde des vierten seien die Gemeinschaften der Dominikaner und Franziskaner. Das erste franziskanische Auftreten in Deutschland erfolgte in Köln. Der Klerus war längst durch den Zisterzienser Cäsarius von Heisterbach alarmiert: "Wir fürchteten, es wären jene, die den Klerus bedrängen und die Stadt gefährden und deren Kommen der Heilige Geist durch den Mund Hildegards prophezeit hat." Mehr noch als die gefürchtete Einmischung in die Wirkungsbereiche des Klerus schien die freiwillig gewählte Armut der eigentliche Skandal zu sein.
Die Etablierung einer neuen, am Evangelium ausgerichteten Weltordnung in einer Epoche tiefgreifender Änderungen wurde zur intellektuellen und spirituellen Aufgabe der Franziskaner: aus der wuchernden urbs eine civitas Dei zu machen, inmitten des sozioökonomischen Wandels und der Entdeckung der Individualität eine begleitende Theologie der Arbeit und der Kontemplation zu erarbeiten. Anhand der Predigten beispielsweise des Berthold von Regensburg oder der im "Schwabenspiegel" aufgezeichneten Rechtsnormen zeigt Ertl die Umsetzung jenes "franziskanischen Propositums" - die Theologisierung einer Epoche, von der dieses Buch ein beredtes und hervorragend informiertes Zeugnis gibt.
VINCENZO VELELLA
Thomas Ertl: "Religion und Disziplin". Selbstdeutung und Weltordnung im frühen deutschen Franziskanertum. Walter de Gruyter, Berlin und New York 2006. 496 S., geb., 118,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Bernd Schmies in: Wissenschaft und Weisheit - Franziskanische Studien zu Theologie, Philosophie und Geschichte Band 73.1/2010
"Die Berliner Habilitationsschrift stellt an kritischer Methode einen Höhepunkt nicht nur der aktuellen deutschen, sondern der internationalen Forschung dar."
C. L. in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 1.65/2009
"Der Mut zur weitausgreifenden These ist ein Charakteristikum von Ertls Studie, das besonders positiv hervorzuheben ist. [...] höchst anregend und gut zu lesen."
Markus Schürer in: www.sehepunkte.de 7/2007
"Thomas Ertl legt einen hervorragend informierten Bericht über das frühe deutsche Franzikanertum vor."
Frankfurter Allgemeine Zeitung 16.02.2007