Der Fluss des Lebens: Franz Hohler erzählt von seinen Wanderungen am Rhein.
Vom Rheinfall in Schaffhausen bis zur Quelle am Tomasee: Einem spontanen Impuls folgend wandert Franz Hohler den Rhein entlang und hält fest, was ihm begegnet: Campingplätze und Mückenschwärme, Autobahnbrücken und Vogelrufe, Historisches und Biographisches, Erinnertes wie allzu Gegenwärtiges, Tragisches wie Komisches – und in Liechtenstein eine Abwasserreinigungsanlage. Mal ist der Rhein mächtiger Strom, ungestüme Natur, die dramatisch in die Tiefe stürzt, mal gemächliches Rheinlein oder schrecklich verbaut und gezähmt, fast nicht zu finden. Aber immer ist er in Franz Hohlers gelassen-pointierter Prosa auch Sinnbild für das Leben und das wechselhafte Miteinander von Mensch und Natur.
Vom Rheinfall in Schaffhausen bis zur Quelle am Tomasee: Einem spontanen Impuls folgend wandert Franz Hohler den Rhein entlang und hält fest, was ihm begegnet: Campingplätze und Mückenschwärme, Autobahnbrücken und Vogelrufe, Historisches und Biographisches, Erinnertes wie allzu Gegenwärtiges, Tragisches wie Komisches – und in Liechtenstein eine Abwasserreinigungsanlage. Mal ist der Rhein mächtiger Strom, ungestüme Natur, die dramatisch in die Tiefe stürzt, mal gemächliches Rheinlein oder schrecklich verbaut und gezähmt, fast nicht zu finden. Aber immer ist er in Franz Hohlers gelassen-pointierter Prosa auch Sinnbild für das Leben und das wechselhafte Miteinander von Mensch und Natur.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Angelika Overath lässt sich ein auf Franz Hohlers Erwanderung der Rheinquelle. Hohlers Text besticht für sie vor allem durch die Overath an Handke erinnernde insistierende Versprachlichung des Gesehenen und Erlebten, nicht mehr und nicht weniger. Durch Kantone und über Sprachgrenzen geht es laut Overath in den 29 Etappen zwischen Juni 2020 und September 2022. Das "lebenswach" Alltagsdirekte dieser Notate und der Humor des Autors halten die Rezensentin bei der Stange, auch wenn es ein sehr langsames Buch ist, wie sie einräumt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»In den Aufzeichnungen beschreibt er, was keiner ausser ihm für bemerkenswert hielte: Es sind kleine Widerhaken, die sich in den Köpfen seiner Leser festsetzen.« Roman Bucheli / Neue Zürcher Zeitung
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.08.2023Der alte Mann und der Rhein
Halt auf Verlangen: Franz Hohler erwandert sich langsam in Etappen den Weg zur Rheinquelle - und findet dabei Schwemmgut der Zeit.
Ich übte mich nun darin", so Peter Handke im Vorwort seines Journals "Das Gewicht der Welt", "auf alles, was mir zustieß, mit Sprache zu reagieren." Kein Moment war ihm zu unbedeutend, keine Wahrnehmung zu klein. Er provozierte mit dem Absichtslosen. Mitte der Siebzigerjahre war das ein Fanal. Aber fast zwanzig Jahre früher schon hat ein einundzwanzigjähriger Schweizer Referendar am Amtsgericht Interlaken ein Tagebuch geführt, von dem Handke wohl beeindruckt gewesen wäre, hätte er es gekannt. Hans Peter Matter leistete hier eine Art Epiphanisierung des Unbedeutenden durch das Sagen: "Kürzlich hatte ich, am Abend, nach einem stillen Tag, das Bedürfnis, in die Nacht hinauszugehen, um zu formulieren." Er "vergnügte" sich damit, "die Dinge zu nennen: 'Zwei Mädchen lehnen an einem Zaun und kichern.' - 'In der Mitte der Kreuzung steht ein metallener Laternenpfahl mit drei bläulich leuchtenden Lampen.' [. . .] 'Eine Kuh, einsam in einem Pferch, grasend.'" Und reflektiert: "Es gab mir eine seltsame Befriedigung, daran zu denken, dass ich durch solche Worte meine Wahrnehmungen gewissermaßen über die Zeit hinaushob und wie auf einer silbernen Platte den Göttern darreichte - oder meinetwegen den Mitmenschen." Ein Sprechen, das sich aus der "Zweckgebundenheit des Alltags" löste, wurde ihm "übergreifend und zu einer metaphysischen Beschäftigung". Aus dem Juristen wurde Mani Matter, der wohl einflussreichste Liedermacher der Schweiz. Franz Hohler hat dem im Alter von 36 Jahren verunfallten Gefährten ein wunderbares Porträtbuch gewidmet. Das vorliegende, "Rheinwärts", ist kein Wanderführer und keine Reportage. Hohler setzt sich hier einem selbst gesteckten Ziel aus: dem Erwandern der Rheinquelle. Und benennt, was ihm dabei zustößt. Sein Wandern und sein Reagieren mit Sprache gehen ineinander über.
Zwischen dem 19. Juni 2020 und dem 26. September 2022 ist Hohler in 29 Etappen vom Rheinfall bei Schaffhausen unterwegs bis zum Tomasee (2344 m ü. M.) oder, wie das Gewässer in diesem rätoromanischen Sprachgebiet der Surselva auch heißt: "Lag da Tuma". Er durchquert Kantone und Sprachgrenzen. Kommt bei Konstanz nach Baden-Württemberg. Und über die Rheinbrücke bei Sevelen nach Liechtenstein. Auch wenn er die 13 Kilometer der Rheinschlucht zwischen Reichenau und Ilanz (der ersten Stadt am Rhein) durchwandert, bleibt der Blick nicht mythenverhaftet, sondern alltagsdirekt. Hohler notiert "Schlauchboote mit mindestens einem Dutzend Passagieren wie Wasserbusse aus Bangkok" und die Anweisungstafel im "Amphibienbiotop", die besagt, dass "Besatz und Entnahme von Köderfischen" verboten seien. So entsteht das Wort "Köderfischkriminalität". Und manchmal hat man ihn in Verdacht, dass er im Zug auf einen "Halt auf Verlangen"-Knopf drückt, nur weil der kleine Bahnhof so wundersam klingt: "Sumvitg-Cumpadials". Die Landschaft ist auch ein Text; Wegweiser und Informationstafeln "buhlen um Aufmerksamkeit", etwa bei einer Abwasserreinigungsanlage: "Nachklärbecken, Überschussschlamm oder Klärgasanfall [. . .] Am besten gefallen mir die Schneckenpumpen."
Franz Hohler ist ein lebenswacher, politischer und dabei demütiger und humorvoller Autor. Das vollkommen unspektakuläre Wandern des achtzigjährigen Mannes, zweckenthoben und deshalb frei, ist eingebunden in zwei Weltkatastrophen, die die Jahre seiner Rheinwanderung prägen: zunächst die Pandemie, später der Krieg in der Ukraine. Die Gesichtsmaske ist dabei und die leise Komplizenschaft mit den Ersten, die sich auch wieder hinauswagen. Und dann steht er in einer kleinen Kirche und singt "Dona nobis pacem", und von den Wänden hören die Heiligen zu, "die meisten davon sind Folteropfer". Weil Franz Hohler aufmerksam Schritt für Schritt im Kleinen vorankommt, nimmt er das Große mit auf. Sieht die alten Verbunkerungen, hört die Autobahnen, die oft lauter sind als der Rhein. Und er erinnert an die im Zweiten Weltkrieg in der Schweiz internierten polnischen Soldaten, die zum Bau der Straße, auf der er gerade geht, herangezogen wurden. Er bedankt sich bei ihnen. Und dann wieder sieht er eine Joggerin, "die ihren rechten Unterarm wie einen Scheibenwischer vor ihrem Gesicht" bewegt. Oder es stehen Pappeln am Wegrand "wie riesige Morcheln".
Hohler wandert in Tagesetappen, das heißt, er fährt morgens mit dem Zug los und jeden Abend wieder zurück an seinen Wohnsitz in Zürich-Oerlikon. Das gibt dem Tagebuch die doppelte Hin-und-her-Struktur von Wandern und Zugfahren, eine gleichsam gestickte Textur, in der die Fäden immer wieder eingestochen und angezogen werden. Blicke aus dem Fenster überblenden die Landschaft mit den schon zurückgelegten Wegen und öffnen sie neu. Wobei die Zugstrecken projektgemäß (manchmal ist auch ein Abschnitt mit dem Postauto dabei) immer länger werden. Da zwischen den Rhein-Ausflügen oft Wochen oder Monate liegen, wird der Fluss das Band im Fließen der Zeit. Wie Schwemmgut trägt er manches von dem mit, was der Autor mittlerweile erlebt hat. So packt er auf dem Rückweg von der Etappe Altstätten-Oberriet die Brötchen aus, die er sich am vorherigen Abend beim Apéro nach der Lesung in der Kantonsschule Zofingen eingesteckt hat, gibt den gerade frisch gepflückten wilden Thymian dazu und die Kleeköpfchen. Und erinnert sich, was er den Schülern geantwortet hat, als sie ihn nach seinem "Rezept für Glück" fragten: "Bei sich bleiben, den Kontakt mit den eigenen Wünschen nicht verlieren."
"Rheinaufwärts" ist ein langsames Buch. Seine Höchstgeschwindigkeit ist die Eisenbahn. Sein Thema immer wieder die Zeit, dieses wohl unheimlichste Phänomen in der menschlichen Auffassungsgabe. Die Signaturen des Endlichen durchziehen es. Die Toten der Kriege, des Terrors, der Naturkatastrophen, die Toten im Freundeskreis. Und doch ist da eine große Dankbarkeit. Für das Einfache, das ein Schritt bemisst, das eine Hand zu fassen vermag.
Franz Hohler geht nicht immer allein. Manchmal begleitet ihn seine Frau. Und auch wenn sie nicht mitkommt, ist sie dabei. Er pflückt wilden Spinat, den "Guten Heinrich", für den Apéro mit ihr, oder er bricht eine Wanderung früher ab, weil er versprochen hat, am Abend für sie zu kochen.
Am Ende erreicht er den Lag da Tuma. "Von weither erreicht mich das Wort 'Andacht'." ANGELIKA OVERATH
Franz Hohler:
"Rheinaufwärts".
Luchterhand
Literaturverlag,
München 2023. 125 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Halt auf Verlangen: Franz Hohler erwandert sich langsam in Etappen den Weg zur Rheinquelle - und findet dabei Schwemmgut der Zeit.
Ich übte mich nun darin", so Peter Handke im Vorwort seines Journals "Das Gewicht der Welt", "auf alles, was mir zustieß, mit Sprache zu reagieren." Kein Moment war ihm zu unbedeutend, keine Wahrnehmung zu klein. Er provozierte mit dem Absichtslosen. Mitte der Siebzigerjahre war das ein Fanal. Aber fast zwanzig Jahre früher schon hat ein einundzwanzigjähriger Schweizer Referendar am Amtsgericht Interlaken ein Tagebuch geführt, von dem Handke wohl beeindruckt gewesen wäre, hätte er es gekannt. Hans Peter Matter leistete hier eine Art Epiphanisierung des Unbedeutenden durch das Sagen: "Kürzlich hatte ich, am Abend, nach einem stillen Tag, das Bedürfnis, in die Nacht hinauszugehen, um zu formulieren." Er "vergnügte" sich damit, "die Dinge zu nennen: 'Zwei Mädchen lehnen an einem Zaun und kichern.' - 'In der Mitte der Kreuzung steht ein metallener Laternenpfahl mit drei bläulich leuchtenden Lampen.' [. . .] 'Eine Kuh, einsam in einem Pferch, grasend.'" Und reflektiert: "Es gab mir eine seltsame Befriedigung, daran zu denken, dass ich durch solche Worte meine Wahrnehmungen gewissermaßen über die Zeit hinaushob und wie auf einer silbernen Platte den Göttern darreichte - oder meinetwegen den Mitmenschen." Ein Sprechen, das sich aus der "Zweckgebundenheit des Alltags" löste, wurde ihm "übergreifend und zu einer metaphysischen Beschäftigung". Aus dem Juristen wurde Mani Matter, der wohl einflussreichste Liedermacher der Schweiz. Franz Hohler hat dem im Alter von 36 Jahren verunfallten Gefährten ein wunderbares Porträtbuch gewidmet. Das vorliegende, "Rheinwärts", ist kein Wanderführer und keine Reportage. Hohler setzt sich hier einem selbst gesteckten Ziel aus: dem Erwandern der Rheinquelle. Und benennt, was ihm dabei zustößt. Sein Wandern und sein Reagieren mit Sprache gehen ineinander über.
Zwischen dem 19. Juni 2020 und dem 26. September 2022 ist Hohler in 29 Etappen vom Rheinfall bei Schaffhausen unterwegs bis zum Tomasee (2344 m ü. M.) oder, wie das Gewässer in diesem rätoromanischen Sprachgebiet der Surselva auch heißt: "Lag da Tuma". Er durchquert Kantone und Sprachgrenzen. Kommt bei Konstanz nach Baden-Württemberg. Und über die Rheinbrücke bei Sevelen nach Liechtenstein. Auch wenn er die 13 Kilometer der Rheinschlucht zwischen Reichenau und Ilanz (der ersten Stadt am Rhein) durchwandert, bleibt der Blick nicht mythenverhaftet, sondern alltagsdirekt. Hohler notiert "Schlauchboote mit mindestens einem Dutzend Passagieren wie Wasserbusse aus Bangkok" und die Anweisungstafel im "Amphibienbiotop", die besagt, dass "Besatz und Entnahme von Köderfischen" verboten seien. So entsteht das Wort "Köderfischkriminalität". Und manchmal hat man ihn in Verdacht, dass er im Zug auf einen "Halt auf Verlangen"-Knopf drückt, nur weil der kleine Bahnhof so wundersam klingt: "Sumvitg-Cumpadials". Die Landschaft ist auch ein Text; Wegweiser und Informationstafeln "buhlen um Aufmerksamkeit", etwa bei einer Abwasserreinigungsanlage: "Nachklärbecken, Überschussschlamm oder Klärgasanfall [. . .] Am besten gefallen mir die Schneckenpumpen."
Franz Hohler ist ein lebenswacher, politischer und dabei demütiger und humorvoller Autor. Das vollkommen unspektakuläre Wandern des achtzigjährigen Mannes, zweckenthoben und deshalb frei, ist eingebunden in zwei Weltkatastrophen, die die Jahre seiner Rheinwanderung prägen: zunächst die Pandemie, später der Krieg in der Ukraine. Die Gesichtsmaske ist dabei und die leise Komplizenschaft mit den Ersten, die sich auch wieder hinauswagen. Und dann steht er in einer kleinen Kirche und singt "Dona nobis pacem", und von den Wänden hören die Heiligen zu, "die meisten davon sind Folteropfer". Weil Franz Hohler aufmerksam Schritt für Schritt im Kleinen vorankommt, nimmt er das Große mit auf. Sieht die alten Verbunkerungen, hört die Autobahnen, die oft lauter sind als der Rhein. Und er erinnert an die im Zweiten Weltkrieg in der Schweiz internierten polnischen Soldaten, die zum Bau der Straße, auf der er gerade geht, herangezogen wurden. Er bedankt sich bei ihnen. Und dann wieder sieht er eine Joggerin, "die ihren rechten Unterarm wie einen Scheibenwischer vor ihrem Gesicht" bewegt. Oder es stehen Pappeln am Wegrand "wie riesige Morcheln".
Hohler wandert in Tagesetappen, das heißt, er fährt morgens mit dem Zug los und jeden Abend wieder zurück an seinen Wohnsitz in Zürich-Oerlikon. Das gibt dem Tagebuch die doppelte Hin-und-her-Struktur von Wandern und Zugfahren, eine gleichsam gestickte Textur, in der die Fäden immer wieder eingestochen und angezogen werden. Blicke aus dem Fenster überblenden die Landschaft mit den schon zurückgelegten Wegen und öffnen sie neu. Wobei die Zugstrecken projektgemäß (manchmal ist auch ein Abschnitt mit dem Postauto dabei) immer länger werden. Da zwischen den Rhein-Ausflügen oft Wochen oder Monate liegen, wird der Fluss das Band im Fließen der Zeit. Wie Schwemmgut trägt er manches von dem mit, was der Autor mittlerweile erlebt hat. So packt er auf dem Rückweg von der Etappe Altstätten-Oberriet die Brötchen aus, die er sich am vorherigen Abend beim Apéro nach der Lesung in der Kantonsschule Zofingen eingesteckt hat, gibt den gerade frisch gepflückten wilden Thymian dazu und die Kleeköpfchen. Und erinnert sich, was er den Schülern geantwortet hat, als sie ihn nach seinem "Rezept für Glück" fragten: "Bei sich bleiben, den Kontakt mit den eigenen Wünschen nicht verlieren."
"Rheinaufwärts" ist ein langsames Buch. Seine Höchstgeschwindigkeit ist die Eisenbahn. Sein Thema immer wieder die Zeit, dieses wohl unheimlichste Phänomen in der menschlichen Auffassungsgabe. Die Signaturen des Endlichen durchziehen es. Die Toten der Kriege, des Terrors, der Naturkatastrophen, die Toten im Freundeskreis. Und doch ist da eine große Dankbarkeit. Für das Einfache, das ein Schritt bemisst, das eine Hand zu fassen vermag.
Franz Hohler geht nicht immer allein. Manchmal begleitet ihn seine Frau. Und auch wenn sie nicht mitkommt, ist sie dabei. Er pflückt wilden Spinat, den "Guten Heinrich", für den Apéro mit ihr, oder er bricht eine Wanderung früher ab, weil er versprochen hat, am Abend für sie zu kochen.
Am Ende erreicht er den Lag da Tuma. "Von weither erreicht mich das Wort 'Andacht'." ANGELIKA OVERATH
Franz Hohler:
"Rheinaufwärts".
Luchterhand
Literaturverlag,
München 2023. 125 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main