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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Von der Rede zur Tat: Jon Edward Lendon will zeigen, dass die
Schulliteratur der
Redekunst von prägender politischer Bedeutung im
Imperium Romanum war.
Dass die Römer im Vergleich zu den alten Griechen nüchterner, pragmatischer und bildungskritischer gewesen seien, ist ein Klischee, das sich seit zweitausend Jahren hartnäckig hält. Vor allem mit der Redekunst hätten sie, Cicero zum Trotz, vergleichsweise wenig anzufangen gewusst. Jon Edward Lendon, seines Zeichens Althistoriker an der University of Virginia, will diesen Verzerrungen entgegenwirken mit einem Buch, das im Original den Titel trägt "That Tyrant, Persuasion. How Rhetoric Shaped the Roman World". Der deutsche Titel, "Rhetorik Macht Rom", zeigt einmal mehr die Neigung hiesiger Verlage, mit Wortspielen Punkte zu machen.
Die Grundthese des Buches lautet, dass Deklamationen, Reden für den Schulgebrauch, die im Ausbildungsprozess zwischen Grammatik und Rhetorik ihren Platz hatten und gerne als praxisferne Studierstubenübungen abgetan werden, in Wahrheit einen subversiven "Kommentar zur gesellschaftlichen Ordnung" darstellten, und zwar mit sehr konkretem Einfluss auf bedeutende Ereignisse.
Im Zentrum steht die kühne Behauptung, dass die tumultuöse Ermordung Caesars an den Iden des März 44 v. Chr. einem solchen deklamatorischen Skript gefolgt sei. Solche Skripte waren fester Bestandteil der grammatisch-rhetorischen Ausbildung und kreisten um stehende Typen, zu denen auch der Tyrann und sein Mörder zählten. Sie waren versammelt unter dem Titel "controversiae" (forensisch) oder "suasoriae" (politisch); drei solcher Sammlungen sind aus nachklassischer Zeit auf uns gekommen: eine stammt vom älteren Seneca, die zweite ist anonym und unter Quintilians Namen überliefert, die dritte geht auf Calpurnius Flaccus zurück. Die "controversiae" wiesen konkrete Bezüge zu bestehenden Gesetzen auf. Im Falle des Tyrannenmordes besagt das Gesetz, dass der Mörder von der befreiten Stadt zum Dank eine Belohnung erhalten solle, und die Deklamationen bieten Fälle, in denen dieses Versprechen nicht eingehalten wurde.
Leider verabsäumt es der Verfasser, die rhetorische Brillanz Caesars selbst in seine durchaus reizvollen Überlegungen einzubeziehen. In seinem bahnbrechenden Beitrag zum "Schwarzen Humanismus" etwa hat Jürgen Paul Schwindt Caesars "Bellum Gallicum" als Meisterwerk rhetorischer Dispositionskunst gelesen. Hier hätte sich ein spannungsreicher Gegensatz ergeben können zwischen den todbringenden Deklamationsadepten und dem disponierenden Diktator.
Von der Politik wandert Lendons Blick zur Architektur, die freilich auch als Exponentin politischer Macht zu betrachten ist. Unter dem etwas befremdlichen Titel "die seltsamen Kinder der Rhetorik" nimmt er drei Arten von öffentlichen Gebäuden ins Visier: Stadtmauern, Säulenstraßen sowie die nach den über Brunnen und Quellen befindlichen Heiligtümern benannten Nymphaen, deren Abhängigkeit von der rhetorischen Bildung der Bauherren er untersucht.
Besondere Bedeutung kommt dabei dem oftmals anthropomorph ausgestalteten Städtelob als rhetorischer Übung zu, während thematisch ein "überlaufendes Interesse an Wasser" zu Buche schlägt, gestützt etwa auf Plutarchs Werk "Über Flüsse und Berge und die darin gefundenen Dinge", das fünfundzwanzig Flussbeschreibungen enthält. Das Bauen an sich sei dem "rhetorischen Kalkül bürgerlichen Verdienstes" unterworfen; es werden insgesamt besonders die kompetitiven Aspekte betont, unter anderem am Beispiel der kleinasiatischen Städte Perge und Side, heute beliebte Ausflugsziele für aus Antalya kommende Türkei-Touristen.
Die größten Hoffnungen erweckt das letzte Großkapitel mit dem interessanten Titel "Eidechsen und andere Abenteuer der Rhetorik und des römischen Rechts". Warum ausgerechnet Eidechsen? Nun, gestützt auf eine Auskunft des spätantiken Juristen Ulpian stand die Sterneidechse ("stellio") für jede Art des Betrugs. Das hat seine Ursprünge wiederum im Mythos von Askabalos, der die durstige Demeter verspottete, als sie auf der Suche nach ihrer entführten Tochter Persephone im Hause seiner Mutter allzu gierig trank und darob von ihr in ebenjene Eidechse verwandelt wurde: eine klassische Strafmetamorphose.
Bezeichnete der "stellionatus" zunächst konkret den Fall, dass jemand seine Gläubiger mit einem Pfand übers Ohr haute, das er eigentlich gar nicht besaß, so etablierte sich der klangvolle Name alsbald für jede Art hinterlistigen Verbrechens, vor allem für solche, für die es bis dato keine bewährte Benennung gegeben hatte. Für Lendon wird der "stellionatus" damit zum "namenlosen Verbrechen der Rhetorik" - ein verführerischer Schluss, weil er die so diffuse wie subversive Macht der Redekunst auch innerhalb der juristischen Welt begründet.
Auch hier legt Lendon besonderes Augenmerk auf das Zusammenspiel von Deklamation und juristischer Praxis; beispielhaft widmet er sich den Gesetzen zu Vergewaltigung und Ehebruch, Dankbarkeit und Rache: Die "raptarum lex" etwa besagt, dass das Opfer einer Vergewaltigung wählen darf, ob es den Täter heiraten oder mit der Todesstrafe belegt wissen will. Eine darauf referierende Deklamation des älteren Seneca verhandelt den Disput zwischen zwei Opfern, deren eines sich für die Heirat, deren anderes für den Tod des Täters ausspricht. Wie also entscheiden? Was den erstmalig in der "lex Iulia et Papia" (18 v. Chr.) als öffentliches Verbrechen belegten Ehebruch angeht, so durfte ein Ehemann sowohl seine fremdgehende Frau als auch ihren Liebhaber meucheln. Sowohl dafür als auch für das Talionsrecht, dem zufolge ein Gleichgewicht herrschen sollte zwischen dem Schaden, der dem Opfer zugefügt wurde, und jenem, der dem Täter auferlegt wurde, führt Lendon aussagekräftige Beispiele an. Wegen Undankbarkeit belangt werden konnten darüber hinaus etwa Freigelassene oder Erben, und auch hier bieten Deklamationen exemplarische Fälle.
Die Synergieeffekte zwischen Recht und Rhetorik liegen also nahe; doch muss Lendon die Beweise dafür weitgehend schuldig bleiben, wie er selbst bedauernd bekennt. Vor allem lassen sie sich kaum rückwirkend ausdeuten, was hauptsächlich daran liegt, dass der Großteil des überlieferten römischen Rechts erst aus dem zweiten und dritten Jahrhundert n. Chr. datiert. Lendon operiert also auf einer fragilen Basis, mit etwa zwanzig Deklamationen, die Recht und Gesetz mehr oder weniger direkt beeinflusst haben sollen.
Da mag es nicht überraschen, dass er diesen selbst diagnostizierten Mangel mit einem umfangreichen wissenschaftlichen Apparat zumindest dem Schein nach zu kompensieren sucht: Der Anmerkungs- und Literatur-Apparat macht knapp die Hälfte des Buches aus! Zusätzlich bemüht sich der Verfasser, seine Thesen mit reichlich Emphase zu untermauern: Da ist plötzlich von "echten Römern und echten Griechen" die Rede, deren dezidiertes "Rechtsbewusstsein" in einem "rätselhaften" Gegensatz stehe zu der ausgeprägten praktizierten Selbstjustiz. Am Ende "nagt" die Rhetorik doch nur "an den Grenzen des römischen Rechts, ohne das Grundlegende anzutasten", und fungiert in diesem Spannungsfeld vor allem als "Interpretationsschema", das vor allem dem menschlichen Bedürfnis nach Wettbewerb, einer grundlegenden rhetorischen Größe, entgegenkomme. Die großen Thesen zu den großen Taten als Ergebnis rhetorischer Protokolle verblassen damit schon wieder, kaum dass sie erkennbare Gestalt angenommen hatten.
Nun sollen wir, so die ein wenig zu sehr von den eigenen Einsichten berauschte Schlusswendung, "die bewusste Künstlichkeit der von der rhetorischen Erziehung geschaffenen Welt feiern". Das freilich machen die Fans der Rhetorik ja schon längst. MELANIE MÖLLER
Jon Edward Lendon: "Rhetorik Macht Rom". Die Kraft der Redekunst im Imperium Romanum.
Aus dem Englischen
von Kai Brodersen.
wbg Theiss Verlag,
Darmstadt 2023. 352 S., Abb., geb., 32,- Euro
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